"...damit sie das Leben und volle Genüge haben sollen"

Ein Beitrag zur Debatte über neue Leitbilder für eine zukunftsfähige Entwicklung. Eine Studie der Kammer der EKD für nachhaltige Entwicklung. August 2015

4. Zukunftsfähige Gesellschaft und gutes Leben aus theologischer und ethischer Sicht

4.1. Die ökumenische Entwicklungsdebatte auf dem Weg zu einer Ethik des Lebens

Biblisch-theologische Impulse: Umkehr zu einem Leben in gerechten Beziehungsverhältnissen

Entwicklung ist zunächst kein zentraler biblischer Begriff. Die Vorstellung eines kontinuierlichen Übergangs von einer niedrigeren zu höheren Entwicklungs- und Fortschrittsstufen, die das westlich-säkulare Entwicklungsdenken lange Jahre begleitet hat, ist der biblischen Tradition fremd. Was die biblische Tradition allerdings prägt, ist das leidenschaftliche Interesse Gottes an gerechten Lebensbeziehungen in seinem Volk. Die Erinnerung an die Befreiung aus Knechtschaft und Sklaverei (Exodus-Motiv) bildet ein bleibendes Identitätsmerkmal des Gottesvolkes. Es begründet die Pflicht, soziale, wirtschaftliche und politische Verhältnisse daraufhin zu befragen, wie weit sie gerechten Lebensbeziehungen dienen und das Recht der Bedrängten, der Witwen, Waisen und Armen achten.

Die Befreiungserfahrung des Exodus begründet die gesamte Rechtstradition des Gottesvolkes (Dtn 5,6 ff). Die Tradition der prophetischen Kritik ungerechter Besitz-, Produktions- und Landverteilungsverhältnisse in der Zeit des Alten Testaments ist die Wurzel des kritischen Sozialdenkens der christlichen Tradition. Der biblisch-prophetische Realismus rechnet mit der Korruptheit der Verhältnisse und der Menschen. Nicht eine idealisierte lineare Fortschritts- oder kontinuierliche Entwicklungsideologie steht deshalb im Mittelpunkt der biblischen Tradition, sondern die zentrale, ebenso entwicklungsbezogene wie spirituell-religiöse Frage, wie und wodurch grundlegender Wandel geschieht und Umkehr ermöglicht wird [59].

Der Anfang des Wandels liegt biblisch gesehen in der Bekräftigung der Menschenwürde jedes einzelnen Menschen, den Gott als Subjekt anspricht und dem Gott Befreiung und Würde zuspricht. »Die Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes ist herbeigekommen. Kehrt um und glaubt an das Evangelium!« (Mk 1,15) – die zentrale Botschaft Jesu baut auf diese Grunderfahrung von Menschenwürde und Befreiung im Akt eines antizipatorischen Glaubens. Die Reich-Gottes-Verkündigung der frühen Jesus-Bewegung ist eine ebenso religiöse und politische Botschaft, die sich auf neue Formen und Werte der »basileia tou theou«, der Königsherrschaft Gottes (hebräisch der »malchut jahwe«), bezieht. Wenn man überhaupt von einem biblischen Verständnis von »Entwicklung« sprechen möchte, dann besteht eine gemeinsame Grundüberzeugung darin, dass »Entwicklung« mit der Wiederherstellung gerechter Beziehungsverhältnisse und individueller Menschenwürde verbunden ist: der Beziehungen der Menschen untereinander, zu den Fremden, zu den Witwen und Waisen, zur Schöpfung insgesamt und zu Gott.

Biblisch gesehen kann das Durchsetzen von Recht und Gerechtigkeit nicht ohne religiöse Transformation gelingen. Wandel und Umkehr der Entwicklungsrichtung sind nicht ohne spirituelle Erneuerung zu haben. Gesellschaftliche Transformation geht von einer fundamentalen Veränderung der leitenden Werte aus, die das Leben des Einzelnen wie der Gesellschaft bestimmen.

Der historisch überraschende Prozess der rasanten missionarischen Ausbreitung des Christentums in den Handels- und Verkehrsmetropolen des antiken Mittelmeerraumes erklärt sich u. a. dadurch, dass in der frühchristlichen Aufbruchsbewegung tatsächlich wirkliche »Entwicklungsprozesse« ermöglicht wurden, die mit der Sehnsucht nach sozialer Veränderung, Befreiung und Befriedung vieler Gruppen in der antiken hellenistischen Gesellschaft korrespondierten. So entstanden exemplarische soziale Netzwerke eines anderen Lebensstils. Hier wurde eine neue Werteordnung der sozialen und wirtschaftlichen Bezüge miteinander praktiziert und kultur- und klassenübergreifend kommuniziert: Tote wurden bestattet (Achtung vor dem Leben), Kranke und Gefangene wurden besucht (Achtung vor den Opfern), Spenden wurden gegeben (Achtung vor der Not), Frauen und Kinder aufgewertet (Achtung vor den Entrechteten) – all dies elementare Schritte zu einer neuen und potenziell revolutionären sozialen Entwicklung von Gerechtigkeit und Menschenwürde im antiken Kontext [60].

Diese »Entwicklungsstrategie« des frühen Christentums war nicht als Blaupause für die ganze Gesellschaft formuliert, sondern bildete sich in überschaubaren Lebensräumen innerhalb einer überwiegend durch Nichtachtung der Würde des Menschen bestimmten Umgebung aus. Die frühchristliche Entwicklung zu einer neuen, auf Teilen und Achtung beruhenden Lebenskultur vollzog sich jedenfalls zum Teil als Bruch mit der herrschenden Ordnung, die in frühchristlich apokalyptischer Erwartung als ohnehin vergehend wahrgenommen wurde. Sozialer Wandel und neue Lebenskultur wurden möglich, weil sie als Wirkung des Geistes Gottes verstanden und mit einer radikalen Umkehr einzelner Menschen, ihres Wertehaushaltes und ihrer inneren Prioritäten und Loyalitäten verbunden waren.

Modern gesprochen könnte man sagen: Nachhaltige Entwicklung im frühchristlichen Modell basiert auf einer religiös-kulturellen Transformation der leitenden Werte und dem Aufbau von überschaubaren Räumen für eine alternative Lebenskultur. Ihr spirituelles Herzstück ist die Entdeckung der Würde eines jeden Menschen, dem mit der Taufe gilt: Du bist ein geliebtes Kind Gottes. Zum anderen bedeutete dies für die frühe Christenheit eine Befreiung vom Schicksalsglauben der Zeitgenossen: Die Bedingungen des Lebens waren kein unveränderliches Schicksal mehr. Biblisch gesehen gibt es deshalb keine »Entwicklung von oben«, d. h. als Projekt, das von außen oder von oben geplant und/oder inszeniert oder finanziert werden kann, sondern es gibt nur eine »Entwicklung von unten«, die mit einer Subjektwerdung von betroffenen, benachteiligten Bevölkerungsgruppen und der Entdeckung und Wahrnehmung ihrer eigenen Menschenwürde einhergeht.

Ökumenisch-theologische Impulse: Zuspitzung der Entwicklungsdebatte auf die Frage nach der Qualität des Lebens

Die Debatte über das rechte Verständnis von Entwicklung nimmt einen breiten Raum im internationalen kirchlichen Diskurs der Ökumene ein. Sie kann auf ca. 100 Jahre Geschichte und Pionierarbeit sowohl in der vorinstitutionellen Phase der ökumenischen Bewegung als auch des direkten programmatischen Engagements in der zwischenkirchlichen Hilfe und in der Entwicklungszusammenarbeit in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zurückblicken. Oft wird dabei vergessen, dass die Kirchen bereits in Gestalt des Internationalen Missionsrates (IMC) über ein einzigartiges weltweites Forum verfügten, in dem die Anliegen und Veränderungen in den Ländern des Südens eigens thematisiert und zunehmend auch von den Vertretern des Südens selbst eingebracht wurden. Die Weltmissionskonferenzen vor dem Zweiten Weltkrieg sind wesentliche Grundsteine für ein ökumenisches Verständnis von Entwicklung [61].

Die internationalen IMC-Studien der 1950er-Jahre über »rapiden sozialen Wandel«, die das Augenmerk auf die raschen sozialen Umbrüche in den Ländern des Südens richteten, waren direkte Wegbereiter für die erste gesamtökumenische Entwicklungsdebatte der 1960er-Jahre. Sie erreichte mit der Weltkonferenz für Kirche und Gesellschaft in Genf 1966, dann mit der 4. Vollversammlung des ÖRK in Uppsala 1968 und später mit der 5. Vollversammlung in Nairobi 1975 ihren Höhepunkt.

Das erste Leitkonzept der ökumenischen Sozialethik, das 1948 mit dem Grundaxiom der »verantwortlichen Gesellschaft« versuchte, im Zeichen des sich anbahnenden Ost-West-Konfliktes einen Mittelweg zwischen Staatssozialismus und liberaler kapitalistischer Marktwirtschaft zu formulieren, wurde weiterentwickelt zum Leitmodell der »weltweiten verantwortlichen Gesellschaft« (2. Vollversammlung des ÖRK in Evanston 1954). Dieses wandelte sich unter dem Einfluss des Wachstumsschocks Anfang der 1970er-Jahre (mit dem Bericht des Club of Rome über Grenzen des Wachstums 1972 und der Ölkrise 1973), der Befreiungstheologie und dem Kampf gegen Militärdiktaturen 1979 zum Leitbild der »gerechten, partizipatorischen und nachhaltigen Gesellschaft« (Just, participatory and sustainable society, JPSS). Die konzeptionellen Leitvorgaben dieses Modells flossen in den auf der 6. Vollversammlung des ÖRK in Vancouver 1983 beschlossenen Aufruf »zu einem konziliaren Prozess gegenseitiger Verpflichtung (Bund) für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung« ein [62]. So fasste die Ökumenische Versammlung für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung der Kirchen in der DDR (1988-1989) den sozialethischen Auftrag der Kirchen wie der Christinnen und Christen in den drei vorrangigen Optionen für die Armen, für die Gewaltfreiheit und für das Leben zusammen.

Inhaltlich wird in den ökumenischen Studienprozessen schon sehr früh die Kritik an einem einseitig linearen, fortschritts- und wachstumsorientierten Entwicklungsverständnis formuliert. So heißt es schon in Uppsala 1968: »Die entwickelten wie die Entwicklungsländer begannen die wirtschaftliche Zusammenarbeit unter falschen Voraussetzungen. Sie waren der Ansicht, der bloße Transfer von Kapital und technischem Können leite automatisch einen Prozess des wirtschaftlich unabhängigen Wachstums ein. Aber jede wirksame Ausrichtung auf die Weltentwicklung erfordert radikale Veränderungen der Institutionen und Strukturen auf drei Ebenen: innerhalb der Entwicklungsländer, innerhalb der entwickelten Länder und in der internationalen Wirtschaft.« [63]

Ein Entwicklungsdenken im Sinne einer »nach- bzw. aufholenden Entwicklung« des Südens wird ebenso massiv abgelehnt wie eine Fixierung des Entwicklungsdenkens auf ökonomische Faktoren: »Für die Entwicklungsländer ist es weder möglich noch notwendig, bei ihrer Industrialisierung den gleichen Weg wie die wirtschaftlich entwickelteren Länder einzuschlagen. Die Bedingungen, denen sich die Entwicklungsländer heute gegenübersehen, unterscheiden sich erheblich von der Situation, vor der die Industrieländer in den frühen Stadien ihrer Entwicklung standen« (Genf 1966) [64]. Es wird die Notwendigkeit eines nicht westlich dominierten, kontextuellen Entwicklungsmodells unterstrichen und selbstkritisch die stärkere Einbeziehung von religiösen und kulturellen Faktoren in die Entwicklungsdebatte angemahnt: »Es gab in der ökumenischen Bewegung schon früh ein Bewusstsein dafür, dass Entwicklung nicht als linearer Aufholvorgang zu verstehen sei, durch den Länder im Süden Modelle des Nordens nachzuahmen versuchen sollten. Wie die Theologie, so muss auch die Entwicklung kontextualisiert werden; es gibt nicht nur ein Entwicklungsmodell, das für alle Teile der Welt anwendbar und gültig ist. Wenn man diese frühe Anerkennung der Notwendigkeit kontextueller Zugänge bedenkt, überrascht es, dass dem Thema Kultur und Entwicklung in ökumenischen Überlegungen so wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde.« [65] Schon Ende der 1960er-Jahre kristallisiert sich die Suche nach einem neuen Entwicklungsverständnis heraus, »dem ein anderes Verständnis des einzelnen und der Gesellschaft zugrunde liegt und von dem her sich die entwickeltem Länder der unterentwickelten Bereiche innerhalb ihres eigenen Sozialgefüges bewusst werden [sollten]« [66].

Im Zusammenhang der seit 1973 aufkommenden intensiven Debatte über die Grenzen des Wachstums und die uneingelöste Versöhnung von Ökonomie und Ökologie verschiebt sich die ökumenische Debatte auf die Definition von Kriterien, die sinnvolle und nachhaltige Entwicklung messbar werden lassen. Die wichtigsten Impulse hierzu stammen aus dem internationalen Studienprogramm über »Glaube, Wissenschaft und die Zukunft« in den 1970er-Jahren. In einem der Berichte heißt es: »Daher sollte das Entwicklungsziel in industrialisierten Ländern nicht primär ökonomisches Wachstum und ein steigendes Bruttosozialprodukt sein, sondern eine höhere Lebensqualität, die mit sozialer Gerechtigkeit einhergeht. [...] Diese Alternative zur konsumorientierten Gesellschaft [...] stellt die Mittelpunktstellung des Bruttosozialprodukts als einzigem Leitziel der Entwicklung und als Voraussetzung für die Lösung von Arbeitslosigkeit, der Verschmutzungsprobleme, für die Hebung des Lebensstandards und das Erreichen sozialer Gerechtigkeit in Frage.« [67]

Es gab einzelne Versuche in der ökumenischen Debatte, im Horizont der Suche nach einem neuen Entwicklungsverständnis die einzelnen Parameter für ein ganzheitliches Verständnis von Lebensqualität im Horizont einer Ethik des Lebens schärfer zu definieren (vgl. die sehr detaillierten Parameterdefinitionen der MIT-Konferenz [Konferenz im Massachusetts Institute of Technology] von 1979) [68]. Doch die an sich viel versprechende Debatte ist in den 1980er-Jahren nicht mehr recht fortgesetzt worden und hat sich politisch auch nicht mit internationalen Initiativen auf VN-Ebene verbünden können [69]. Stattdessen schwankte die ökumenische Diskussion immer wieder hin und her zwischen Versuchen jener, die sich um eine kritische Qualifizierung von Kriterien für Entwicklungskonzepte bemühten (»development qualifiers«), und anderer, die den Begriff der Entwicklung als solchen aufgrund der Belastung des Entwicklungsbegriffs mit Elementen der westlich-kapitalistischen Marktideologie prinzipiell ablehnten und sich auf die Rolle der grundsätzlichen Kritik des Systems kapitalistischer Globalisierung verlegten (»development dissenters«) [70].

Eine der dichtesten Aussagen der ökumenischen Debatte über das Entwicklungsverständnis stammt aus der Vorbereitung eines ökumenischen Votums für die VN-Konferenz über die Finanzierung von Entwicklung im Jahr 2002: »Aus Sicht der ökumenischen Gemeinschaft kann echte menschliche Entwicklung nie erreicht werden, wenn das oberste Ziel darin besteht, Reichtum und materielle Güter anzuhäufen, und damit ein unstillbarer Durst nach mehr Macht, Profit und Status hervorgerufen wird. Ein alternativer Ansatz ist erforderlich, der es uns erlaubt, >Entwicklung< und Wirtschaft ins Verhältnis zu unserer gemeinsamen Berufung zu setzen, in der richtigen Beziehung zu unseren Nachbarn, mit der Erde und mit unserem Schöpfer zu leben. Ein solcher Ansatz umfasst die folgenden Kernaussagen:

  • die Anerkennung, dass echter Wert nicht in Geld ausgedrückt werden kann, und dass das Leben – und das, was wesentlich ist, um es zu erhalten – nicht zur Ware wird;
  • den Glauben an die Würde eines jeden Menschen und die Priorität der Schaffung von menschenwürdigen Lebensbedingungen;
  • die Verpflichtung zu einer Ökonomie, deren Aufgabe es ist, dem Wohlbefinden der Menschen und dem Schutz der Umwelt zu dienen;
  • die Konzentration auf das eigentliche Ziel wirtschaftlichen Handelns, nachhaltige, gerechte und partizipatorische Gemeinschaften zu fördern;
  • die Vision einer globalen Gemeinschaft, deren gegenseitige Abhängigkeit sich nicht auf den Handel und die Märkte reduziert;
  • die Bestätigung unseres gemeinsamen Schicksals als Mitbewohner der Erde, für die wir alle die Verantwortung teilen und von der wir alle gleichermaßen profitieren;
  • die Verantwortung, das Recht aller Menschen aufrechtzuerhalten – vor allem der unterschiedlichen Gemeinschaften der Armen und Ausgegrenzten, das Recht insbesondere zur Teilhabe an jenen wirtschaftlichen, sozialen und politischen Entscheidungen, die sie selbst betreffen.« [71]]

Kontextuelle theologische Impulse: Ansätze zu einer Theologie des Guten Lebens

Das ökumenische Sozialdenken des vergangenen Jahrhunderts entfaltete sich in einer Ethik des Lebens, in der wirtschaftliche Perspektiven von Gerechtigkeit und Partizipation zusammengedacht werden mit ökologischen Perspektiven der Begrenzung des Wachstums und der Neuausrichtung der Wirtschaft auf verantwortungsvolle Haushalterschaft. In die Debatte um gutes Leben für alle, die seit einigen Jahren in vielen christlichen Kirchen, Gruppen und Bewegungen weltweit geführt wird, sind Elemente kontextueller theologischer Reflexion der südlichen Hemisphäre eingeflossen. Dabei sind folgende Traditionen besonders zu nennen:

  • Die koreanischen Ansätze einer Theologie des Sangsaeng (sharing of life), die sowohl in der Bewegung zur Wiedervereinigung als auch in der koreanischen Ökologie- und Minjung-Bewegung eine wichtige Rolle spielen; [72]
  • die afrikanisch-theologischen Ansätze einer Theologie des gemeinsamen Lebens nach dem Prinzip des Ubuntu (»Ich bin, weil wir sind«), die von Desmond Tutu u. a. vorgetragen wurden; [73]
  • die in den Völkern des andinen Kulturkreises in Lateinamerika verwurzelten Ansätze einer Theologie des guten Lebens, des »buen vivir«. [74]

Gemeinsam ist diesen Ansätzen eine Verknüpfung von gemeinschaftsbezogenen, ökologisch orientierten und post-materialistischen Zugängen. Es gehört zu den Anfängen der weltweiten Bewegung der Oikos-Theologie, dass diese Ansätze verschiedener Kontexte in einem internationalen Dialog miteinander verbunden und nach ihrer Bedeutung sowohl für das theologische Lernen als auch für das Verständnis von Entwicklung befragt wurden [75].

In der ökumenischen Missionserklärung des ÖRK »Gemeinsam für das Leben. Mission und Evangelisation in sich wandelnden Kontexten« von 2012 wird ein gemeinsamer Ausgangspunkt dieser kontextuellen Theologien des Lebens festgehalten: »Wir glauben an den dreieinigen Gott, den Schöpfer, Erlöser und Bewahrer allen Lebens. Gott hat die ganze oikoumene nach seinem Bild geschaffen und ist in der Welt unablässig am Werk, um sich für das Leben einzusetzen und es zu schützen. Wir glauben an Jesus Christus, das Leben der Welt und die Inkarnation von Gottes Liebe für die Welt (Joh 3,16). Für das Leben in seiner ganzen Fülle einzutreten, ist Jesu Christi höchste Aufgabe und Sendung (Joh 10,10). Wir glauben an Gott, den Heiligen Geist, den Lebensspender, der das Leben erhält und stärkt und die ganze Schöpfung erneuert (1. Mose 2,7; Johannes 3,8).« [76]

In diesem Zitat aus der Missionserklärung des ÖRK klingen zwei wesentliche Motive an: Gott wird verstanden als Gott des Lebens der ganzen Schöpfung und seine Verheißung gilt dem Leben in seiner ganzen Fülle. Nach dieser auf das Leben gerichteten Vision sehnen sich die Menschen.

Am intensivsten ist die hiesige Debatte um »gutes Leben« in den letzten Jahrzehnten durch Impulse aus dem lateinamerikanischen Kontext angeregt worden. Das »buen vivir« stellt das menschliche Zusammenleben nach ökologischen und sozialen Normen ins Zentrum seiner Grundüberzeugungen. Zentral ist ein gemeinschaftliches Leben im Einklang mit und nicht auf Kosten der Natur und anderer Menschen sowie die Wahrung kultureller Identitäten. Ausgangspunkt bei lateinamerikanischen Theologen – wie z. B. Leonardo Boff – ist u. a. die anerkennende Bezugnahme auf die Mutter Erde (»Pachamama«/»Gaia«), die nicht nur in indigener Religiosität, sondern auch in christlichen Vorstellungen und Erfahrungen einer Schöpfungsspiritualität wiederzufinden ist (beispielsweise bei Franziskus von Assisi).

Gutes Leben kann vor diesem Hintergrund nicht auf individuelles Wohlbefinden einerseits oder auf normative Vorsätze andererseits reduziert werden, sondern basiert auf einer spirituell geprägten Grundhaltung des Menschen zum ermöglichenden Ursprung des Lebens. Daher ist es unakzeptabel, dass eine kleine Gruppe von Menschen einen luxuriösen Lebensstil pflegt, während die Mehrheit dafür arbeiten muss, die Privilegien dieses dominanten Segments zu erhalten.

Die Frage einer lebensdienlichen Ökonomie und eines gerechten internationalen Finanzsystems

Die ökumenische Debatte der letzten Jahre lässt sich verstehen als eine Zuspitzung der sozialethischen Reflexion auf die Frage nach einer lebensdienlichen Ökonomie (life-centered economy). Der Ruf zur Transformation von Gesellschaft, Ökonomie und leitenden ethischen Werten hatte einen zentralen Stellenwert in der 10. Vollversammlung des ÖRK in Busan, insbesondere durch das im AGAPE-Prozess [77] verwurzelte Studiendokument »Ökonomie des Lebens, der Gerechtigkeit und des Friedens für alle: Ein Aufruf zum Handeln” (2012). In der Präambel dieses Dokumentes heißt es: »Dieser Aufruf zum Handeln fällt in eine äußerst schwere Zeit. Die Menschen und die Erde sind in Gefahr durch den übermäßigen Konsum einiger, durch zunehmende Ungerechtigkeit, wie wir sie in der anhaltenden Armut vieler im Kontrast zum extravaganten Reichtum einiger weniger erleben, und durch miteinander verflochtene globale Finanz-, sozioökonomische, Umwelt- und Klimakrisen. Im Verlauf des Dialogs vertraten wir Teilnehmer an den Konsultationen und regionalen Studienprozessen unterschiedliche, zum Teil gar gegensätzliche Perspektiven. Wir gelangten auch zu der gemeinsamen Erkenntnis, dass das Leben in der globalen Gemeinschaft, wie wir es heute kennen, enden wird, wenn es uns nicht gelingt, uns den Sünden des Egoismus, der herzlosen Geringschätzung und der Habgier zu widersetzen, die diesen Krisen zugrunde liegen. So ist es mit einem Gefühl großer Dringlichkeit, dass wir diesen Dialog den Kirchen als einen Aufruf zum Handeln unterbreiten. Diese Dringlichkeit erwächst aus unserer tiefen Hoffnung und unserem tiefen Glauben: eine Ökonomie des Lebens ist nicht nur möglich, sie ist im Entstehen – und Gottes Gerechtigkeit ist ihre eigentliche Grundlage!« [78]

Die geforderte Transformation bezieht sich in der Perspektive des ÖRK – und in Fortführung der Traditionen des Accra-Bekenntnisses des Reformierten Weltbundes von 2004 [79] - dabei nicht nur auf die Sozial- und Wirtschaftsethik, sondern umfassend auf eine spirituelle Transformation aller uns leitenden Werte: »Wir müssen eine verwandelnde Spiritualität« verkörpern (Kommission für Weltmission und Evangelisation), die uns wieder mit den anderen verbindet (Ubuntu und Sansaeng), die uns motiviert, dem Gemeinwohl zu dienen, die uns ermutigt, uns gegen jegliche Form der Ausgrenzung zu wenden, die die Erlösung der ganzen Erde anstrebt, die den lebenzerstörenden Werten widersteht und uns inspiriert, neue Alternativen zu entdecken. Diese Spiritualität macht es möglich, die Gnade zu entdecken, die darin besteht, sich mit genug zufrieden zu geben und mit all jenen zu teilen, die in Not sind (Apostelgeschichte 4,35).« [80]

Eine Kernaussage der neueren ökumenischen Entwicklungsdiskussion besteht darin, dass die Entwicklungsproblematik auf eine fundamentale Krise der Menschheit in ihren gegenwärtig leitenden Wertorientierungen aufmerksam macht. Die Entwicklungsproblematik wird erneut als spirituelle Krise beschrieben. Was dem dominanten Entwicklungsmodell zugrunde liegt, sei ein System der Gier und der Ideologie des unbegrenzten Wachstums. Aufgabe der Kirchen sei es, die direkte und indirekte Komplizenschaft mit Geist und Logik dieser Grundorientierung aufzukündigen. So heißt es im AGAPE-Studiendokument des ÖRK von 2012: »Wir bekennen, dass Kirchen und Kirchenglieder Mitschuld an dem ungerechten System tragen, insofern sie an unhaltbaren Lebensweisen und Konsumgewohnheiten teilhaben und in der Ökonomie der Gier verstrickt bleiben. Es gibt Kirchen, die weiterhin eine Theologie des Wohlstands, der Selbstgerechtigkeit, der Vorherrschaft, des Individualismus und der Annehmlichkeit predigen. Manche unterstützen eine Theologie der Wohltätigkeit statt der Gerechtigkeit für die Verarmten«. [81]

Die ökumenische Debatte hat sich gleichzeitig bemüht, Vorschläge für eine »neue internationale finanzielle und ökonomische Architektur« zu entwickeln, die vor allem in dem gemeinsam zwischen ÖRK, Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen (WCRC) und Weltmissionsrat (CWM) angestoßenen Prozess von São Paulo von 2013 über eine »internationale finanzielle Transformation für die Ökonomie des Lebens« seinen Ausdruck findet [82]. Die Grundüberzeugungen zielen in Richtung eines stärker kontrollierten und in die Sozialpflichtigkeit des Eigentums eingebundenen internationalen Finanzmarktes: »Wir beklagen die Art und Weise, in der wirtschaftliche und finanzielle Gesetze und Kontrollen die Wohlhabenden begünstigen [...] und fordern ein System gerechter Gesetze und Kontrollen, welche die Umverteilung von Reichtum und Macht für die ganze Schöpfung Gottes erleichtern [...] Wir lehnen die Explosion der Monetarisierung und die Ökonomisierung allen Lebens ab und bekräftigen eine Theologie der Gnade, die dem neoliberalen Drang widersteht, das ganze Leben auf den Tauschwert (Röm. 3,24) zu reduzieren. [...] Wir lehnen die Ideologie des Konsumismus ab und bekräftigen eine Wirtschaft des Manna, die für alle ausreichend ist und die Idee der Gier verneint (Ex. 16). [...] Wir lehnen den zunehmenden individualistischen Konsumismus ab, indem wir die Vielfalt und Vernetzung des Lebens bekräftigen und feiern. Wir bejahen ferner, dass Ganzheit des Lebens nur durch gegenseitige Beziehungen mit der gesamten geschaffenen Ordnung erreicht werden kann.« [83]

Der für die Arbeitsphase nach São Paulo im Jahr 2014 erarbeitete Aktionsplan »Economy of Life for All Now: An Ecumenical Action Plan for a New International Financial and Economic Architecture« (NIFEA) enthält zahlreiche Anregungen, wie Kirchen und Entwicklungswerke die Anliegen einer lebensdienlichen Ökonomie weiter konkretisieren können [84]. Die Wiedergewinnung eines Primates der Politik gegenüber der Eigengesetzlichkeit des ökonomischen Systems und des Finanzsektors ist ökumenisch gesehen eine der Schlüsselherausforderungen der Entwicklungsproblematik im 21. Jahrhundert. Doch muss die ökumenisch-sozialethische Arbeit über das Stadium der prophetischen Fundamental-Kritik hinausgehen und pro-aktive konkrete und politisch kommunizierbare Gestaltungsvorschläge entwickeln, die auf konkrete Projekte von neuen Steuerungs- und Kontrollinstrumenten des Finanzsektors und der ihn bestimmenden übermächtigen Wirtschaftsinteressen bezogen sind.

Die Korrespondenz zwischen der Ethik einer lebensdienlichen Ökonomie und einer Ethik des gerechten Friedens

Die Übersicht über Grundlinien der sozialethischen Diskussion in der Ökumene wäre nicht vollständig, wenn neben der Linie der Reflexion über eine neue Ethik einer lebenszentrierten Ökonomie nicht auch die andere Linie der friedensethischen ökumenischen Debatte mit erwähnt würde. Sie brachte zeitgleich, wenn nicht sogar schon vor [85] der Debatte über den AGAPE-Studienprozess im ÖRK eine fundamentale Neuorientierung der politischen Ethik in der internationalen Ökumene mit sich. Es ist die Rede von der intensiven Debatte über eine »Theologie des gerechten Friedens«, mit der die bereits im Jahr 2006 beschlossene »Dekade zur Überwindung von Gewalt« befasst war. Die Dekade mündete 2011 in eine Internationale Ökumenische Friedenskonvokation, die in Kingston, Jamaika eine neue Grundsatzerklärung über den gerechten Frieden vorlegte. Die Gemeinschaft der christlichen Kirchen wollte damit ein wichtiges Umkehrsignal setzen, nachdem die Kirchen über Jahrhunderte hinweg immer wieder eine religiösen Legitimierung von Gewaltanwendung geduldet oder betrieben haben (Lehre vom gerechten Krieg). Damit sollte auch an die Tradition der historischen Friedenskirchen (z. B. Mennoniten, Brethren) angeknüpft werden, deren Insistieren auf gewaltfreien Formen der Konfliktlösung inzwischen als das deutlichere Zeugnis des christlichen Glaubens verstanden wird.

Neu an dem Ansatz einer Theologie des gerechten Friedens ist auch das Hinauswachsen über eine einseitig anthropozentrische Engführung des Friedensverständnisses: Wenn die Menschheit keinen Frieden mit der Erde schließen kann, dann werden alle anderen Gestalten des Friedens notwendigerweise scheitern. Dies ist die größte Herausforderung, der nicht nur die Kirchen gerecht werden müssen. Deshalb sind in der »Ökumenischen Erklärung zum gerechten Frieden« von 2011 Frieden in sozialer Dimension, Frieden in ökologischer Dimension und Frieden in kultureller Dimension miteinander verknüpft [86]. An die Stelle einer Lehrtradition, die Frieden eher als Abwesenheit von Krieg versteht, tritt eine neue Lehrtradition, die das Verständnis von Frieden von Anfang an und unauflöslich mit den Konzepten von Recht (nämlich dem internationalen und innerstaatlichen Rechtssystem) und Gerechtigkeit (im Sinne grundlegender sozialer Gerechtigkeit) verbindet. Wie in der im Jahr 2007 veröffentlichten Friedensdenkschrift des Rates der EKD »Aus Gottes Frieden leben – für gerechten Frieden sorgen« wird die Theologie des gerechten Friedens entfaltet als (a) Vermeidung von Gewaltanwendung (Vorrang für zivile, nicht-militärische Konfliktprävention und -bearbeitung), (b) Förderung der Freiheit (Leben in Würde und in gesellschaftlicher Partizipation), (c) Förderung von kultureller Vielfalt (gewaltfreies und möglichst kooperatives Miteinander von unterschiedlichen Kulturen) und (d) Abbau von Ungerechtigkeit und Not [87].

Die Lehre vom gerechten Frieden hat mit dem Pazifismus gemeinsam, dass sie im (mit Gerechtigkeit verbundenen) Frieden sowohl das Ziel aller Politik als auch den Maßstab ihres Gelingens sieht und dass für sie der kybernetische Grundsatz gilt: »Wer den Frieden will, muss den Frieden vorbereiten«. Vom radikalen Pazifismus unterscheidet sie, dass sie nicht den Frieden an sich für das höchste irdische Gut hält, sondern den mit Recht und Gerechtigkeit dauerhaft verbundenen Frieden, und dass sie deshalb den Einsatz von »rechtserhaltender Gewalt« in bestimmten, eng eingegrenzten Fällen für möglich hält.

Die Entfaltung der ökumenischen Ethik des gerechten Friedens in vier verschiedenen Kerndimensionen kann mit Recht als eine Entfaltung und Präzisierung des neuen Paradigmas auch einer lebensdienlichen Ökonomie verstanden werden:

  • für Frieden in der Gemeinschaft – damit alle frei von Angst leben können;
  • für Frieden mit der Erde – damit das Leben erhalten wird;
  • für Frieden in der Wirtschaft – damit alle in Würde leben können;
  • für Frieden zwischen den Völkern – damit Menschenleben geschützt werden [88].

Im Horizont einer Ethik des Lebens verschmelzen auf diese Weise politische und wirtschaftliche Ethik zu einem in sich notwendig zusammengehörigen Gesamtgefüge, das die Grundlinien des konziliaren Prozesses und seiner Trias für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung aufnimmt und fortsetzt. Die explizit wirtschaftsethischen Impulse der ÖRK-Studie zum gerechten Frieden von 2011 bleiben auch für eine Neubestimmung der Ziele von Entwicklung auf globaler wie auf nationaler Ebene aktuell: »Während eine verschwindend kleine >Weltelite< unvorstellbaren Reichtum anhäuft, leben mehr als 1,4 Milliarden Menschen in extremer Armut. Etwas läuft grundlegend falsch, wenn das Vermögen der drei reichsten Menschen der Welt größer ist als das Bruttoinlandsprodukt der 48 ärmsten Länder der Welt. [...] Die Ausweitung der sozioökonomischen Kluft innerhalb und zwischen Nationen wirft schwerwiegende Fragen hinsichtlich der Wirksamkeit der marktorientierten, wirtschaftlichen Liberalisierungspolitik bei der Beseitigung von Armut auf und stellt das Streben nach Wachstum als vorrangigem Ziel jeder Gesellschaft in Frage. Übermäßiger Konsum und Entbehrung sind Formen der Gewalt. Weltweite Rüstungsausgaben – jetzt höher als zu Zeiten des Kalten Krieges – leisten wenig, um Frieden und Sicherheit in der Welt zu fördern, aber viel, um sie zu gefährden; Waffen bieten keine Lösung für die Hauptbedrohungen der Menschheit, verbrauchen aber enorme Ressourcen, die für diese Aufgabe umgewidmet werden könnten. Solche Ungleichgewichte stellen die globalisierte menschliche Gemeinschaft vor grundsätzliche Herausforderungen im Blick auf Gerechtigkeit, sozialen Zusammenhalt und Gemeinwohl. [...] Friede in der Wirtschaft [hingegen] wird durch die Schaffung von Wirtschaften im Dienst des Lebens< gefördert. Deren wesentliche Grundlagen sind gerechte sozioökonomische Beziehungen, Achtung der Rechte von Arbeitnehmern/innen, gerechte Teilhabe und nachhaltige Nutzung der Ressourcen, gesunde und bezahlbare Lebensmittel für alle und eine breite Beteiligung an wirtschaftlichen Entscheidungsprozessen.« [89]

Leitgedanken für eine zukunftsfähige Gesellschaft im Horizont einer Ethik für das Leben

Zusammenfassend lassen sich aus diesem Kapitel folgende ökumenisch-theologische Leitkriterien für eine entwicklungsbezogene Arbeit der Kirchen und ihrer Werke ableiten, die darauf abzielt, eine zukunftsfähige Gesellschaft zu fördern:

  • Aus biblischer Sicht sind vier Traditionen maßgeblich:
    • die Befreiung aus Knechtschaft und Sklaverei (Exodus- oder Befreiungsmotiv),
    • die prophetische Kritik an ungerechten Besitz-, Produktions- und Landverteilungsverhältnissen (Gerechtigkeitsmotiv),
    • der Aufruf Jesu an jeden einzelnen Menschen, umzukehren und sich dem Kommen des Reiches Gottes zu öffnen (Transformationsmotiv) und
    • die klassisch friedenskirchliche, ökumenisch aktualisierte und um ökologische Aspekte erweiterte Lehre des gerechten Friedens (friedenethisch-ökologisches Motiv).
  • In allen vier Traditionen geht es um die Wiederherstellung gerechter Beziehungsverhältnisse und der individuellen Würde des Menschen als Gegenüber Gottes. Dies umfasst auch die gerechte Gestaltung der Beziehungen der Menschen untereinander, insbesondere zu den »Fremden, Witwen und Waisen«, und der Beziehung zu Gott und der Schöpfung insgesamt.
  • Diese Wiederherstellung oder Neufassung ist ohne spirituelle Erneuerung der Einzelnen nicht zu haben; die Menschen werden in den christlichen Kirchen unterschiedlicher konfessioneller Prägung und auch in anderen Religionen zu dieser spirituellen Erneuerung und einer veränderten Lebenspraxis ermutigt. Eine so verstandene spirituelle Erneuerung bzw. Transformation setzt Freiheit voraus – elementare Religionsfreiheit für Menschen aller religiösen Traditionen ebenso wie die Freiheit, sich mit anderen gleichgesinnten Menschen zusammenzuschließen, veränderndes Handeln auszuprobieren und daraus für gesellschaftliche Transformationsprozesse zu lernen. Dies ist ein weiterer Anknüpfungspunkt zu einem Verständnis von Entwicklung als Freiheit des Menschen, seine Fähigkeiten umfassend zu entwickeln und zu nutzen, im Sinne von Amartya Sen und Martha Nussbaum (vgl. Kap. 4.2).
  • Der ökumenische Diskussions- und Lernprozess der vergangenen Jahrzehnte hat einen reichen und fruchtbaren Dialog zwischen Kirchen des Nordens und des Südens ermöglicht, in dem eine Verständigung darüber beginnen konnte, was gerechte Beziehungsverhältnisse und individuelle Menschenwürde in unterschiedlichen Kontexten bedeuten und wie diese beiden Dimensionen zusammenhängen. Dabei wurde nicht außer Acht gelassen, was sich verändern muss, damit diese Vision Wirklichkeit wird und welche Verantwortung Kirchen und Gesellschaften in Nord wie Süd zukommt, um diese zu erreichen. Der Prozess des Nord-Süd-Dialoges in Sachen ökumenischer Sozialethik ist dabei keineswegs abgeschlossen, er setzt sich in vielfältiger Weise fort zwischen kirchlichen Entwicklungswerken und ihren ökumenischen Partnern, in Netzwerken zwischen Partnerkirchen unterschiedlicher Kontexte und den Beziehungen zwischen Missionswerken und ihren überseeischen kirchlichen Partnern. Immer stärker sind die Kirchen des Nordens dabei selbst die Befragten und herausgefordert, das eigene Verständnis von Entwicklung selbstkritisch im Licht der Neuansätze und des Dialoges zwischen Kirchen und sozialen Bewegungen in den Ländern des Südens zu überdenken [90].

Der gemeinsame Lernprozess in der Ökumene, der hier nachgezeichnet wurde, spiegelt die wachsende Bedeutung der Kirchen des Südens wider. Dieser Lernprozess ist besonders wertvoll, weil er zeigt, welche Chancen für Einsicht und veränderndes gemeinsames Handeln in der verbindenden Kraft einer Nord und Süd umspannenden Religionsgemeinschaft liegen. Ein interreligiöser Dialog, der es sich zur Aufgabe machen würde, die theologischen Erfahrungen und Einsichten aus dem ökumenischen Nord-Süd-Lernprozess zu teilen und zu diskutieren, könnte einen wichtigen Beitrag leisten, um das Verhältnis von Religion, gerechten Beziehungsverhältnissen, individueller Menschenwürde, Freiheit und Politik zu reflektieren.

Die angeführten Beschlüsse und Texte u. a. von Genf 1966, Uppsala 1968, Bukarest 1974, Harare 1998, Kingston 2011 und Busan 2014 dokumentieren einen Suchprozess, der theologische Traditionen, die in der Lebenswelt des Nordens verortet sind, mit den theologischen Traditionen Afrikas (Ubuntu), Asiens (Sangsaeng) und Lateinamerikas (buen vivir) verbindet. Damit werden Ausblicke auf eine neue Normenbildung möglich, mit der es gelingen kann, Orientierung für eine lebensdienliche Ökonomie zu geben und Auswege aus der gegenwärtigen fundamentalen Krise der Wertorientierungen und Lebensbeziehungen der westlichen Industriegesellschaften zu skizzieren. Ausgehend von dieser theologischen Reflexion und der prophetischen Kritik können von den Kirchen in Nord und Süd wichtige Handlungsimpulse in gesellschaftspolitischen Prozessen ausgehen, in denen konkrete Vorschläge für Reformen und Neugestaltungen erarbeitet werden, mit denen der gesellschaftliche Wandel auch praktisch vorangebracht und ein alternativer Index zur Bestimmung integraler Entwicklung politisch auf globaler Ebene beschlussfähig gemacht werden kann.

4.2. Ethische Leitgedanken für eine zukunftsfähige Gesellschaft im Kontext globaler Gerechtigkeit und ökologischer Begrenzungen

In der globalisierten Welt stehen Debatten über eine zukunftsfähige und Veränderungsschritte zu einer zukunftsfähigen Gesellschaft notwendig in einem internationalen Zusammenhang. Was in Deutschland getan wird, hat internationale Folgen, die positiv oder negativ sein können. Veränderungen sind auch hier leichter voranzubringen, wenn es dafür internationale Partner gibt. Da wir nicht davon ausgehen können, dass die theologische Begründung der oben dargestellten ökumenisch-theologischen Leitgedanken allgemein geteilt wird – weder in Deutschland noch international – und auch die Kirchen an einer breiten Verständigung interessiert sein müssen, stellt sich die Frage, in welchen nicht-religiösen Kontexten ebenfalls über Wertmaßstäbe für eine universalisierbare gerechte und nachhaltige Entwicklung nachgedacht wird, die für politische Entscheidungsprozesse genutzt werden können und die kompatibel mit den oben entwickelten Leitgedanken sind.

Mit dem Fähigkeitenansatz (»capability approach«) liegt eine im Entwicklungsdiskurs einflussreich gewordene philosophische Gerechtigkeitstheorie vor, die sich die Aufgabe stellt, allgemeine Ansprüche zu formulieren, die allen Menschen zustehen und damit eine gerechte Entwicklung näher definieren können. Damit gibt sie Auskunft über die Wertmaßstäbe, die ihr universelles Entwicklungsleitbild tragen.

Fähigkeitenansatz

In der philosophischen Ethik geht es jenseits der Frage nach der Begründbarkeit oberster Moralprinzipien (wie dem Kategorischen Imperativ, dem utilitaristischen Nutzenprinzip, der Menschenwürde oder dem Diskursprinzip normativer Gültigkeit) auch um die Begründung von allgemeinen Ansprüchen, die allen Menschen als solchen, d. h. unabhängig von bestimmten Zugehörigkeiten, religiösen Überzeugungen und kulturellen Lebensstilen, zukommen und inhaltlich erfüllt werden sollen. Häufig werden diese Ansprüche des Zukommens als ein System der Menschenrechte expliziert, das bestimmte Freiheitsrechte, bestimmte Rechte auf Teilnahme an politischen Prozessen und auch bestimmte soziale Teilhaberechte umfasst. Wenn eine Entwicklungsidee also das, was es zu entwickeln gilt, als menschliche Freiheit statt als Wirtschaftswachstum konzipiert, muss ein vollständiges System der Menschenrechte entfaltet werden. Ansprüche des Zukommens und Rechte müssen systematisiert und spezifiziert werden, da man andernfalls auch keine Aussagen über die solchen Rechtsansprüchen zugeordneten Verpflichtungen treffen kann. Den Diskurs um solche Ansprüche und die ihnen zugeordneten Rechte kann man der Gerechtigkeitstheorie zuordnen.

Hinsichtlich der näheren Konzeption einer solchen Theorie unterscheiden sich die Ansätze von John Rawls [91] (»Theory of Justice«, »Law of Peoples«) einerseits, Amartya Sen [92] (»Development as Freedom«, »Idea of Justice«) und Martha Nussbaum [93] (u. a. »Frontiers of Justice«) andererseits. Inhaltlich kommen diese unterschiedlichen Konzeptionen vielfach zu ähnlichen Ergebnissen, weshalb man sie auch als »befreundete Konzept-Familien« bezeichnen kann.

Die für den Entwicklungsdiskurs relevanteren Konzeptionen von Sen und Nussbaum werden als Fähigkeitenansatz bezeichnet, da es zentral um die Fähigkeiten bzw. Befähigungen von Menschen geht, ein gutes und erfülltes Leben dadurch zu führen, dass sie wirklich in der Lage sind, so zu leben und zu handeln, wie es ihren begründeten und moralverträglichen Wertvorstellungen entspricht. Insofern orientiert sich der Fähigkeitenansatz an der Idee wirklicher bzw. substanzieller Freiheit, die Sen zufolge nicht nur der westlich-aufklärerischen Tradition entstammt. Das zu Entwickelnde ist somit die Freiheit, die aber selbst gelebt werden muss, also nicht einfach durch technische oder finanzielle Maßnahmen erzeugt werden kann.

Der Fähigkeitenansatz setzt voraus, dass es viele Einschränkungen menschlicher Freiheit gibt, die auf kulturelle Diskriminierungen (etwa von Frauen oder Homosexuellen), soziale Ausgrenzungen (etwa von Kasten oder von Stämmen), gesellschaftliche Barrieren, politische Unterdrückung usw. zurückgehen. Auch Analphabetismus, das Fehlen medizinischer Versorgung bei hohen Krankheitsrisiken und Formen von Zwangsarbeit oder -ehen zählen hierzu. Diese Einschränkungen müssen dann umfassend thematisiert werden, wenn man den Fähigkeitenansatz konsequent der Entwicklungsidee zuordnet. Der Fähigkeitenansatz mischt sich stärker als technokratische oder ökonomische Entwicklungsansätze in die inneren Angelegenheiten von Entwicklungsländern ein. Er fragt nach den spezifischen Ursachen dieser Einschränkungen.

Seit den 1990er-Jahren hat der Fähigkeitenansatz die konzeptionelle Neuorientierung von Entwicklungspolitik beeinflusst. Er hat mittlerweile Eingang in viele internationale Dokumente und Erklärungen des VN-Systems gefunden und wird von vielen Akteuren im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit vertreten. Die Stärken des Fähigkeitenansatzes liegen vor allem darin, dass er Menschen als handelnde und praktische Wesen auffasst. Die allgemeine Handlungsfähigkeit und -freiheit, die zu erhalten selbst ethisch geboten ist [94], differenziert sich zu unterschiedlichen Fähigkeiten aus. Der Fähigkeitenansatz ist in ethischer Hinsicht universalistisch und in anthropologischer Hinsicht essentialistisch, während er große Spielräume kultureller und abwägender Ausdeutungen belässt, also nicht einfach dogmatisch anderen Kulturen übergestülpt werden darf. Daher fordert Sen immer wieder demokratische Debatten über Entwicklungsziele und -politiken. Während Sen stärker diskursethisch-prozedural argumentiert, hat Martha Nussbaum eine inhaltliche Liste mit Fähigkeiten vorgeschlagen, die auszuüben und auszubilden alle Menschen ein moralisches Anrecht haben.

Der Begriff der Entwicklung wird im Fähigkeitenansatz von einem generellen Fortschrittsglauben ebenso gelöst wie von der Orientierung an der Steigerung technologischer Produktivkräfte und einer perfektionierten Naturbeherrschung; er wird stattdessen auf die wirklichen Freiheitsspielräume von Individuen (und Gruppen) in ihren jeweiligen kulturellen, natürlichen und ökonomischen Milieus bezogen. Entwickelt werden sollen primär die Fähigkeiten aller Menschen, ein selbstbestimmtes und gutes Leben zu führen. Selbstbestimmung bezieht sich auf die Ideale moralischer und politischer Autonomie und kultureller Authentizität, während sich »gutes Leben« immer auch auf bestimmte Niveaus und Schwellen materieller Wohlfahrt bezieht. Die Begründung der Menschenwürde erfolgt nicht über Vorstellungen von Ebenbildlichkeit, wie wir sie in Kapitel 4.1 kennen gelernt haben, sondern sie besteht im Recht, Rechte zu haben (Hannah Arendt). Wer überhaupt bereit ist, ernsthaft über die Zuordnung von menschlichen Fähigkeiten zu Menschenrechten zu diskutieren, hat diesen Würdebegriff implizit akzeptiert. Vorausgesetzt wird der intrinsische Wert der Freiheit selbst. Die Übernahme des Fähigkeitenansatzes für die Entwicklungszusammenarbeit zwingt daher zur Kritik an allen religiösen, politischen und sonstigen Doktrinen, die der Freiheit in ihren diversen Hinsichten keinen intrinsischen Wert beimessen. Sen hat auch den Wert der ökonomischen Freiheiten etwa der Berufswahl, der Wahl des Arbeitsplatzes, des Erwerbs von Eigentum, des Tausches auf Märkten, der wirtschaftlichen Selbstständigkeit etc. betont.

Der Fähigkeitenansatz lässt sich intergenerationell erweitern, da unabhängig von wechselnden kulturellen Wertvorstellungen unterstellt werden kann, dass auch zukünftige Individuen ein Interesse daran haben werden, ihre Fähigkeiten auszuüben und auszubilden. Alle Menschen haben somit moralische Anrechte auf Ausübung und Ausbildung ihrer Fähigkeiten.

Diese Anrechte können und sollen in explizite juridische Rechte überführt werden, die in Verfassungen kodifiziert sind und spezifische Staatsaufgaben definieren (etwa im Bereich der Gesundheits-, Bildungs-, Sozial- und Kulturpolitik). Immer dann, wenn einzelne Menschen ein Leben unterhalb der jeweiligen Fähigkeitsschwellen zu führen verurteilt sind, liegen aus Sicht des Fähigkeitenansatzes Ungerechtigkeiten vor. Während man sich mit Missständen aller Art auch abfinden kann, sind Ungerechtigkeiten begrifflich etwas, das nicht geduldet werden darf. Sen vertritt allerdings einen graduellen und komparativen Gerechtigkeitsbegriff, in dem es vor allen darauf ankommt, die offensichtlichen und schwerwiegenden Verstöße gegen Grundsätze der Gerechtigkeit zu beseitigen, während Nussbaums Ansatz es ermöglicht, auch Ungerechtigkeiten etwa in Geschlechtsverhältnissen, Karriereaussichten, Infrastrukturen etc. zu identifizieren.

Für den Fähigkeitenansatz ist die Verfügung über oder der Zugang zu Ressourcen nachrangig. Sen widerspricht dem herkömmlichen Ansatz, der das Wohlergehen des Menschen im Wesentlichen am Besitz und der Versorgung mit materiellen Gütern festmacht. Er wendet sich explizit gegen das daraus abgeleitete Entwicklungsverständnis, das hauptsächlich auf die Produktion bzw. das Einkommen abstellt. Sen verweist hier auf den von Karl Marx geprägten Begriff des Warenfetischismus (»commodity fetishism«), womit Marx ein quasi-religiöses Verhältnis der Menschen zu Produkten meinte. Besitz und Gebrauch materieller Güter (allgemeiner: materielle Ressourcen) sind nicht per se wertvoll, sondern sie sind nur instrumentell wertvoll. Fähigkeiten hingegen sind intrinsisch wertvoll. Daher lässt sich aus dem Fähigkeitenansatz keine Ressourcenpolitik ableiten, sondern eher Politiken, die Menschen in einem umfassenden Sinne zu etwas »befähigen« (»empowerment«). Auch das Wachstum des BIP gilt nicht als primäres Ziel, d. h. Wachstumskritik und Fähigkeitenansatz sind vereinbar. Der Fähigkeitenansatz geht von einem internen Zusammenhang von Menschenrechten und Demokratie aus, vertritt jedoch keine bestimmte Auffassung zu Technologieentwicklung, Eigentumsverhältnissen, kulturellen und religiösen Traditionen, ausländischen Direktinvestitionen, Handelsbeziehungen, Landwirtschaftspolitik, Regulierung bestimmter Märkte etc. Es wird auch nichts über die Legitimität von ökonomischen Ungleichheiten ausgesagt, da der Fähigkeitenansatz nur ein »gutes Sockelniveau« für alle fordert. Insofern ist er mit unterschiedlichen Entwicklungspfaden und ökonomischen Strukturen vereinbar.

Der Fähigkeitenansatz kann sich den sozialen Gruppen besonders zuwenden, die hinsichtlich der Ausübung von Fähigkeiten benachteiligt zu sein scheinen, wie etwa absolut oder extrem arme Personen, Frauen in patriarchalen Verhältnissen, Kinder und Jugendliche in niedrigen Einkommensgruppen, Menschen mit Behinderungen, Flüchtlinge, Slumbewohner u. a. In dieser Hinsicht korrespondiert er stark mit christlichen und anderen religiösen Ethiken, die ein besonderes Augenmerk auf die Benachteiligten (»personae miserae«) richten. So gesehen kann die klassische Armutsbekämpfung im Fähigkeitenansatz als »aufgehoben« gelten. Wichtig ist zuletzt, dass der Fähigkeitenansatz es ausschließt, Menschen als passive Objekte wohlmeinender Hilfe, Fürsorge und Betreuung anzusehen. Die Fähigkeiten sollen gestärkt werden, damit sie von den Menschen selbst ausgeübt werden. Die Ausübung eigener Fähigkeiten im Rahmen eines selbstbestimmten Lebens macht tendenziell von Hilfe unabhängig. Allen paternalistischen Betreuungskonzepten wird somit widersprochen.

Die Schwierigkeiten des Ansatzes liegen vor allem darin, dass (a) das Set der Fähigkeiten sich einer direkten Beobachtung entzieht, also nicht gemessen und für entwicklungspolitische Zielwerte nutzbar gemacht werden kann, (b) die Schwellen nicht allgemeinverbindlich festgelegt werden, (c) das Verhältnis zwischen moralischen Anrechten und juridischen Rechten nicht klar ist und (d) die Differenz schwer zu bestimmen ist, die bloß formale Berechtigungen von wirklichen Befähigungen unterscheidet. Zudem ist die Seite der Rechtsansprüche stärker entwickelt als die Seite der Verpflichtungen, die mit diesen Rechten korrespondieren. Aus einer ethischen Perspektive ist klar, dass Unrecht und Ungerechtigkeit eine achselzuckende Tatenlosigkeit nicht zulassen. Wer allerdings unter komplexen globalisierten Kausalitätsverhältnissen welche Verpflichtungen und die daraus ableitbaren Verantwortlichkeiten zu übernehmen hat, ist weitgehend unklar.

Die Kritik am »Warenfetischismus« des ökonomistisch geprägten Entwicklungsverständnisses führt weiterhin dazu, dass die konzeptionellen Verbindungen zwischen Fähigkeitenansatz und stofflich orientierter sowie naturschützender Politik nur schwach ausgeprägt sind. Welche Auswirkungen der Klimawandel, die Bewässerungslandwirtschaft, die Ausrottung von Arten, die Urbanisierung usw. auf die menschlichen Fähigkeiten hat, ist im Einzelfall empirisch zu ermitteln. Aus der menschlichen Fähigkeit, sich einer Welt der Natur zuzuwenden, folgt kein bestimmtes Naturschutzziel. Der Fähigkeitenansatz ist somit keineswegs über Zweifel und Kritik erhaben. Er hat jedoch das Potenzial, die anthropozentrische Dimension einer Ethik für die globale Zivilisation näher zu bestimmen.

Nachhaltigkeit

Der Fähigkeitenansatz wird auch in einigen Nachhaltigkeitstheorien herangezogen, und zwar um das Verhältnis von intra- und intergenerationeller Gerechtigkeit genauer zu bestimmen: Der »(basic-) needs«-Ansatz der Brundtland-Kommission von 1987 ist in vielen entwicklungspolitischen Feldern unzulänglich, da er nur einen Mindeststandard darstellt. Darüber geht der Fähigkeitenansatz deutlich hinaus. Der basic-needs-Ansatz mag für klassische Armutsbekämpfung eine hinlängliche ethische Grundlage bieten; ein erweitertes Verständnis von Entwicklung bedarf jedoch eines ethischen Ansatzes, der die Reichhaltigkeit menschlicher Lebens- und Praxisvollzüge in den Blick nimmt. Die basic needs können auch erfüllt werden, wo menschliche Freiheit unterdrückt wird (etwa in Umerziehungslagern).

Die Brundtland-Kommission hatte 1987 einen wichtigen Anteil daran, den Begriff der nachhaltigen Entwicklung (»sustainable development«) zu prägen und – im Vorgriff auf den VN-Gipfel für Umwelt und Entwicklung 1992 in Rio de Janeiro – politisch wirksam zu machen. Was die »ökologische« Dimension von Entwicklung anbetrifft, so ist der Ausdruck »sustainable development« jedoch zweideutig, da er zum einen eine dauerhafte Entwicklung (in einem zu definierenden Sinn), zum anderen auch als Entwicklung hin zu einer (zu definierenden) Nachhaltigkeit bedeuten kann. Neben »development as freedom« im Sinne des Fähigkeitenansatzes kann der Begriff »sustainable development« als Annäherung an Regeln, Ziele und Leitlinien eines bestimmten Konzeptes von Nachhaltigkeit verstanden werden.

In der theoretischen Nachhaltigkeitsdebatte ist es üblich, zwischen unterschiedlich »starken« Konzepten zu unterscheiden, wobei sich die »Stärke« einer Konzeption an dem Status bemisst, die den Naturkapitalien einer Gesellschaft zuerkannt wird [95]. Während in den »schwachen« Konzepten Naturkapital durch andere Kapitalbestände ersetzt werden darf, fordern »starke« Konzepte, die Naturkapitalien und Naturgüter mindestens konstant zu halten und ggf. in Naturkapitalien zu investieren, was in der Praxis auf Renaturierung degradierter ökologischer Systeme, auf Aufforstung, Wiederaufbau übernutzter Fischbestände etc. hinausläuft.

Der Fähigkeitenansatz ist mit unterschiedlichen Konzepten von Nachhaltigkeit vereinbar; d. h. auch eine Verbindung mit »schwacher« Nachhaltigkeit ist nicht von vornherein widersprüchlich. Es liegen allerdings viele Gründe vor, die dafür sprechen, den Fähigkeitenansatz eher mit »starken« oder »sehr starken« Nachhaltigkeitskonzepten zu verbinden, wobei die sehr starken Konzepte einigen Naturwesen einen moralischen Selbstwert zuerkennen. Beispielsweise wäre in starker Nachhaltigkeit eine Bejagung von Walen zulässig, wenn die jeweilige Population konstant bleibt oder wächst, während in sehr starker Nachhaltigkeit die Jagd von hoch entwickelten Meeressäugern verboten wäre. Die Gründe zugunsten (sehr) starker Nachhaltigkeit werfen Zweifel daran auf, ob es möglich, wünschenswert oder zulässig ist, Naturkapital durch andere Kapitalien zu ersetzen.

Eine anspruchsvolle Konzeption von Entwicklung führt nun Fähigkeitenansatz und (sehr) starke Nachhaltigkeit systematisch zusammen. Daraus ergibt sich die Perspektive einer Erweiterung der Freiheitsgrade für immer mehr, im Idealfall: für alle Menschen, verstanden als Entwicklung von Fähigkeiten (»development as freedom«) bei der gleichzeitigen kollektiven Verpflichtung, die Naturkapitalien und -güter auf unterschiedlichen Skalen (global, kontinental, national, regional) in Zuständen zu erhalten oder in Zustände zu überführen (»sustainable development«), die einem Regelwerk starker Nachhaltigkeit entsprechen. Man kann beide Entwicklungsaspekte als wechselseitige Beschränkungen auffassen [96]: Die Entwicklung der Fähigkeiten darf nicht auf Kosten der Naturkapitalien gehen und deren Schutz darf menschliche Fähigkeiten nicht schmälern. Dass eine solche Zusammenführung außer auf win-win-Situationen auch auf vielfältige Konflikte stoßen wird, ist offensichtlich.

Gleichwohl kann der Begriff der Entwicklung jetzt neu gefasst werden: »sustainable development as/and freedom«. Dieser Begriff der Entwicklung fordert auf, nach Lösungen zu suchen, in denen eine Verbesserung in einer Entwicklungshinsicht keine Verschlechterung in der anderen nach sich zieht. Es ist möglich, dass diese Konzeption innere Widersprüchlichkeiten aufweist: Wie kann die Ausweitung des Systems der Menschenrechte mit der Eingrenzung menschlicher Tätigkeiten in ökologische Grenzen theoretisch und vor allem praktisch miteinander kompatibel gemacht werden? Es kann kein Konzept von Entwicklung und Entwicklungszusammenarbeit geben, dass sich dieser Frage nicht stellt.

EKD-Text 122 (pdf)

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