"...damit sie das Leben und volle Genüge haben sollen"

Ein Beitrag zur Debatte über neue Leitbilder für eine zukunftsfähige Entwicklung. Eine Studie der Kammer der EKD für nachhaltige Entwicklung. August 2015

5. Handlungsfelder sozial-ökologischer Transformation

5.1. Friedenssicherung – eine Voraussetzung für eine zukunftsfähige Entwicklung

Der Friede in den Gesellschaften und zwischen den Staaten ist immer wieder gefährdet. Gefährdet werden damit die Sicherheit und Zukunft und die Lebenschancen der Menschen, sei es durch ungerechte Verteilung von Wohlstand und Lebenschancen, durch den Zerfall von Staatlichkeit, durch Gewalt und Terrorismus, durch die Zerstörung der Umwelt, durch Ausbeutung und Unterdrückung.

Friede ist kein einmalig erreichter Zustand, »sondern ein gesellschaftlicher Prozess abnehmender Gewalt und zunehmender Gerechtigkeit« [97]. Es gilt deshalb, Prozesse in den Gesellschaften, aber auch zwischen den Staaten zu fördern, die Gewaltanwendung und die gewaltförmige Austragung von Konflikten verhindern und die zivile Konfliktbearbeitung, den Abbau von Not und Unterdrückung und die Förderung von Freiheit in den Mittelpunkt stellen. »Friede« wird daher in der Friedensdenkschrift der EKD auch charakterisiert als ein »immer erneut zu gewährleistender Prozess der Förderung der Freiheit, des Schutzes vor Gewalt, des Abbaus von Not und der Anerkennung kultureller Verschiedenheit« [98].

Gerechter Frieden und Friedenssicherung in der globalisierten Welt verlangen, das internationale Recht, gerechte Regeln, eine kooperative Weltordnung und entsprechende Institutionen auszubauen. Frieden und Gerechtigkeit stehen dabei im unauflöslichen Zusammenhang. Es geht aus beiden Perspektiven darum, für alle Menschen ein Leben in Würde und eine selbstbestimmte Lebensführung zu ermöglichen. Das erfordert gute und verantwortliche Regierungsführung in den Staaten, aber auch auf der globalen Ebene.

Es stellen sich darum vielfältige politische und entwicklungspolitische Friedensaufgaben:

  • Notwendig ist es vor allem, die zivile Konfliktbearbeitung auszubauen und stärker finanziell zu fördern, wie es im deutschen Aktionsplan »Zivile Krisenprävention, Konfliktlösung und Friedenskonsolidierung« [99] verankert wurde, z. B. durch die Unterstützung regionaler Organisationen oder auch durch die Ausweitung des Zivilen Friedensdienstes. Gesellschaftliche und politische Konflikte können Motor für gesellschaftlichen Wandel sein. Es geht um Beiträge dazu, Konflikte konstruktiv zu wenden und gewaltförmige Ausführungen der Konflikte zu verhindern.
  • Verantwortliche globale »gute Regierungsführung« (»good governance«) bedeutet, internationale Institutionen zu stärken und zu entwickeln, die die Stärkung des Rechts gegen das Recht des Stärkeren durchsetzen. Bei der globalen Gestaltung gewinnen zunehmend die Kooperationen zwischen Regierungen und den Vertretern und Vertreterinnen der Zivilgesellschaft an Bedeutung.
  • Es gilt, alle Institutionen, Verhandlungen und Verträge zu unterstützen, deren Ziel es ist, Waffenpotenziale abzubauen und Mittel für die Verwirklichung menschlicher Sicherheit und Lebenschancen zu mobilisieren. Der Vertrag zur Verringerung des weltweiten Waffenhandels verpflichtet alle zum unmittelbaren Handeln. Die Forderungen nach Abrüstung und Beseitigung aller Atomwaffen in allen Regionen (»zero option«) sind angesichts des fürchterlichen Potenzials dieser Waffen noch immer aktuell.
  • Waffen- und Rüstungsexporte müssen umfassend vermindert werden. Sie schüren neue Konflikte und/oder heizen bestehende Konflikte weiter an, führen zu regionalem Rüstungswettlauf und machen Entwicklungserfolge zunichte. Exporte an Länder mit problematischen Menschenrechtssituationen und einem konfliktbeladenen Sicherheitsumfeld müssen beendet werden. In all diesen Fragen ist umfassende Information und Beteiligung der Parlamente notwendig, um Transparenz zu sichern [100].
  • Der Transfer von Kleinwaffen muss unterbunden werden: Jährlich kommen rund eine halbe Million Menschen durch sie ums Leben. Diese Waffen töten noch Jahrzehnte nach ihrer Produktion und ihrem Verkauf. Kleinwaffen werden benutzt, um Kinder als Soldaten zu missbrauchen.
  • Eine offene Diskussion über die Produktion und den Einsatz bewaffneter Drohnen (»Kampfdrohnen«) ist dringend erforderlich, da sich die Gefahr einer neuen gefährlichen Aufrüstungsrunde bei diesen Kampfinstrumenten ankündigt. Es besteht die Gefahr einer im Verborgenen stattfindenden Kriegsführung, die die generelle Ächtung des Krieges und der Anwendung von Gewalt im Völkerrecht unterläuft. Krieg würde unter die Schwelle der weltweiten Wahrnehmbarkeit gedrängt. Zudem führt die Entpersonalisierung von Waffensystemen zu einer Senkung der Hemmschwelle des Einsatzes. Deshalb steht die völkerrechtliche Ächtung derartiger Waffensysteme an. Die internationale Gemeinschaft hat derartige Verbotskonventionen bei Landminen und Streumunition bereits beschlossen.

Menschliche Sicherheit setzt auch Friedensprozesse im Inneren voraus, nämlich durch die Gewährleistung von Sicherheit der Menschen vor Gewalt, vor Unfreiheit und Not. Die Völkergemeinschaft ist verpflichtet, alles zu tun, um Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen zu verhindern. Vergewaltigungen in Kriegs- und Bürgerkriegssituationen sind Verbrechen gegen die Menschlichkeit und müssen vor dem Internationalen Gerichtshof verfolgt werden. Es gilt die Schutzverantwortung (responsibility to protect) jeder Regierung gegenüber allen Teilen der Bevölkerung. Wo eine Regierung dieser Verantwortung nicht gerecht wird oder wo sie aktiv Verbrechen gegen die Menschlichkeit gegen die eigene Bevölkerung begeht oder zulässt, ist die internationale Gemeinschaft verpflichtet, diesen Schutz – entsprechend einem VN-Mandat – zu übernehmen. Aber auch hier gilt: Prävention und Unterstützung der Bevölkerung (responsibility to prevent, responsibility to assist) müssen immer Vorrang haben, alle anderen Mittel müssen ausgeschöpft sein, das Mandat muss politisch begleitet und zeitlich begrenzt sein.

»Wer den Frieden will, muss den Frieden vorbereiten.« [101] Frieden ist am besten durch Zusammenarbeit zu sichern. Das Wort des Nord-Süd-Berichtes von 1980 ist nach wie vor aktuell: »Wo Armut herrscht, kann Frieden auf Dauer keinen Bestand haben.« [102] Ohne Frieden hat Entwicklung keine Chance. Prävention und die Verbesserung der Lebensverhältnisse der Menschen durch Entwicklungszusammenarbeit sind wichtige Bausteine einer Politik der Friedenssicherung. Voraussetzung dafür sind kohärente Weichenstellungen in anderen Politikfeldern wie der Außen-, Sicherheits- und der Handelspolitik.

5.2. Menschenrechte als Verpflichtung für staatliches Handeln

Menschenrechte stellen den einzigen derzeit vorhandenen Referenzrahmen für eine soziale und ethische Handlungsorientierung dar, der eine globale, universelle Geltung beanspruchen kann und ein Verständnis elementarer Grundrechte aller Menschen abbildet. Völkerrechtliche Verträge, aber auch Instrumente wie z. B. die »Freiwilligen Leitlinien zur Unterstützung der schrittweisen Verwirklichung des Rechts auf Nahrung im Kontext nationaler Ernährungssicherung« der FAO, sind von vielen bzw. allen Staaten weltweit getragen und binden deshalb auch Länder in allen Teilen der Welt. Zwar werden Menschenrechte auch immer wieder in Süd und Nord (Anti-Terror-Kampf etc.) infrage gestellt, dennoch ist die Aufmerksamkeit, die gerade auch Länder wie China, Indien, Russland und Iran dem Menschenrechtsrat schenken, ein Indikator für die Relevanz des Menschenrechtsschutzsystems: Dies gilt auch im Blick auf die Versuche vieler Länder, die Handlungsspielräume von Menschenrechtsverteidigern bzw. der Zivilgesellschaft insgesamt einzuschränken. Die Menschenrechte bzw. deren Verteidigung stellen eine starke Legitimation für die Arbeit der Opposition in diesen Ländern dar.

Teil der Menschenrechte sind die so genannten Menschenrechtsprinzipien, die Verfahrensstandards für nationale wie internationale Politik und »Governance« darstellen. Zu diesen Prinzipien gehören die Standards der Transparenz, Partizipation und Nicht-Diskriminierung. Die »Freiwilligen Leitlinien für die verantwortungsvolle Verwaltung von Boden- und Landnutzungsrechten, Fischgründen und Wäldern« der FAO können als Beispiel für die Ausbuchstabierung dieser Verfahrensprinzipien in einem Politikfeld stehen. Sie stellen sicher, dass Menschen und ihre Rechte nicht übersehen werden, dass sie erfahren, was mit ihnen geplant wird, und dass sie rechtzeitig und regelmäßig gehört werden.

Zentrale Aufgabe bei der Umsetzung der Menschenrechte ist es, dass alle Menschen ihre Rechte kennen. In dem Maße, wie Menschen ihre Rechte kennenlernen, werden sie befähigt, Diskriminierungen und Ungerechtigkeiten wahrzunehmen, und beginnen, ihre Rechte einzufordern. Kenntnisse über Rechte sind eine Voraussetzung für Empowerment-Prozesse. Dies zu fördern, kann und sollte auch eine Zielsetzung von Entwicklungspolitik sein.

Ein Menschenrechtsansatz ist nicht mit einem Programm für eine umfassende Verrechtlichung gesellschaftlicher Beziehungen zu verwechseln. Menschenrechte stellen Mindeststandards für staatliches Handeln dar – nicht mehr und nicht weniger. Zentrale Fragen der politischen und institutionellen Ausgestaltung von Politikfeldern sind Fragen, die im politischen Diskurs auch weiterhin einer politischen Klärung bedürfen und weit über den Schutz und die Förderung von Grund- und Menschenrechten hinausweisen.

Nationalstaaten und Menschenrechte

Pflichtenträger menschenrechtlicher Verträge sind die Nationalstaaten, die die entsprechenden Menschenrechtskonventionen ratifiziert haben. Sie müssen sicherstellen, dass sie die Rechte aller Menschen, die auf ihrem Territorium leben, achten, vor Übergriffen Dritter schützen, und sie müssen sich für eine umfassende Umsetzung der Menschenrechtskonventionen einsetzen und die Menschenwürde garantieren.

Der Nationalstaat und damit in der Regel auch der Rechtsstaat ist allerdings in vielen Ländern schwach oder schwächer geworden. Die ökonomische, politische und soziale Globalisierung hat dazu geführt, dass internationale Faktoren an Bedeutung gewinnen und die Umsetzungsbedingungen für Menschenrechte mit beeinflussen. Zu diesen Einflussfaktoren zählen nicht zuletzt die Aktivitäten von Unternehmen, die durch nationale oder ausländische Direktinvestitionen in den letzten Jahrzehnten einen enormen Bedeutungszuwachs erfahren haben und auf Arbeitsbedingungen wie auch auf die Rahmenbedingungen nationaler Politik einwirken. Auch mit dem Trend zur Privatisierung zentraler staatlicher Dienstleistungen geht eine Schwächung des staatlichen Einflusses einher.

Die Globalisierung wurde und wird vor allem auch durch internationale Verträge im Wirtschafts- oder Umweltbereich vorangetrieben, die, wie bei Handels- und Investitionsschutzabkommen, staatliche Handlungsmöglichkeiten erheblich begrenzen können. Hinzu kommt die oft einflussreiche Politikberatung internationaler Organisationen wie der Weltbank oder des Internationalen Währungsfonds. Die völkerrechtliche Situation vieler Länder ist geprägt durch ein Bündel manchmal widerstreitender Verpflichtungen aus internationalen Verträgen, wie der Verpflichtungen auf der Grundlage wirtschaftlicher Verträge oder auch umweltpolitischer oder menschenrechtlicher Verträge. In diesem Kontext kann es immer wieder zu Konflikten [103] zwischen den Verpflichtungen kommen, die Nationalstaaten aufgrund völkerrechtlicher Verträge in verschiedenen Bereichen übernommen haben. Auf der Wiener Menschenrechtskonferenz 1993 wurde zwar prinzipiell festgehalten, dass Menschenrechtsverpflichtungen immer die erste Priorität für staatliches Handeln darstellen, dennoch kommt es immer wieder zu substanziellen Konflikten zwischen den Rechtsbereichen, insbesondere weil völkerrechtliche Verträge im Wirtschaftsrecht stärkere Durchsetzungsinstrumente haben, wie das Streitschlichtungsverfahren bei der Welthandelsorganisation oder die Schlichtungsverfahren bei Investitionsschutzabkommen.

Staatliche Handlungsmöglichkeiten sind in vielen Ländern, aber auch durch andere Faktoren begrenzt, wie durch die Auswirkungen von Konflikten und bewaffneten Auseinandersetzungen und die zunehmende Bedeutung privater Gewaltakteure, gerade auch im Kontext privater illegaler Geschäfte.

Im Geltungsbereich der Menschenrechtsverträge führt die Globalisierung zu einer Zunahme von Situationen gemischter Verantwortlichkeiten für Menschenrechtsverletzungen und gemischter Schutzverantwortungen. Der Nationalstaat bleibt der entscheidende Garant für die Umsetzung von Menschenrechten. Aber andere Akteure haben eine wichtige Mitverantwortung für die Situation, so beispielsweise Unternehmen sowie auch andere Länder im Blick auf die extraterritorialen Effekte ihrer jeweiligen nationalen Politik. Seit mehr als einem Jahrzehnt wird deshalb aktiv von Menschenrechtsorganisationen und Völkerrechtlern darauf hingewiesen, dass viele Opfer von Menschenrechtsverletzungen ihre Rechte kaum noch wirkungsvoll einklagen können, gerade wenn das nationale Rechtssystem nicht oder nicht ausreichend funktioniert, oder wenn internationale Rahmenbedingungen oder mächtige private Akteure von lokal betroffenen Menschen nicht herausgefordert werden können. Dies greift die Unmittelbarkeit der Geltung von Menschenrechten an und erfordert, dass langfristig rechtliche und politische Lösungen gefunden werden, wie diese anderen Akteure auch entsprechend zur Verantwortung gezogen werden können. Deshalb weisen Menschenrechtler und Völkerrechtler auf die besondere Bedeutung der extraterritorialen Geltung von Menschenrechten hin und interpretieren diese als Teil der vorhandenen Menschenrechtsstandards [104].

Extraterritoriale Geltung bezieht sich dabei auf vier Tatbestände:

  • Bei bilateralem externen Handeln von Staaten geht es um die direkten Auswirkungen nationaler Politik im Ausland (Kohärenzthematik) auf die Umsetzung von Menschenrechten in anderen Ländern, beispielsweise im Bereich der Agrarexportsubventionen oder beim Einsatz von bewaffneten Drohnen für gezielte Tötungen.
  • Die extraterritoriale Dimension bindet staatliches Handeln auch im Kontext internationaler Organisationen, d. h. ein Land wie Deutschland trägt Mitverantwortung für sein Wirken in der Europäischen Union, in der Weltbank etc.
  • Dies gilt ebenso für die Ausgestaltung von bi- wie multilateralen Verträgen. Auch in diesem Kontext müssen Staaten sicherstellen, dass sie nicht zu Menschenrechtsverletzungen beitragen bzw. dass nicht andere Staaten in ihren Möglichkeiten eingeschränkt werden, ihren Menschenrechtsverpflichtungen nachzukommen.
  • Außerdem haben Staaten eine Schutzpflicht gegenüber Maßnahmen privater Akteure, die mit Menschenrechtsverletzungen einhergehen. Staaten müssen sicherstellen, dass nicht Menschen durch das Wirken von privaten Akteuren in ihren Menschenrechten verletzt werden. Sie müssen private Akteure angemessen kontrollieren und regulieren.

Es ist wichtig anzuerkennen, dass es in diesen Situationen gemischter Verantwortlichkeiten oft zu einem Verlust staatlicher Handlungskompetenz (Steuerungsfähigkeit) kommt, die für die Umsetzung und Gewährleistung aller Menschenrechte ausgesprochen problematisch sein kann. Wenn ein Rechtsstaat nicht mehr funktioniert, ist es schwer, von außen alternative Governance-Strukturen zu unterstützen bzw. aufzubauen. Alle Formen und Debatten über »transitional justice« belegen, dass Alternativen zu funktionierender Rechtsstaatlichkeit nicht wirklich existieren bzw. immer Hilfskonstruktionen bleiben. Der Nationalstaat mag zu klein geworden sein, internationale Rahmenbedingungen allein zu beeinflussen, existiert er aber nicht, wie in Situationen von schwacher oder scheiternder (»failing«) Governance, werden das Umsetzen von Menschenrechten wie auch von Entwicklungszielen erheblich erschwert, teilweise weitgehend unmöglich. Deshalb bleibt es entscheidend, sich für eine funktionierende nationale Regierungsfähigkeit (Governance) einzusetzen und Institutionen und Gerichtsbarkeit aufzubauen bzw. diese zu unterstützen.

In diesem Sinne muss es ein zentrales Anliegen einer jeden Entwicklungspolitik sein, menschenrechtsorientiert zu werden. Für die Umsetzung der meisten Entwicklungsziele ist eine verantwortliche nationale Regierung die zentrale Stellgröße. Ohne funktionierenden Rechtsstaat, effektive Partizipationsrechte, Beschwerdemöglichkeiten, eine Verwaltungsgerichtsbarkeit bzw. eine vergleichbare Möglichkeit der Überprüfung staatlichen Handelns wird es keinen gesicherten Zugang zu Bildung, Gesundheitseinrichtungen, Wasser etc. insbesondere für benachteiligte Gruppen geben. Menschenrechtsbasierung heißt dementsprechend, Entwicklungspolitik daran zu orientieren, staatliches Handeln rechenschaftspflichtig zu machen (»accountability«). Dabei können sowohl staatliche Stellen darin beraten werden, eine menschenrechtsorientierte Ausgestaltung von Politikfeldern voranzutreiben, als auch zivilgesellschaftliche Organisationen instruiert werden, eine entsprechende verantwortliche Regierungsführung einzufordern.

Wirtschaft und Menschenrechte

Den relevanten Rahmen für die menschenrechtliche Verantwortung privater Wirtschaftsakteure bieten die Leitprinzipien der VN zu Wirtschaft und Menschenrechten. Die Leitprinzipien wurden im Juni 2011 im Menschenrechtsrat einstimmig angenommen und repräsentieren einen universell akzeptierten Rahmen (»agreed language«) für diesen Themenbereich. In den VN-Leitprinzipien wird zunächst festgehalten, dass menschenrechtliche Pflichtenträger die Nationalstaaten sind, d. h. zunächst die Staaten, in denen wirtschaftliche Aktivitäten umgesetzt und Investitionen getätigt werden. Allerdings verweist der Text auch auf rechtliche Verpflichtungen der Staaten, in denen international tätige Unternehmen angesiedelt sind. Diese Staaten müssen dort, wo sie effektiven Einfluss haben, beispielsweise weil sie an Unternehmen beteiligt sind oder diese im Zuge der Außenwirtschaftsförderung unterstützen, sicherstellen, dass diese nicht zu Menschenrechtsverletzungen beitragen.

Die Leitprinzipien enthalten aber auch eine zweite Säule, die die direkten Verantwortlichkeiten von Unternehmen verdeutlicht. Unternehmen müssen mit der gebotenen Sorgfalt sicherstellen, dass sie nicht zu Menschenrechtsverletzungen beitragen. Dabei müssen sie ihre direkten (Arbeitsbeziehungen) wie indirekten Effekte auf Menschen untersuchen und überprüfen, und zwar entlang ihrer gesamten Wertschöpfungskette. In der dritten Säule werden die Staaten aufgefordert, effektiven Rechtsschutz und Beschwerdemöglichkeiten für alle Problembereiche zu garantieren. Auch Unternehmen müssen mit zur effektiven rechtlichen Umsetzung beitragen, zum einen dadurch, dass sie vorhandene Rechtsschutzinstrumente respektieren und nutzen und dort, wo diese nicht verfügbar sind, alternativ firmeninterne Beschwerdemechanismen einsetzen und allen potenziell Betroffenen Beteiligungs- und Beschwerderechte einräumen. Die Umsetzung der Leitprinzipien eröffnet Möglichkeiten, auch private Akteure dazu anzuhalten, mögliche negative Auswirkungen auf die Menschenrechte zu unterlassen und Verletzungen zu vermeiden.

5.3. Politikkohärenz im Interesse nachhaltiger Entwicklung

Unter den Bedingungen des 21. Jahrhunderts erfordert nachhaltige Entwicklung eine Umorientierung des Handelns in allen gesellschaftlichen Bereichen und in allen Ländern: Es ist ein Prozess, der sehr viel leichter vorangetrieben werden kann, wenn dies nicht isoliert in einzelnen Ländern und Regionen oder Politikfeldern geschieht. Damit stellt nachhaltige Entwicklung hohe Anforderungen an die Kohärenz von Politik: Bei der Konzeption von gesetzlichen Regelungen, Programmen und Maßnahmen müssen Risiken für und negative Auswirkungen auf andere Politikfelder und Länder von vornherein mitbedacht und möglichst vermieden werden. Dies betrifft nicht nur Entwicklungsländer, sondern auch unsere Nachbarn in Europa und unsere Beziehungen zu anderen Industrieländern.

Ein weiterer Bereich von Politikkohärenz bezieht sich explizit auf die internationalen Wirkungen, die von nationalen Politiken ausgehen und die durch Machtungleichgewichte verschärft werden. So wird der Handlungsspielraum, den Entwicklungsländer für eine nachhaltige Entwicklung nutzen können, in einer globalisierten Welt auch dadurch begrenzt, wie andere Industrie- und Schwellenländer ihre Politik gestalten. Die direkten oder indirekten Auswirkungen politischer Entscheidungen wirtschaftlich und politisch mächtiger Staaten können die Entwicklungsmöglichkeiten schwächerer Regionen erheblich einschränken. Sowohl Staaten als auch wirtschaftliche Akteure beeinflussen den Raum anderer Staaten häufig, ohne diese Einwirkungen abzuwägen.

Dies wird an zahlreichen Beispielen deutlich: So beeinträchtigt die mangelnde Regulierung der Finanzmärkte in den Finanzzentren des Nordens die wirtschaftliche und soziale Entwicklung der Entwicklungsländer. Dies trifft auch auf die Art und Weise zu, wie die Industrieländer in der Finanzkrise die Wirtschaftsstabilisierung betrieben. Eine Vielzahl von »Steueroasen« eröffnet wirtschaftlichen Akteuren in den Entwicklungsländern die Möglichkeit, sich der Besteuerung zu entziehen. Neue globalisierte Produktions- und Lieferketten, z. B. in der Textil- und Bekleidungsindustrie, nutzen ausbeuterische Beschäftigungsverhältnisse in den Lieferländern.

In wirtschaftlicher Hinsicht werden Entwicklungsländer – wenn sie sich nicht erfolgreich in globale Wertschöpfungsketten integriert haben – nach wie vor eher auf ihre Rolle als Rohstoffexporteure reduziert oder mit Handelsbarrieren konfrontiert. Kauf oder Pacht von umfangreichen Flächen, z. B. zur Produktion von Agrarrohstoffen für Industrieländer, gefährden die Ernährungssicherung und die natürlichen Lebensgrundlagen der Menschen in den betroffenen Ländern. Ausmaß und Art der Energieproduktion und -versorgung sowie die Übernutzung von Rohstoffen führen weltweit zu massiven Klima- und Umweltveränderungen, unter denen zunehmend die Ärmsten leiden. Die Industrieländer schotten sich einerseits gegenüber Flüchtlingen und Hilfesuchenden aus den ärmeren Ländern ab, versuchen aber andererseits, qualifizierte Fachleute aus diesen Ländern zu gewinnen, z. B. im Gesundheitswesen. Diese Fachkräfte werden jedoch in ihren Heimatländern dringend gebraucht.

Inkohärenzen dieser Art prägen die internationale Politik auf vielen Ebenen. Darüber hinaus zeigen sich deutliche strukturelle Ursachen von Ungerechtigkeit, z. B. die ungleiche Verteilung des Zugangs zu Ressourcen, die ungleiche Beteiligung an den Märkten, der ungerechte Zugang zu Bildung und Gesundheit. Und in vielen Fällen verhindert undemokratische Regierungsführung die Beteiligung der Menschen an politischen Prozessen.

Es ist daher erforderlich, den Raum für nachhaltige Entwicklung des Globalen Südens durch eine kohärente entwicklungsfreundliche Gestaltung der strukturellen Rahmenbedingungen zu erweitern. Dafür ist es notwendig, dass die politisch Verantwortlichen in Deutschland und in der Europäischen Union dazu beitragen, schädliche Rahmenbedingungen zu verändern, entwicklungspolitische Auswirkungen von Entscheidungen frühzeitig zu reflektieren, eine – häufig auch konfliktreiche – Abwägung der Interessen zu vollziehen und Handlungen zu unterlassen, die das Risiko schädlicher Auswirkungen in sich bergen.

Für die Steigerung der Kohärenz nationaler Politik und die Verbesserung der internationalen strukturellen Rahmenbedingungen können zwei Instrumente genutzt werden: Eine Risikoabschätzung von Gesetzesvorhaben, die auch internationale Wirkungen und die Interessen zukünftiger Generationen in den Blick nimmt, und die Erweiterung der europäischen Berichte zur Politikkohärenz aus der Sicht der Entwicklungspolitik um den Blick auf globale Ziele und Wirkungen. In Deutschland hat der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Entwicklung die Möglichkeit, mit dem Instrument der Nachhaltigkeitsprüfung von Gesetzesvorhaben eine derartige erweiterte Risikoabschätzung durchzuführen. Aus Sicht dieser Studie müssten in die Prüfung Risiken eingehen, die sich für die Menschenrechte, die Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen, die Umwelt und für die Friedenssicherung ergeben könnten. Die europäische Kohärenzberichterstattung könnte auch um ein »conflict and peace assessment« sowie um eine Menschenrechtsverträglichkeitsprüfung europäischer Politiken ergänzt werden.

Eine Chance könnten auch die Vereinbarungen sein, die für die Rechenschaftslegung und den Überprüfungsmechanismus der neuen Post-2015-Agenda getroffen werden müssen. Zentrale Voraussetzung für die Umsetzung der Post-2015-Agenda ist, dass Verantwortlichkeiten und Umsetzungsstandards der vielfältigen Akteure (internationale Organisationen, Staaten, Privatwirtschaft, Zivilgesellschaft etc.) benannt werden. Alle VN-Mitgliedstaaten werden nationale Umsetzungsstrategien erarbeiten müssen, zu denen sie dann regelmäßig Bericht erstatten, sowohl ihren nationalen Parlamenten als auch auf der Ebene der VN. Da die Post-2015-Agenda breit angelegt sein wird, wird diese Berichterstattung nicht nur Verbesserungen zu sozialen Indikatoren menschlicher Entwicklung enthalten – wie bei den MDGs –, sondern auch Bereiche wie Umwelt, Ressourcen, Handel, Technologietransfer, Migration, Investitionen und Steuern umfassen [105].

Unabhängig davon kann ein internationales Monitoring sowie eine Bewertung von »entwicklungsfreundlichem Verhalten« der Industrieländer mehr Transparenz und Steuerung ermöglichen. Die entwicklungsfreundliche Kohärenz der Politiken von Industrieländern müsste sich demnach nicht nur an der Einhaltung der finanziellen Zusagen für die ärmeren Länder messen lassen. Zusätzlich sollte bewertet werden, wie sich die Industrieländer in anderen Bereichen, z. B. der Handelspolitik, der Investitionen, der Sozial- und Gesundheitsstandards, in der Warenproduktion – z. B. im Textilsektor –, der Migration, in der Umwelt- und Energiepolitik und der menschlichen Sicherheit, verhalten. Immer wichtiger wird auch die Frage, inwieweit die wohlhabenden Staaten dieser Welt durch ihre Wirtschaftsweise und ihren Konsumstil natürliche Ressourcen und Biokapazitäten über das ihnen zustehende Maß hinaus beanspruchen und somit jetzigen wie zukünftigen Generationen notwendige Lebensgrundlagen entziehen.

Wenn mit der einen Hand gegeben und gleichzeitig mit der anderen den Menschen im Globalen Süden die Zukunft durch Handelshindernisse oder eine klimaschädliche Politik genommen wird, muss dies eine öffentliche Bewertung finden. Eine solche komplexe Bewertung der Entwicklungsfreundlichkeit eines Landes und ein entsprechendes Ranking könnte sich beispielsweise am »Commitment to Development«-Index (CDI) des Centers for Global Development orientieren. Die Publizierung und Messung von Official Development Assistance bleibt davon unberührt.

5.4. Global Governance und internationale Zusammenarbeit

Die konstruktive Zusammenarbeit der Staaten in multilateralen Organisationen, globalen Partnerschaften und internationalen politischen Allianzen ist gerade im Bereich der nachhaltigen Entwicklung von zentraler Bedeutung. Im Streben nach mehr politisch-strategischer Kohärenz erreicht das Handeln neue Stufen der Wirksamkeit und der Bündelung von Ressourcen, die Verstärkung und Vervielfältigung ermöglichen. Vor allem aber braucht es den multilateralen Politik-Dialog, also die Verständigung zwischen Regierungen über Ziele, Prioritäten und Maßnahmen, um eine Basis für ein kohärentes Wirken für eine nachhaltige Entwicklung zu schaffen.

Die Aufgaben, die sich der internationalen Politik in den nächsten Jahren stellen, können nur im Rahmen grenzüberschreitender Kooperation bewältigt werden. Die Eindämmung des Klimawandels, der Schutz der Biodiversität und der Ozeane, die Bekämpfung von Epidemien oder des internationalen Terrorismus, die Stabilisierung internationaler Finanz- und Handelssysteme etc. sind auf die Bereitschaft der Staaten, sich auf gemeinsame Lösungen einzulassen und entsprechende Verpflichtungen einzugehen, angewiesen: »Nachhaltige Entwicklung braucht Global Governance« [106]. Die Verbesserung der Kooperation zwischen Staaten muss daher auch mit der Stärkung internationaler Institutionen und entsprechenden Regelwerken, die dem globalen Gemeinwohl Rechnung tragen, einhergehen. Die Folgen der ökonomischen Globalisierung, die politischen Machtverschiebungen durch den Aufstieg der Schwellenländer und die ökologischen Krisen verlangen international handlungsfähige Institutionen, die in der Lage sind, die Globalisierung auf den Pfad einer nachhaltigen und menschenrechtsbasierten Entwicklung zu lenken.

Die internationale Kooperation hat sich seit Ende des Zweiten Weltkriegs ständig verbreitert und vertieft – Rückschläge waren und sind dabei nicht ausgeschlossen. Das umfassendste und politisch bedeutsamste Dach für internationale Kooperation sind die Vereinten Nationen. War die Gründung der VN selbst noch eine unmittelbare Reaktion auf die Schrecken des Krieges und das Bedürfnis nach mehr kollektiver Sicherheit, so haben seitdem die Interdependenzen zwischen den Staaten und Weltregionen auf Gebieten wie Handel, Verkehr, Finanzwirtschaft, Umwelt oder Gesundheitsrisiken stark zugenommen und eine Fülle von neuen Institutionen und Instrumenten der internationalen Kooperation hervorgebracht.

Auch im Bereich der Entwicklungspolitik sind die VN, einschließlich der Weltbank, weiterhin die global führende und einflussreichste Einrichtung der Weltgemeinschaft. Die MDGs haben gezeigt, wie auf VN-Ebene festgelegte Ziele das Wirken einzelner Staaten und der Staatengemeinschaft besser fokussieren und auch finanzielle Ressourcen mobilisieren können. Wichtig sind auch die neueren Ansätze, die Transparenz und gegenseitige Rechenschaftspflicht der Entwicklungspartner zu stärken (Busan-Vereinbarung) [107].

Gemessen an der Dimension der Herausforderung, die sich vor allem im Mangel an Schutz und Bereitstellung globaler öffentlicher Güter zeigt, erweisen sich die bestehenden Global-Governance-Strukturen jedoch als unzureichend. Sie sind von Fragmentierung geprägt. Neben den Organen der VN haben sich verschiedene Formen des selektiven Multilateralismus und der Club Governance (G7, G8 und G20) herausgebildet. Damit wurden Parallelstrukturen geschaffen und Inkohärenzen verstärkt, die insgesamt zur Schwächung des Multilateralismus beitragen. Die Bemühungen um eine Stärkung der Global-Governance-Architektur im Rahmen der VN sind ins Stocken geraten.

Die Kammer der EKD für nachhaltige Entwicklung hat in ihrer Studie »Auf dem Wege der Gerechtigkeit ist Leben. Nachhaltige Entwicklung braucht Global Governance« deutlich gemacht, dass es so etwas wie einen Weltrat (Global Council) für soziale, ökologische und wirtschaftliche Fragen geben müsste, der in seiner Bedeutung innerhalb der VN dem Weltsicherheitsrat gleichkommt und der sowohl über dem Internationalen Währungsfonds (IWF) und Weltbank, als auch über der Welthandelsorganisation (WTO) und den Club-Strukturen steht [108]. Dieser Weltrat hätte die Aufgabe, Leitlinien für ein nachhaltiges Wirtschaften zu definieren, über die Einhaltung von menschenrechtlichen, sozialen und ökologischen Mindeststandards zu wachen und gegebenenfalls auch Sanktionen zu verfügen. Neben den von der VN-Generalversammlung gewählten Vertreterinnen und Vertretern von Staaten sollten darin auch multilaterale Institutionen und die Zivilgesellschaft ohne Stimmrecht repräsentiert sein.

Fraglich ist, ob ein Global Council, wie er in der Studie der Kammer der EKD für nachhaltige Entwicklung skizziert ist, als Neugründung eine realistische Chance hätte, oder ob es aussichtsreicher wäre, Schritt für Schritt bestehende Institutionen wie den zurzeit schwachen Weltwirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen (ECOSOC) zu reformieren, aufzuwerten und so umzugestalten, dass die G20 darin aufgehen kann und unter das Dach der VN geholt wird. Auch wenn derzeit für beide Optionen keine kurzfristigen Realisierungschancen sichtbar sind, so leiten sich aus diesen Vorschlägen relevante Kriterien ab, um Veränderungen der VN-Governance daraufhin zu prüfen, ob sie geeignet sind, den Weg zu dieser Vision zu ebnen, bei der es im Kern um die Gleichrangigkeit von sozialer und ökologischer Nachhaltigkeit zu militärischen Sicherheitsfragen sowie um die Überwindung von Parallelstrukturen geht.

Die transnational vernetzte Zivilgesellschaft und die transnationale Ökonomie haben in den Prozessen grenzüberschreitender Politikgestaltung eine zunehmend wichtige Rolle. Die Partizipation zivilgesellschaftlicher Organisationen an Governance-Strukturen im globalen Mehrebenensystem muss in Zukunft weiter gestärkt werden, zumal diese in besonderer Weise für kooperative, am globalen Gemeinwohl orientierte Lösungen eintreten. Dessen ungeachtet bleiben die Nationalstaaten als Träger der Souveränität auf absehbare Zeit die dominierenden Akteure, auch dort, wo sich ihre Zusammenarbeit verdichtet. Das Ringen um mehr Gemeinsamkeit bei Regeln, Prinzipien und Maßnahmen wird mühsam und beschwerlich bleiben. Deswegen sollten Minimalkompromisse auf globaler Ebene auch nicht ausschließen, dass ambitioniertere Staaten ihre Ziele weiter verfolgen und ausbauen. Ein Spagat ist erforderlich zwischen dem Respekt für die konsensbasierten Minimalziele und dem weiteren Ausbau der Ambitionen. Die »Allianzen der Ambitionierten« haben gerade in der internationalen Umweltpolitik – über alle traditionellen Staaten-Gruppierungen hinweg – die Dynamik der politischen Meinungsbildung in fruchtbarer Weise neu befeuert.

Unterstützung verdienen die Ansätze, universelle Werte zu identifizieren, die als gemeinsamer Wertekompass die ethischen Orientierungen der Akteure näher zusammen bringen können. Internationale Kooperation bedarf nicht nur funktionierender Prozesse und Verfahren, sondern muss sich auf weithin akzeptierte Prinzipien und Werte stützen können. Als Fundament für globale Regelwerke sind dabei die Menschenrechte anzusehen. Geteilte Werte und Ziele sind die Basis für die Konsensfindung. Für den Dialog über eine Wertebasis für eine globale Partnerschaft kommt den Kirchen und großen Religionsgemeinschaften eine zentrale Rolle zu.

5.5. Die globale Entwicklungsagenda nach 2015 als Chance für eine neue Weichenstellung

Im Juni 2012 wurde auf der Rio-plus-20-Konferenz der VN eine Zusammenführung der Umwelt- und Entwicklungsagenda der internationalen Gemeinschaft und die Ausarbeitung von universellen Zielen für eine nachhaltige Entwicklung (»sustainable development goals«, SDGs) gefordert. In der Schlusserklärung der Rio-Konferenz hieß es, dass die neuen SDGs

  • die drei Dimensionen nachhaltiger Entwicklung und ihre Wechselbeziehungen berücksichtigen sollen;
  • die Erreichung der im Jahr 2001 von den VN beschlossenen MDGs nicht gefährden dürften;
  • mit der Entwicklungsagenda der VN nach 2015 kohärent und in sie integriert sein sollen;
  • aktionsorientiert, prägnant, leicht zu kommunizieren, in ihrer Anzahl begrenzt, anspruchsvoll, globaler Natur, universell anwendbar sein und sich auf prioritäre Handlungsfelder fokussieren sollen.

Was wie die Quadratur des Kreises erscheint, hat einen dynamischen internationalen Diskussions- und Konsultationsprozess ausgelöst. Dabei wurden Zwischenergebnisse produziert, die Anlass zur Hoffnung geben, dass im September 2015 auf einem Sondergipfel im Rahmen der Generalversammlung der VN eine ambitionierte neue Entwicklungsagenda beschlossen wird, die Armuts- und Hungerbekämpfung mit dem Schutz der natürlichen Ressourcen und dem Erhalt der biologischen Vielfalt zusammenbringt und die – anders als die MDGs – global ausgerichtet sein wird, damit sie für alle Länder gilt.

Im Dezember 2014 veröffentlichte VN-Generalsekretär Ban Ki-moon seinen so genannten Synthesebericht, in dem er die Ergebnisse der bisherigen Konsultations- und Verhandlungsprozesse zusammenfasst und eigene Vorschläge macht [109]. Er geht in seinem Bericht sowohl auf die Empfehlungen eines von ihm beauftragten »High-level Panel of Eminent Persons« ein, dem unter der Federführung des britischen Premiers David Cameron, des indonesischen Präsidenten Susilo Bambang und der Präsidentin Liberias Ellen Johnson Sirleaf u. a. auch der ehemalige deutsche Bundespräsident Horst Köhler angehörten. Zudem nimmt der Bericht auch die Ergebnisse von Konsultationsprozessen auf, die die VN in verschiedenen Weltregionen unter Beteiligung der Zivilgesellschaft selbst durchgeführt haben. Auch auf die Empfehlungen eines von den VN eingesetzten Expertengremiums zur Finanzierung nachhaltiger Entwicklung (Intergovernmental Committee of Experts on Sustainable Development Financing) sowie einer ebenfalls von den VN beauftragten Beratergruppe zur Verbesserung der Datenerhebung bezüglich nachhaltiger Entwicklung (Independent Expert Advisory Group on the Data Revolution for Sustainable Development) wird hingewiesen.

Kernstück des Syntheseberichts von Ban Ki-moon und Grundlage für den finalen Verhandlungsprozess, der Ende Januar 2015 in New York begonnen hat und im September des gleichen Jahres mit der Verabschiedung der neuen Entwicklungsagenda seinen Abschluss finden soll, ist jedoch der Bericht einer Offenen Arbeitsgruppe zur Ausarbeitung von Zielen für nachhaltige Entwicklung (Open Working Group on Sustainable Development Goals, OWG), die im Herbst 2012 von der VN-Generalversammlung eingesetzt wurde. Diese OWG bestand aus 30 Staaten bzw. Stimmrechtsgruppen, in denen insgesamt 70 Länder involviert waren. Deutschland teilte sich mit Frankreich und der Schweiz einen Sitz bzw. eine Stimme.

In ihrem im Juli 2014 vorgelegten Abschlussbericht [110] schlägt die OWG 17 universelle Oberziele für eine nachhaltige Entwicklung vor, die in insgesamt 169 Unterzielen konkretisiert werden.

Nachhaltige Entwicklungsziele »Sustainable Development Goals« (SDGs)

(Vorschlag der Open Working Group und Grundlage für den Verhandlungsprozess im Rahmen der Vereinten Nationen)

  1. Armut in jeder Form und überall beenden.
  2. Den Hunger beenden, Ernährungssicherheit und eine bessere Ernährung erreichen und eine nachhaltige Landwirtschaft fördern.
  3. Ein gesundes Leben für alle Menschen jeden Alters gewährleisten und ihr Wohlergehen fördern.
  4. Inklusive, gerechte und hochwertige Bildung gewährleisten und Möglichkeiten des lebenslangen Lernens für alle fördern.
  5. Geschlechtergerechtigkeit und Selbstbestimmung für alle Frauen und Mädchen erreichen.
  6. Verfügbarkeit und nachhaltige Bewirtschaftung von Wasser und Sanitärversorgung für alle gewährleisten.
  7. Zugang zu bezahlbarer, verlässlicher, nachhaltiger und zeitgemäßer Energie für alle sichern.
  8. Dauerhaftes, inklusives und nachhaltiges Wirtschaftswachstum, produktive Vollbeschäftigung und menschenwürdige Arbeit für alle fördern.
  9. Eine belastbare Infrastruktur aufbauen, inklusive und nachhaltige Industrialisierung fördern und Innovationen unterstützen.
  10. Ungleichheit innerhalb von und zwischen Staaten verringern.
  11. Städte und Siedlungen inklusiv, sicher, widerstandsfähig und nachhaltig machen.
  12. Für nachhaltige Konsum- und Produktionsmuster sorgen.
  13. Umgehend Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels und seiner Auswirkungen ergreifen (in Anerkennung der Tatsache, dass die UNFCCC das zentrale internationale, zwischenstaatliche Forum zur Verhandlung der globalen Reaktion auf den Klimawandel ist).
  14. Ozeane, Meere und Meeresressourcen im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung erhalten und nachhaltig nutzen.
  15. Landökosysteme schützen, wiederherstellen und ihre nachhaltige Nutzung fördern, Wälder nachhaltig bewirtschaften, Wüstenbildung bekämpfen, Bodenverschlechterung stoppen und umkehren und den Biodiversitätsverlust stoppen.
  16. Friedliche und inklusive Gesellschaften im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung fördern, allen Menschen Zugang zur Justiz ermöglichen und effektive, rechenschaftspflichtige und inklusive Institutionen auf allen Ebenen aufbauen.
  17. Umsetzungsmittel stärken und die globale Partnerschaft für nachhaltige Entwicklung wiederbeleben.

Quelle: Bericht der Bundesregierung (2014): [Eine Agenda für den Wandel zu nachhaltiger Entwicklung weltweit], Berlin, S. 5

Die 169 Unterziele, die im OWG-Bericht vorgeschlagen werden, sind von höchst unterschiedlicher Qualität. Während sie bei den klassischen Entwicklungszielen, die auch schon in den MDGs enthalten waren, ehrgeizige mess- und überprüfbare Größen und Zeitziele benennen – etwa die vollständige Überwindung des Hungers bis 2030 oder den kostenlosen Zugang zu Grund- und Sekundarschulen für alle Mädchen und Jungen dieser Welt bis 2030 –, so sind bei vielen neuen Zielen die Unterziele recht allgemein gehalten. Dies gilt etwa beim Schutz der natürlichen Ressourcen, dem Erhalt der biologischen Vielfalt, im Blick auf nachhaltige Konsum- und Produktionsmuster sowie auf Frieden, Gerechtigkeit und gute Regierungsführung. Es ist erforderlich, im weiteren Verhandlungsprozess weitere Konkretisierung zu erzielen. Es handelt sich bei einigen der neuen Ziele und Unterziele eher um unverbindliche Absichtserklärungen als um genauer beschriebene Vorhaben, deren Umsetzung überprüfbar wäre.

Die Aufnahme einiger Ziele und Unterziele, die hoch umstritten waren und sind, in den einstimmig beschlossenen Abschlussbericht der OWG ist beachtlich. Sowohl gegen die Aufnahme von Ziel 5 (Geschlechtergerechtigkeit und Selbstbestimmung für alle Frauen und Mädchen erreichen) als auch gegen die Ziele 12 (für nachhaltige Konsum- und Produktionsmuster sorgen) und 16 (friedliche und inklusive Gesellschaften im Sinne einer nachhaltigen Entwicklung fördern, allen Menschen Zugang zur Justiz ermöglichen und effektive, rechenschaftspflichtige und inklusive Institutionen auf allen Ebenen aufbauen) kam es zu erheblichen Widerständen. Das größte Tauziehen gab es jedoch um Ziel 10 (Ungleichheit innerhalb und zwischen Staaten verringern), das Umverteilung anvisiert und im Unterziel 10.1 sogar eine messbare Größe und ein Zeitziel vorgibt, nämlich dass in jedem Land die Einkommen der unteren 40 Prozent bis 2030 stärker ansteigen sollen als das Durchschnittseinkommen.

Bei der Formulierung des Unterziels 17.19 scheint der Streit um die Frage durch, wie wirtschaftlicher Fortschritt und Wohlstand gemessen werden kann. Hier hat man sich in der OWG auf den Kompromiss verständigt, dass Initiativen zu fördern sind, die neue Maßeinheiten bzw. Messgrößen entwickeln, mit denen Fortschritte in nachhaltiger Entwicklung in Ergänzung der Ermittlung des Bruttonationalprodukts gemessen werden können.

Gemessen an dem, was nötig wäre, um wirklich einen Paradigmenwechsel einzuleiten, ein neues Entwicklungsverständnis zu etablieren und starke Impulse für eine sozial-ökologische Transformation zu einer weltweiten menschenrechtsbasierten nachhaltigen Entwicklung zu geben, gehen die Vorschläge der OWG nicht weit genug.

Auch ist die konsequente Verzahnung von Entwicklungs- und Umweltagenda nur bei einigen Zielen gelungen und der Menschenrechtsansatz nur schwach ausgeprägt.

Allerdings gemessen an dem, was bei den existierenden Machtverhältnissen und Blockadehaltungen vieler Staatenvertreter in internationalen Verhandlungsprozessen zurzeit möglich ist, stellt der OWG-Bericht eine bemerkenswerte Überraschung dar und weist in die richtige Richtung. Das Ambitionsniveau der klassischen Entwicklungsziele ist gegenüber den alten, 2015 auslaufenden MDGs gesteigert worden. Hinzugekommen sind weitere wichtige Ziele, die den Schutz der Ozeane, der Wälder, der Bodenfruchtbarkeit, der biologischen Vielfalt und des Klimas betreffen, aber auch die Überwindung von Ungleichheit, den Aufbau sozialer Sicherungssysteme, gute Regierungsführung, den Zugang zu Justiz, Rechenschaftspflichten, Überwindung von Gewalt und Korruption. Auch wenn diese neuen Ziele teilweise recht allgemein gehalten sind – das war der Preis dafür, dass sie von vielen Staaten bzw. Stimmrechtsgruppen in der OWG überhaupt akzeptiert wurden –, so stehen sie nun zumindest auf der Agenda, und alle Staaten, die sich dazu bekannt haben, können der Frage nicht mehr ausweichen, was sie zur Erreichung dieser Ziele zu tun gedenken.

Es ist nicht zu erwarten, dass Ende September 2015 auf dem Sondergipfel im Rahmen der VN-Generalversammlung eine neue Entwicklungsagenda beschlossen wird mit Zielen (SDGs), die über die Empfehlungen der OWG hinausgehen. Eher ist zu befürchten, dass in dem bereits begonnenen Verhandlungsprozess der zwar als Verhandlungsgrundlage akzeptierte OWG-Bericht unter Druck gerät und an mehreren Stellen ausgedünnt oder verwässert wird. Die Europäische Union mit Ausnahme von Großbritannien und Malta sowie die große Mehrheit der Entwicklungs- und Schwellenländer halten jedoch am OWG-Bericht fest und wollen das Paket nicht mehr aufschnüren. Streit wird es dennoch um einige Unterziele und vor allem um den Umsetzungs- und Überprüfungsmechanismus geben. Denn sollten die Ziele, so wie sie von der OWG vorgeschlagen wurden, konsequent umgesetzt werden, hätte das für viele Staaten enorme Konsequenzen. Beispielsweise müssten die Industrienationen ihren Ressourcenverbrauch erheblich senken, damit bei Beachtung der planetarischen Grenzen für die ärmsten Länder noch »Luft« für eine industrielle Entwicklung bliebe. Und die konsequente Beachtung des Ziels zur Überwindung von Ungleichheit würde sehr viele Staaten zwingen, Umverteilungsprozesse von oben nach unten zu initiieren.

Es wird entscheidend darauf ankommen, dass sich alle Staaten – Entwicklungsländer wie Industrienationen – dazu verpflichten, nationale Aktionspläne zur Umsetzung der SDGs auszuarbeiten, Rechenschaft über die Einhaltung dieser Pläne abzulegen und Fortschritte von unabhängigen Institutionen, möglichst unter Einbeziehung der Zivilgesellschaft, überprüfen zu lassen.

Die neue Entwicklungsagenda, die im Herbst 2015 beschlossen werden soll, wird aber nicht nur aus den SDGs bestehen, sondern ebenso aus einer umfangreichen Deklaration sowie aus Vereinbarungen zur Umsetzung, Überprüfung und Finanzierung der neuen Ziele.

Wichtige Weichen für den SDG-Prozess, aber auch für die Klimaverhandlungen und die Klimakonferenz im Dezember 2015 (COP 21) in Paris werden auf der Weltkonferenz zur Entwicklungsfinanzierung gestellt, die vom 13. bis 16. Juli 2015 in Addis Abeba stattfindet. Ohne starke Signale der Industrienationen, ihre Zusagen in der Entwicklungs- und Klimafinanzierung auch einzuhalten, wird es nur wenig Bewegung in den Reihen der Schwellen- und Entwicklungsländer geben. Zwischen allen drei großen Konferenzen des Jahres 2015 – Addis Abeba, New York und Paris – gibt es Wechselwirkungen. Kommt es zu einem Scheitern in Addis Abeba, dann stehen auch der SDG-Gipfel in New York und die Klimakonferenz in Paris unter einem schlechten Stern.

In dem Synthesebericht von VN-Generalsekretär Ban Ki-moon, der auf alle Konferenzen und die enormen Herausforderungen des Schlüsseljahrs 2015 eingeht, ist von der Notwendigkeit einer Transformation die Rede, von einem Paradigmenwechsel, von Veränderungsprozessen, die es in allen Ländern geben muss, von einer stärkeren Beachtung der Verletzlichsten in allen Gesellschaften, von einer menschenrechtsbasierten nachhaltigen Entwicklung, von einer stärkeren Regulierung der internationalen Finanzmärkte, von mehr Steuergerechtigkeit und notwendiger Umverteilung sowie von mehr statt von weniger Spielräumen und Beteiligungsrechten der Zivilgesellschaft. All das, was für ein neues Entwicklungsverständnis wichtig ist, für das sich die Kammer der EKD für nachhaltige Entwicklung in dieser Studie stark macht, klingt im Synthesebericht des VN-Generalsekretärs an, bleibt aber noch sehr vage. Die tieferen Ursachen der beklagten Fehlentwicklungen werden kaum benannt und neben allen Beteuerungen, dass ein Paradigmenwechsel notwendig sei (»business as usual is not an option«), wird das Wachstumsparadigma nur sehr vorsichtig in Frage gestellt und der trügerischen Hoffnung Vorschub geleistet, durch neue Technologien Wirtschaftswachstum und Einhaltung der planetarischen Grenzen in Einklang bringen zu können.

Die VN sind nur so stark und zukunftsfähig, wie ihre Mitglieder es zulassen. Der VN-Generalsekretär ist zu Kompromissen gezwungen, um auf Ergebnisse hinzuwirken, die von allen Staaten akzeptiert werden. Deshalb ist auch der Synthesebericht von Ban Ki-moon nicht frei von Widersprüchen und Inkohärenzen. Dennoch klingt in ihm der notwendige Paradigmenwechsel an, und wenn die im Herbst 2015 zu beschließende neue Entwicklungsagenda nicht weit hinter das Ambitionsniveau des OWG-Berichts zurückfällt, liegt im SDG-Prozess die große Chance, weltweit einem neuen Entwicklungsverständnis näher zu kommen.

Die Kammer der EKD für nachhaltige Entwicklung plädiert deshalb dafür, den Prozess zur Erarbeitung und Umsetzung einer neuen Entwicklungsagenda sehr ernst zu nehmen sowie die darin liegenden Chancen zu erkennen und zu nutzen. Dazu gehört, sich auf allen Ebenen für ehrgeizige, umfassende, möglichst konkrete und universelle SDGs einzusetzen, die keinesfalls unter dem Ambitionsniveau des OWG-Berichts liegen dürfen, ebenso wie für einen wirkungsvollen Umsetzungs- und Überprüfungsmechanismus, der alle Länder in die Pflicht nimmt, nationale Aktionspläne zur Umsetzung der SDGs auszuarbeiten. In Deutschland soll dies u. a. durch eine Überarbeitung der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie geschehen. Die Ankündigung der Bundesregierung, für den Fortschrittsbericht 2016 zur nationalen Nachhaltigkeitsstrategie eine Weiterentwicklung der Ziele und Indikatoren vorzusehen, die die Ziele der Post-2015-Agenda einbezieht, ist sehr zu begrüßen. Dabei wird es aus Sicht der Kammer der EKD für nachhaltige Entwicklung auch darauf ankommen, die nationale Nachhaltigkeitsstrategie deutlicher als Beitrag Deutschlands zu einer global nachhaltigen Entwicklung zu verorten und die internationale Dimension nationaler Nachhaltigkeitspolitik hervorzuheben. Dabei muss auf alle Ziele eingegangen werden, die im September beschlossen werden.

Der SDG-Prozess kann und sollte dazu genutzt werden, in Deutschland breite Allianzen zu bilden – weit über die Entwicklungs- und Umwelt-Community hinaus –, um eine sozial-ökologische Transformation einzufordern und dafür konkrete Vorschläge auszuarbeiten und in die Politik zu tragen. Den Kirchen und kirchlichen Werken kommt hier eine besondere Aufgabe zu: Sie sollten Menschen inspirieren, zu breiten gesellschaftlichen Bündnissen beizutragen, ihr eigenes Handeln und Wirtschaften an den SDGs auszurichten und den konstruktiv-kritischen Dialog mit Politik und Wirtschaft zu fördern.

5.6. Neuorientierung der internationalen Zusammenarbeit für eine sozial-ökologische Transformation

Unsere heutige Welt ist mit der Einteilung in einen hoch entwickelten Norden und einen armen Süden nicht mehr angemessen beschrieben. Eine Reihe von Entwicklungsländern hat wirtschaftlich aufgeholt, technologische und wissenschaftliche Kapazitäten entwickelt und auch damit begonnen, in Bildungs-, Gesundheits- und andere Sozialpolitiken zu investieren. Damit stehen ihnen auch vermehrt eigene finanzielle Ressourcen für die Verringerung von Armut und Ungleichheit zur Verfügung. Dieses Bild trifft aber nicht auf alle Entwicklungsländer zu, insbesondere in Subsahara-Afrika gibt es erhebliche Unterschiede zwischen einzelnen Ländern, ebenso in Südasien. Am schlechtesten schneiden diejenigen ab, die von Konflikten und instabilen politischen Verhältnissen geprägt sind. Das Ziel, Hunger und Armut weltweit zu überwinden und auf den Pfad einer ökologisch tragfähigen Entwicklung einzuschwenken, kann unter Bedingungen, die von anhaltenden Gewaltkonflikten, Fragilität und Rechtlosigkeit geprägt sind, kaum gelingen. Derzeit gelten fast 40 Staaten als »fragile« oder gar gescheiterte Staaten. Rund 1,5 Milliarden Menschen sind betroffen.

Um eine lebenswerte Zukunft für alle Menschen zu sichern, sind nicht weniger Investitionen in die Kooperation mit Entwicklungsländern erforderlich, wie der Blick auf die gestärkte Position einer Reihe von Ländern nahelegen könnte. Vielmehr sind stärkere Investitionen als bisher und neuartige Kooperationsbeziehungen notwendig. Öffentliche Handlungsspielräume für eine Politik, die eine nachhaltige Verbesserung der Lebensbedingungen für die Mehrheit der Bevölkerung ermöglicht, müssen wachsen, in Industrie- wie Entwicklungsländern, und vor Gefährdungen geschützt werden. Um dies zu erreichen, ist globale Zusammenarbeit erforderlich: für eine Gestaltung der globalen Regelwerke für Finanz-, Handels- und Investitionsflüsse, die eine sozial- und umweltverträgliche Entwicklung befördern und z. B. illegale Finanzströme beschränken, für die Bekämpfung der Ursachen unumkehrbarer katastrophaler Umweltveränderungen, für die Sicherung des Friedens und der Menschenrechte, für die wissenschaftliche Erarbeitung technischer und sozialer Innovationen.

Industrie- wie Entwicklungsländer sind gefordert, sich in ihren Wirtschafts- und Sozialpolitiken nicht nur am Ziel der Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen und der sozialen Gerechtigkeit zu orientieren, sondern auch die Tragfähigkeitsgrenzen der Erdökosysteme zu berücksichtigen: Es geht um eine Entwicklung »innerhalb planetarer Grenzen«, wie es das Sustainable Development Solutions Network (SDSN) ausgedrückt hat [111]. Dies heißt, den Trend zu mehr globalem Wohlstand so zu gestalten, dass keine Menschen ausgeschlossen werden und die breite Bevölkerung nicht nur in naher Zukunft, sondern auch auf lange Sicht über bessere Lebensbedingungen verfügen kann. Die reichen Länder sollten dabei die Verantwortung übernehmen und vorangehen: weil sie nach wie vor den im Durchschnitt höchsten konsumbedingten Ressourcenverbrauch aufweisen, weil sie historisch gesehen den absolut höchsten Verbrauch haben, weil es schwer vermittelbar ist, dass anderen Gesellschaften das verwehrt würde, was hiesige Gesellschaften seit Jahrzehnten beansprucht haben, und schließlich, weil ihnen nach wie vor eine gewisse Vorbildfunktion zugeschrieben wird.

Auch die aufstrebenden großen Entwicklungsländer werden jedoch in naher Zukunft mehr Verantwortung in diesem umfassenden Sinne übernehmen müssen, d. h. für ihre eigene Bevölkerung wie für die Unterstützung schlechter gestellter Länder, für globale Gemeingüter in Gegenwart und Zukunft. Die Bereitschaft dazu wächst, wie die entstehenden Fonds und Agenturen für die bilaterale Entwicklungszusammenarbeit Chinas, Brasiliens, Mexikos, Indiens, Thailands und Südafrikas belegen [112]. Diese Agenturen stehen – wie in vielen westlichen Geberländern – auch im Kontext außenpolitischer und außenwirtschaftlicher Interessenlagen und müssen die Entwicklungsorientierung ihres Handelns präzisieren und verteidigen. Die Bereitschaft, sich an der Lösung globaler Problemlagen zu beteiligen, wird in diesen Ländern in dem Maße gesteigert werden können, in dem die klassischen Geber anerkennen, dass auch ihre Entwicklungszusammenarbeit sich verändern und stärker auf reziproke Kooperationsmuster übergehen muss, ohne die Unterstützung der ärmsten Länder zu vernachlässigen.

Der Ansatz der einstigen »Entwicklungshilfe«, die sich als Hilfe zur Behebung eines wahrgenommenen Mangels begriff, ist, jedenfalls in der konzeptionellen Selbstbeschreibung der staatlichen Entwicklungspolitik in Deutschland und der Europäischen Union, längst einem Verständnis der internationalen Kooperation und Partnerschaft gewichen. Dieser Wandel spiegelt auch die Einsicht aus mehreren Jahrzehnten Entwicklungspolitik wider, dass menschliche Entwicklung von außen zwar unterstützt werden kann (und muss), diese Unterstützung aber nicht erfolgreich ist, wenn sie im Land nicht von eigenständigen politischen Prozessen und gesellschaftlichen Koalitionen getragen wird. Internationale Kooperation kann nachhaltige Entwicklung befördern, indem sie nationale Such- und Veränderungsprozesse vor Ort tatkräftig unterstützt und gleichzeitig – im Sinne einer globalen Strukturpolitik – die internationalen Rahmenbedingungen dafür verbessert.

Bei der inhaltlichen und instrumentellen Erneuerung der Kooperationsbeziehungen mit Entwicklungsländern ist es wesentlich, stärker als bisher zwischen den Kooperationsinteressen, Bedürfnissen und Kapazitäten unterschiedlicher Ländergruppen zu differenzieren:

  • Niedrigeinkommensländer werden auch in Zukunft auf Mittel der Entwicklungszusammenarbeit angewiesen sein, um ihre öffentlichen Ausgaben im Bereich von Gesundheit und Bildung zu finanzieren, und sie werden dafür auch Beratungsleistungen nachfragen, um eigene schwache Kapazitäten zu stärken. Dafür kann das vorhandene Instrumentarium der Entwicklungszusammenarbeit genutzt werden; Reformen für die Verbesserung der Wirksamkeit müssen jedoch weiterhin auf Geber- und Nehmerseite vorangetrieben werden [113]. Sollten sich gegenwärtige Trends fortsetzen, wird die Zahl dieser Länder aber weiter abnehmen.
  • Staaten, die von gewalttätig ausgetragenen Konflikten gekennzeichnet sind, von schwachen staatlichen Institutionen und einer geringen politischen Legitimität, benötigen Unterstützung, um die Grundversorgung der Bevölkerung zu gewährleisten und um – nach Beendigung des Konfliktes – Aufbauarbeit zu leisten. Hier können die vorhandenen Instrumente der humanitären Hilfe und der entwicklungsfördernden und strukturbildenden Übergangshilfe genutzt werden. Wie jedoch Post-Konfliktländer beim Aufbau leistungsfähiger sowie legitimer politischer Institutionen unterstützt werden können, die Konflikte friedlich bearbeiten, bleibt ein wichtiges Lernfeld der internationalen Zusammenarbeit. Die Zahl dieser Länder nimmt gegenwärtig zu; je nach Länge und Tiefe des Konfliktes können Länder aus dieser Gruppe auch in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung erheblich zurückgeworfen werden.
  • Die wachsende Zahl von Ländern mit mittlerem Einkommen verfügen über zunehmende Potenziale, ihre öffentlichen Eigenmittel zu steigern und für die Armutsverringerung, öffentliche und wirtschaftliche Infrastruktur, die Bildungs-, Gesundheits- und Umweltpolitik einzusetzen. Internationale Zusammenarbeit ist für diese Länder vor allem dort wichtig, wo bei anderen Ländern besondere Lösungskompetenzen vermutet werden und sie wenden sich an die fachlich zuständigen Ressorts und eher weniger an Entwicklungsministerien.

Mittelfristig werden in der Kooperation mit Ländern mit mittlerem Einkommen und mit Schwellenländern nicht mehr deren nationale Entwicklungsbedarfe im Vordergrund stehen, sondern das gemeinsame Interesse, innovative Lösungen für Probleme zu erarbeiten, die den kooperierenden Ländern gemeinsam sind. Das können gemeinsame Probleme sein, wie z. B. der Umbau der sozialen Sicherung in einer alternden Gesellschaft oder die Modernisierung von Bildungs- und Ausbildungssystemen an eine digitalisierte Wirtschaft. Es können auch Probleme sein, die internationales kollektives Handeln erfordern, wie die Verringerung der chemischen Verschmutzung, die Förderung der Kreislaufwirtschaft und der Aufbau emissionsarmer und beschäftigungsintensiver Wirtschaftsbranchen.

Für diesen Typus der Kooperation wird es notwendig sein, neue Instrumente zu entwickeln, die horizontale, reziproke Kooperations- und Lernprojekte zwischen Industrie- und Entwicklungsländern ermöglichen und finanzieren. Das heißt, dass Kooperation nicht mehr vor allem im Süden stattfinden wird, sondern auch im Norden.

Über diesen neuen Perspektiven dürfen aber bereits eingegangene Verpflichtungen der »alten Entwicklungszusammenarbeit« nicht vergessen werden: Für den Schutz und die Bereitstellung globaler Gemeinschaftsgüter (wie den Klima- und den Biodiversitätsschutz) werden nicht weniger, sondern mehr Mittel benötigt werden; ebenso für die Unterstützung der armen Länder bei der Anpassung an den Klimawandel.

Die Entwicklungszusammenarbeit wird einen erheblichen Bedeutungsgewinn erfahren, wenn sie sich zur Bewältigung dieser Aufgaben als Instrument globaler Politikgestaltung begreift. Dies bedeutet nicht, ihre advokatorische Rolle für die Verbesserung der Situation der sozial Schlechtestgestellten preiszugeben, sondern ihren Auftrag auszuweiten und neue reziproke Kooperationsinstrumente einzuführen, die diesen neuen globalen Herausforderungen gerecht werden.

Eine derartige Veränderung wird durch die laufenden Debatten zur neuen Post-2015-Agenda gefördert, denn hier geht es nicht mehr um nachholende Entwicklung, sondern um gemeinsame Prioritäten für transformatives politisches Handeln in allen Ländern, auf nationaler und internationaler Ebene. Das ist die Bedeutung universaler Ziele für nachhaltige Entwicklung. Der ambitionierte Zielekatalog SDGs, den die Open Working Group der VN in diesem Sinne im Juli 2014 vorgeschlagen hat, ist einer der zentralen Bausteine für die nunmehr laufenden zwischenstaatlichen Verhandlungen, die im September 2015 mit der Verabschiedung einer Post-2015-Agenda für nachhaltige Entwicklung abgeschlossen werden sollen [114]. Die Debatte über die Verpflichtung, gemeinsam auf allen Ebenen zu handeln, um Lösungen für gemeinsame und für kollektive Probleme zu finden, wird aber begonnen haben, und was dafür zu tun ist, wird auf dem Tisch liegen, auch wenn die Staaten diese Vorschläge mit unterschiedlich starkem Engagement aufnehmen.

Mittelfristig bedeutet dies, auf staatlicher Ebene die vorhandenen Institutionen und Strukturen der Kooperation weiterzuentwickeln [115]: Die Kammer der EKD für nachhaltige Entwicklung spricht sich dafür aus, das Entwicklungsministerium stärker auf die Umsetzung der internationalen Zusammenarbeit für nachhaltige Entwicklung auszurichten und das Bundeskanzleramt in die Pflicht zu nehmen, für mehr Politikkohärenz im Sinne einer menschenrechtsbasierten nachhaltigen Entwicklung zu sorgen. Die Strukturen der Politikkoordination müssen gestärkt werden, um Widersprüche zwischen innen- und außengerichteten Politiken und Spannungen – vor allem mit Blick auf kurzfristig konkurrierende Ziele – bearbeiten zu können. Dazu wäre es zum Beispiel sinnvoll, den Staatssekretärsausschuss für nachhaltige Entwicklung ausdrücklich mit der Beachtung der Managementregeln für Nachhaltigkeit zu beauftragen, die in der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie festgehalten sind und Nachhaltigkeitsbedingungen für politische Entscheidungen in einzelnen Handlungsbereichen formulieren [116]. Zudem ist es notwendig, das Instrumentarium der internationalen politischen Kooperation zu verbessern und neue Instrumente für den Schutz der globalen Gemeinschaftsgüter zu schaffen.

Auch international werden institutionelle Änderungen in der Kooperationsarchitektur erforderlich sein: Das Mandat von VN-Organisationen und Programmen wird auf die Industrieländer ausgeweitet werden müssen, die Entscheidungsstrukturen von IWF und Weltbank und auch der regionalen Entwicklungsbanken werden den Entwicklungsländern mehr Gewicht geben müssen und die Regionen anders aufgeteilt und repräsentiert sein.

Diese Situation des Wandels hat auch Konsequenzen für die Kirchen, die sich in folgenden Empfehlungen für ihre entwicklungspolitische und ökumenische Arbeit niederschlagen:

  • eine entschiedene Orientierung der Programme und Maßnahmen mit Partnern vor Ort an integrierten Strategien für die Armutsbekämpfung und Verbesserung menschlicher Lebensbedingungen im Rahmen der Tragfähigkeitsgrenzen der Erdökosysteme und ihrer wichtigsten Funktionskreisläufe;
  • eine aufmerksame und aktive Beobachtung und kritische Begleitung des Umbaus der Außen- und Entwicklungspolitik und anderer außenorientierter Politiken in Deutschland und der Europäischen Union sowie der relevanten internationalen Prozesse, um der Option für die Armen und der Nachhaltigkeit praktische Wirksamkeit zu verleihen;
  • die Sicherung und den Ausbau des kirchlichen finanziellen und politischen Engagements, zum Um- und Ausbau der eigenen Institutionen in Deutschland und der Ökumene und zur weiteren Verschränkung eigenen innen- und außengerichteten Handelns.

5.7. Kurswechsel in Deutschland

Im Rahmen der Umweltarbeit und der Entwicklungszusammenarbeit der letzten Jahrzehnte wurde zunehmend erkannt, dass die Arbeit in den Ländern des Globalen Südens nur dann erfolgreich sein kann, wenn sich auch der Globale Norden verändert. Die planetaren ökologischen Grenzen der Erde sind so beschaffen, dass der derzeitige Konsum- und Lebensstil im Globalen Norden nicht auf die ganze Erde übertragen werden kann. Das bedeutet, dass dieser Konsum- und Lebensstil nicht weiter als Vorbild, als Entwicklungsmuster dienen darf – so kurzfristig attraktiv er auch sein mag. Dies aber kann nur erreicht werden, wenn die früh industrialisierten Länder selbst zeigen, dass sie sich auf den Weg in eine klimaverträgliche Gesellschaft machen und das bisherige ressourcenintensive Entwicklungsmodell der Industriegesellschaft überwinden. Nur durch eigenes Vorbild besteht die Chance, den Ländern des Südens zu verdeutlichen, dass sie durch bloße Adaption des Entwicklungsweges der Industriegesellschaften einen kostspieligen und gefährlichen Umweg beschreiten.

Um ein anderes Entwicklungsmodell in Deutschland verfolgen zu können, das diesen Erfordernissen Rechnung trägt, ist es vor allem notwendig, eine breite Diskussion über ein angemessenes Verständnis von Wohlfahrt und Wachstum in unserem Land zu führen (vgl. Kap. 2.2). Dabei geht es insbesondere auch um die Bedeutung, die ein »grünes Wachstum« oder aber Post-Wachstumsstrategien zukünftig spielen sollen. Es wird darauf ankommen zu verdeutlichen, dass Post-Wachstum nicht notwendigerweise mit Verzicht auf Lebensqualität verbunden sein muss, sondern auch eine Steigerung des menschlichen Wohlergehens durch bewusste Rücknahme von Produktion und Konsum bedeuten kann.

In den letzten Jahrzehnten haben sich Politik, Medien und Öffentlichkeit sehr stark an den Wachstumsraten des BIP orientiert, um Wohlstand und Wohlfahrt in der Gesellschaft einzuschätzen [117]. Aber dies führt gerade in reichen Ländern zunehmend zu fragwürdigen politischen Entscheidungen. Nicht nur, dass die Zuwächse des BIP sich bei wachsenden Bevölkerungsgruppen gar nicht mehr in einer Verbesserung ihrer Lebensqualität niederschlagen – Anstrengungen zur Steigerung des BIP gehen nach wie vor sehr oft zu Lasten der Umwelt und führen zu einer Zunahme des Ressourcenverbrauchs. Auch bei Strategien, die sich auf ein »grünes Wachstum« konzentrieren, wird häufig ausgeblendet, dass ein ständiges »Mehr« an Gütern kein Ziel sein kann, weil es Sättigungsgrenzen gibt und weil Effizienzgewinne oft zu Verbrauchssteigerungen an anderen Stellen führen [118]. Eine zukunftsfähige Gesellschaft könnte dagegen eine »Ökonomie des Genug für alle« anstreben, die Suffizienzgesichtspunkten und damit der Frage des rechten Maßes den Vorrang vor Steigerungs- und Effizienzzielen einräumt [119]. Eine solche Ökonomie wiederum erfordert ein gesellschaftliches Berichterstattungssystem, das als Ergänzung der volkswirtschaftlichen und umweltökonomischen Gesamtrechnung Maßstäbe an die Hand gibt, die eine Orientierung am Leitbild der Nachhaltigkeit dann auch als Erfolg ausweisen.

Von großer Bedeutung ist dabei die Frage, wie eine suffizienzorientierte Ökonomie die wirtschaftliche Teilhabe der gesamten Bevölkerung gewährleisten kann. Es zeigt sich ohnehin, dass durch eine herkömmliche Politik des Wirtschaftswachstums Arbeitslosigkeit und Prekarisierung nicht überwunden werden können. Im Zuge der Steigerung der Arbeitsproduktivität durch technologische Innovationen und der weiteren Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft dürften Erwerbsarbeitsplätze in Zukunft immer weniger werden. Ein ökologischer Umbau der Industriegesellschaft hat daher zwangsläufig auch sozialpolitische Implikationen. Er muss mit einer gerechteren Verteilung von Arbeit und Einkommen und mit der Entkopplung von sozialer Sicherheit und Erwerbseinkommen einhergehen [120].

Ein Kurswechsel in Deutschland bedarf eines Zusammenspiels dreier verschiedener Elemente:

  • die Verständigung über zukunftsfähige Ziele in unserer Gesellschaft und die unermüdliche Arbeit im Bildungsbereich, um die Wissensgrundlagen zu verbessern, die eine solche Verständigung überhaupt erst möglich machen;
  • die Förderung und das Engagement in lokalen und regionalen Projekten zum Aufbau einer zukunftsfähigen Ökonomie, die dauerhaft in den Grenzen der ökologischen Tragfähigkeit der jeweiligen Regionen ist und nicht von einem permanenten Wachstum abhängig ist (z. B. Energiegenossenschaften, »transition towns«, neue Formen der solidarischen Landwirtschaft und des »urban gardenings«, Tauschringe, Komplementär-Währungssystem oder »share economies«);
  • eine nationale und internationale Politik, die ein Umsteuern auf das Leitbild der Nachhaltigkeit fördert und nicht erschwert. Hier sind zumindest die folgenden zentralen Politikbereiche – neben der bereits genannten Veränderung des gesellschaftlichen Berichterstattungssystems – unverzichtbar:
    • die konsequente Umsetzung der Energiewende und eine Fortsetzung einer Klimapolitik, die an anspruchsvollen Zielsetzungen – Reduktion der Treibhausgasemissionen um 40 Prozent bis 2020 und um 85-90 Prozent bis 2050, gemessen am Basisjahr 1990 – ebenso festhält wie am Ausstieg aus der Atomenergie;
    • die Umsetzung eines konsistenten Ressourcenmanagements;
  • eine Weiterführung des Umbaus des Steuersystems weg von einer Belastung des Faktors Arbeit und hin zu einer Belastung des Verbrauchs von Energie und Ressourcen;
  • die Optimierung der Recyclingfähigkeit und die Reparaturfreundlichkeit u. a. durch schadstoffarme Werkstoffauswahl, Vermeidung von bestimmten Beschichtungen, Werkstoffminimierung, Lebensdauererhöhung, Demontagefreundlichkeit, Bauteile- und Gerätekennzeichnung, Wiederverwendung einzelner Bauteile, Reduktion der Zahl und Größe der Bauteile, Werkstoffkennzeichnung, Minderung der Werkstoffvielfalt, Vermeidung von Verpackungen;
  • den Ausbau neuer Formen der Bürgerbeteiligung;
  • die Einlösung der Verpflichtungen zur nationalen und globalen Entwicklungsfinanzierung.

Der Kurswechsel bedarf eines intensiven Zusammenspiels zwischen geänderten Einstellungen der Menschen, Initiativen auf lokaler und regionaler Ebene und einer diese fördernde nationale Politik. Ob dies letztlich zu einem (moderaten) Wachstum oder einem Rückgang des BIP führt, ist von untergeordneter Bedeutung, denn mit dem Kurswechsel ändert sich auch der Maßstab für Erfolg und Misserfolg einer Ökonomie. Eine zukunftsfähige Ökonomie muss nicht zwangsläufig auf eine Null-Wachstum-Ökonomie hinauslaufen. Vielmehr gilt es, gemäß dem Leitbild einer nachhaltigen Entwicklung klarer zu unterscheiden, welche Formen sozialer und wirtschaftlicher Aktivität wachsen und welche stattdessen schrumpfen sollten: »Wachsen kann und soll alles, was zugleich der Nachhaltigkeit und der Lebensqualität dient. Und schrumpfen wird, was die Übernutzung von Ressourcen und Senken sowie die Risikoverlagerung begünstigt oder den sozialen Zusammenhalt beschädigt.« [121] Das Konzept einer ökologisch-sozialen Marktwirtschaft muss dafür als politisches Rahmenkonzept weiter ausgebaut werden. Nur innerhalb eines solchen regulativen Rahmens kann sich eine zukunftsfähige Ökonomie etablieren. Ein solcher Umbau der Industriegesellschaft muss allerdings auch in einer Weise vonstatten gehen, die negative Auswirkungen auf die Möglichkeiten und Handlungsspielräume anderer Länder, ihrerseits den Weg zu einer ökologisch verträglichen und sozial gerechten Wirtschaftsweise einzuschlagen, nicht beschneidet. In einer vernetzten Welt kann nachhaltige Entwicklung in bestimmten Regionen oder Staaten nicht allein an Maßstäben bemessen werden, die sich aus regionalen oder nationalen Kontexten ergeben, sie muss vielmehr global verträglich und mithin vereinbar mit den Bemühungen anderer Länder und Regionen sein, ihre Entwicklung zukunftsfähig zu gestalten.

EKD-Text 122 (pdf)

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