"...damit sie das Leben und volle Genüge haben sollen"

Ein Beitrag zur Debatte über neue Leitbilder für eine zukunftsfähige Entwicklung. Eine Studie der Kammer der EKD für nachhaltige Entwicklung. August 2015

2. Entwicklung neu denken

2.1. Entwicklungsleitbilder im Wandel der Zeit

Dass eine Gesellschaft ihre eigene Geschichte ebenso wie ihre Zukunft als »Entwicklung« deutet, ist alles andere als selbstverständlich. Die Vorstellung, Gesellschaften würden sich entwickeln, so wie dies Pflanzen, Tiere oder Menschen tun, war der Menschheit früherer Epochen fremd. Die Idee, den Werdegang von Gesellschaften als Entwicklung zu begreifen, entfaltete sich erst im Europa des 18. Jahrhunderts.

Die Entwicklungsidee wurde dabei biologistisch oder ökonomistisch gedeutet. Aus der Analogie des Wachstums lebender Organismen entlehnte die biologistische Entwicklungsidee vier Grundannahmen, die für nationalstaatliche Politik ebenso wie für die internationale Zusammenarbeit lange Zeit prägend sein sollten:

  • Entwicklung verläuft zielgerichtet und geht mit Wachstum und Verbesserung einher;
  • Entwicklung verläuft beständig und kontinuierlich;
  • Entwicklung vollzieht sich im Durchschreiten kumulativer Stadien;
  • Entwicklung ist unumkehrbar. [2]

Die damit verbundene Vorstellung eines linearen Fortschritts führte in Europa erstmals zu einer neuen zivilisatorischen Selbstbeschreibung, nämlich der Überzeugung, in einer Epoche zu leben, die vorausgehenden geschichtlichen Stufen überlegen ist [3]. Spätestens mit der Ausbreitung der industriellen Revolution, die in Großbritannien ihren Ausgang nahm, setzte sich zudem die Anschauung durch, auf einer Art von Stufenleiter der Weltgeschichte auch anderen Kulturkreisen gegenüber eine Vorreiterrolle einzunehmen. Darauf beruhen Vorstellungen von der Überlegenheit des »Abendlandes« und seiner weltgeschichtlichen Mission, die herangezogen wurden, um kolonialistische Praktiken zu rechtfertigen.

Der Entwicklungsbegriff setzt notwendigerweise Wertmaßstäbe voraus, ohne die geschichtliche Veränderungen gar nicht als Entwicklung interpretiert werden können. Der Theologe Ernst Troeltsch hatte dies im Zuge seiner Rekonstruktion des Entwicklungsgedankens seit der Aufklärung überzeugend herausgearbeitet [4]. Diese Wertmaßstäbe müssen in jeder Konzeption von Entwicklung transparent gemacht und gerechtfertigt werden. Nur durch Bewertungen anhand von Maßstäben können einzelne geschichtliche Ereignisse und Verläufe als Beiträge zu oder Hindernisse für »Entwicklung« bestimmt werden. Ohne Wertmaßstäbe kann auch nicht dargelegt werden, was es zu entwickeln gilt. Troeltsch war allerdings auch skeptisch, ob es einen Entwicklungsbegriff geben könne, der die gesamte Menschheit umgreift. In seiner Reflexion auf universale Entwicklungsideen warnte Troeltsch vor dem versteckten »Europäerhochmut«, der sich in solchen Entwicklungsideen niederschlagen könnte.

Das moderne Entwicklungsverständnis beansprucht demgegenüber eine universalistische Geltung und konstruiert eine Asymmetrie in Raum und Zeit zwischen mehr oder weniger entwickelten Epochen und Regionen. Es ruht zugleich auf normativen Fundamenten, die einen bestimmten Typus gesellschaftlicher Naturbeherrschung und sozialer Ordnung zum Maßstab gelingender Entwicklung machen, der eben jener Zeit seine Entstehung verdankte, in der auch das Entwicklungsdenken Einfluss gewann. Das europäische Entwicklungsdenken ist eng mit der Genese des kapitalistischen Industriesystems, das auf der Ausbeutung fossiler Ressourcen und kolonialer Räume basierte, verbunden. Im 19. Jahrhundert hat zugleich eine teilweise unheilvolle Verquickung zwischen europäischer Kolonialgeschichte und einer Praxis der Missionierung stattgefunden, die christlichen Glauben und europäisches Überlegenheitsdenken verknüpfte. Der Einfluss dieses historisch geprägten Entwicklungsleitbildes ist mancherorts bis heute wirksam und kommt auch in einigen Facetten der internationalen Entwicklungszusammenarbeit zum Ausdruck. Je deutlicher wird, dass das Modell einer auf fossilen Ressourcen gründenden Industriegesellschaft nicht zukunftsfähig ist, desto dringlicher wird die Suche nach neuen Leitbildern für den gesellschaftlichen Wandel weltweit. Auch die Grundannahmen bisheriger Wirtschaftspolitik werden fragwürdiger und machen es zunehmend wichtig, die Entwicklungszusammenarbeit an veränderten Maßstäben einer zukunftsfähigen Entwicklung auszurichten. Vor diesem Hintergrund ist zu begrüßen, dass die Staatengemeinschaft versucht, sich auf neuer Grundlage über universelle Ziele für eine sozial gerechte und umweltverträgliche wirtschaftliche Entwicklung zu verständigen.

Beginn der internationalen Entwicklungszusammenarbeit

Die asymmetrische Unterteilung der Welt in Regionen mit unterschiedlichem Entwicklungsstand und das selbstbewusste Leitbild des westlichen Industriesystems charakterisieren den Beginn der internationalen Entwicklungszusammenarbeit. Als deren Startpunkt gilt die Antrittsrede des US-Präsidenten Truman vom 20. Januar 1949, in der dieser jene Mission formulierte, die das Selbstverständnis der Entwicklungspolitik für lange Zeit leiten sollte: »Wir müssen ein neues kühnes Programm aufstellen, um die Segnungen unserer Wissenschaft und Technik für die Erschließung der unterentwickelten Weltgegenden zu verwenden.« Erstmals wurden damit zwei Drittel der Menschheit zu Bewohnern »unterentwickelter« Gebiete erklärt. Sie bedürften der Unterstützung, um den Weg einer wirtschaftlichen Entwicklung nach dem Vorbild der westlichen Welt, die sich selbst als die »entwickelte« begreift, zu beschreiten. Das normative Leitbild dieses Denkens war die kapitalistische und demokratische westliche Gesellschaft »mit einem unverkennbar amerikanischen Gesicht« [5]. Die Wertmaßstäbe waren die »Segnungen von Wissenschaft und Technik«, die von Impfprogrammen bis zu Staudammbauten reichten.

Überlagert wurden diese entwicklungsökonomischen Vorstellungen im Westen freilich von dem Ansinnen, mit den Mitteln der Entwicklungszusammenarbeit den Einfluss der Sowjetunion einzudämmen und der wachsenden ideologischen Attraktivität, die das sozialistische Modell in Teilen des Südens, vor allem in den unabhängig gewordenen ehemaligen Kolonien, erfuhr, ein westliches Konzept wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung entgegenzusetzen. Die geopolitische Konstellation des Kalten Krieges hat den Beginn der internationalen Entwicklungspolitik wesentlich geprägt. Die Unterstützung für die armen Länder wurde von West und Ost auch als Instrument zur Gewinnung von Bündnispartnern im globalen Systemwettbewerb eingesetzt.

Die Kirchen hatten sich seinerzeit gegen eine geopolitische Instrumentalisierung der staatlichen Entwicklungspolitik ausgesprochen und ihre eigenen kirchlichen Hilfsaktionen Misereor und Brot für die Welt zunächst in Abgrenzung von der interessenorientierten staatlichen Entwicklungszusammenarbeit konsequent am Ziel der Überwindung von Hunger und Armut und deren Ursachen ausgerichtet. Doch auch die

kirchliche Entwicklungszusammenarbeit war ein Kind dieser Zeit und ist zum Teil noch immer von Mustern geprägt, die damals geprägt wurden. Im Verlauf von fünf so genannten Entwicklungsdekaden haben sich die konkreten Leitbilder und Strategien von Entwicklung bei den staatlichen wie bei den kirchlichen Entwicklungsakteuren immer wieder verschoben, blieben aber in Abgrenzung wie in Annäherung aufeinander bezogen.

Kontinuität und Wandel der Entwicklungsidee in fünf Entwicklungsdekaden

In den Anfangsjahren der Entwicklungspolitik konnten die VN im Ringen zwischen Ost und West, das sie selbst politisch lähmte, zwar keine Partei ergreifen, nahmen in ihrem entwicklungsstrategischen Denken jedoch Anleihen an den entwicklungsökonomischen und modernisierungstheoretischen Modellen, wie sie vor allem in den USA entwickelt worden waren. Auf Vorschlag von John F. Kennedy wurde von der Vollversammlung der VN 1961 die erste »Entwicklungsdekade« (1961-1970) ausgerufen. Diese Dekade, die sich u. a. das ehrgeizige Ziel setzte, in den armen Ländern ein jährliches Wirtschaftswachstum von drei Prozent zu erreichen, sollte sich vor allem auf die Industrialisierung der Dritten Welt konzentrieren, in erster Linie durch den Aufbau einer Schwerindustrie und durch die Mechanisierung der Landwirtschaft. Man erhoffte sich dadurch einen »trickle down«-Effekt für die übrigen Sektoren, der letztlich die gesamte Gesellschaft mobilisieren sollte. Die entwicklungsstrategische Programmatik, die die internationale Zusammenarbeit in dieser Zeit geleitet hat, lässt sich mit den Slogans »Wachstum zuerst – Umverteilung später« und »Industrialisierung zuerst – Demokratisierung später« zusammenfassen [6]. Die Idee der Entwicklung wurde somit als nachholende Industrialisierung konzipiert. Dabei wurde vorausgesetzt, dass die Industrialisierung nach westlichen Maßstäben globalisierbar sei. Die Wertmaßstäbe von Entwicklung wurden ökonomisch gedeutet, nämlich als Wachstum der Produktion bzw. der gesamtwirtschaftlichen Wertschöpfung, durch die das Einkommen und der Konsum erhöht werden sollte. So definierte Peter Berger im Anschluss an Walt Whitman Rostow »Entwicklung« folgendermaßen: »Development may be defined as a process of ongoing economic growth by which large masses of people are moved from poverty onto an improved material standard of life.« [7] Hier wird per definitionem Wirtschaftswachstum als der leitende Maßstab von Entwicklung festgelegt.

Die rein ökonomisch orientierten Wachstumskonzepte wurden allerdings durch Modelle des sozialen Wandels erweitert, die sich der Bedeutung sozialer, psychischer und politischer Modernisierungsprozesse zuwandten und z. B. Leistungsmotivation oder Nationenbildung als wichtige entwicklungsfördernde Faktoren benannten. Bei aller Vielfalt der Teiltheorien lässt sich ein gemeinsames Modernisierungsparadigma erkennen, das durch folgende Überzeugungen charakterisiert ist:

  • »Unterentwicklung« wird als ein frühes Stadium auf einem linearen evolutionären Kontinuum interpretiert, das letztlich von allen Gesellschaften phasenverschoben durchlaufen wird; die Entwicklungsländer können somit in den Industrieländern ein Bild ihrer eigenen Zukunft sehen;

  • Grundlage gesellschaftlichen Wohlstands ist das ökonomische Wachstum durch Produktivkraftentfaltung der Landwirtschaft, Industrialisierung und die Erschließung von Massenkonsummärkten;

  • die entwicklungshemmenden Faktoren sind vor allem endogen bedingt, sie können gleichwohl durch exogene Intervention überwunden werden; gezielte Entwicklungshilfemaßnahmen sollen den internen Wandel fördern und Voraussetzungen für den »Take-off« [8] schaffen. Hierzu gehören Infrastrukturen, Rechtsstaatlichkeit, Schulbildung etc.

    Dieses Paradigma war allerdings nie unangefochten. Insbesondere in den 1970er-Jahren entstanden aber auch viele unterschiedliche Ansätze alternativer Entwicklungskonzepte, -modelle und -ideen. Insbesondere der Wettstreit zwischen Dependenztheorien und Modernisierungstheorien [9] hat den entwicklungstheoretischen Diskurs wesentlich belebt und die Weiterentwicklung des Modernisierungsparadigmas angeregt. Aus diesen Theoriekontroversen gingen auch systematische Entwürfe zu Fragen der Menschenrechte, der Verteilungsgerechtigkeit und Nachhaltigkeit hervor, die für neue Entwicklungsleitbilder, wie sie zum Beispiel im Fähigkeitenansatz zum Ausdruck kommen (vgl. Kap. 4.2), prägend waren. Dabei wurden außerdem die Hemmnisse und Barrieren diskutiert, die einer Umsetzung dieser Ansätze im Wege stehen, wie insbesondere die ökonomischen Machtverhältnisse zwischen Nord und Süd. In den stärker vom Neoliberalismus geprägten Jahrzehnten (1980-2010), in denen die Systemalternative des östlichen Staatskommunismus kollabierte und große Schwellenländer wie China marktwirtschaftliche Institutionen etablierten, blieb allerdings das skizzierte ökonomische Entwicklungsmodell vorherrschend.

    Dazu, dass gegen Ende der ersten Entwicklungsdekade das Augenmerk mehr auf die externen entwicklungshinderlichen internationalen Rahmenbedingungen gelegt wurde, hatte auch die Ökumene einen wichtigen Beitrag geleistet. Die 4. Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen (ÖRK) 1968 in Uppsala mahnte den verstärkten internationalen Einsatz für Gerechtigkeit und Frieden an, um die soziale und wirtschaftliche Zerrissenheit der Welt zu überwinden. Entwicklung wurde in den Debatten des ÖRK damals wesentlich mit »Befreiung« assoziiert [10]. Dies hat den Wertmaßstab grundlegend gewandelt. An diesen Wertmaßstab knüpft die vorliegende Studie an (vgl. Kap. 4.1).

    Auch der von der Weltbank in Auftrag gegebene Pearson-Bericht verdeutlichte am Ende der ersten Entwicklungsdekade 1969, dass wirtschaftliches Wachstum nicht automatisch zu Entwicklung führt, und er machte dafür vor allem ungünstige weltwirtschaftliche Rahmenbedingungen verantwortlich. In der Bundesrepublik Deutschland wurde mit der Erarbeitung einer »entwicklungspolitischen Konzeption der Bundesregierung«, die Bundesentwicklungsminister Eppler in Auftrag gegeben hatte, die Entwicklungspolitik erstmals auf eine eigenständige konzeptionelle Grundlage gestellt. Mit der im Februar 1971 vom Kabinett verabschiedeten Konzeption versuchte Erhard Eppler, die Entwicklungspolitik von den Fesseln außenpolitischer und wirtschaftlicher Eigeninteressen zu emanzipieren, indem die Entwicklungspolitik in erster Linie darauf verpflichtet wurde, einen Beitrag zur Verbesserung der »Lebensbedingungen der Bevölkerung in diesen Ländern« zu leisten [11].

    Die Entwicklungsländer selbst drängten in der zweiten Entwicklungsdekade von 1970 bis 1979 massiv auf eine entwicklungsförderliche Neugestaltung der weltwirtschaftlichen Ordnung. Moderate Selbstkritik an der Wachstumsstrategie kam auch innerhalb der Weltbank zur Sprache, die zunächst als deren schärfste Verfechterin aufgetreten war. International großes Aufsehen erregte die Rede des Weltbankpräsidenten McNamara 1973, in der er einen Kurswechsel zugunsten der absolut Armen proklamierte. Mit viel Sendungsbewusstsein wurde der Entwicklungsbegriff jetzt mit dem Ziel assoziiert, Armut zu beseitigen.

    Daran anknüpfend hat 1974 die »Erklärung von Cocoyoc« die so genannte »Grundbedürfnisstrategie« als neue Entwicklungsstrategie formuliert. Die Cocoyoc-Erklärung des Symposiums der Konferenz für Handel und Entwicklung der Vereinten Nationen (United Nations Conference on Trade and Development, UNCTAD) über Rohstoffnutzung, Umweltschutz und Entwicklung 1974 rief zudem Überflussgesellschaften dazu auf, »in ihrem eigenen wohlverstandenen Interesse humanere Lebensmuster zu finden, die weniger ausbeuterisch sind – gegenüber der Natur, gegenüber anderen Menschen und gegenüber sich selbst«. Mit der zeitweiligen Stärkung der Verhandlungsmacht des Südens und den Debatten über eine neue Weltwirtschaftsordnung kamen in den 1970er-Jahren zahlreiche innovative Impulse zur Sprache, die den internationalen Entwicklungsdiskurs belebten. Diese gipfelten am Ende des Jahrzehnts in der Forderung des Abschlussberichts der Nord-Süd-Kommission unter Vorsitz von Willy Brandt, eine neue Ära der weltweiten Partnerschaft und der Weltinnenpolitik einzuleiten [12].

    Ab Mitte der 1970er-Jahre wurde, u. a. ausgelöst durch die Ölpreiskrise und die Meadows-Studie »Die Grenzen des Wachstums«, auch die ökologische Dimension der Entwicklungsproblematik sichtbar. Die Kirchen und weite Teile der Zivilgesellschaft haben dies zum Anlass genommen, eine globale Entwicklungskrise zu diagnostizieren und die weltweite ökologische Verträglichkeit des westlichen Zivilisationsmodells zu hinterfragen. Auf der 5. Vollversammlung des ÖRK 1975 in Nairobi hielt der Biologe Charles Birch eine in der Folge oft zitierte Rede, in der er u. a. appellierte: »Die Reichen müssen einfacher leben, damit die anderen überhaupt überleben können«. Damit galten die nördlichen Länder jetzt nicht mehr als vorbildhaft, sondern als Entwicklungshindernis. Durch diese Annahme verschoben sich die Wertmaßstäbe im Entwicklungsbegriff erneut, diesmal allerdings zuungunsten der Industrieländer. In diesem Sinne wurde vielfach geltend gemacht, es sei die »Überentwicklung« des Nordens, vor allem dessen Ressourcenverbrauch, der die Entwicklung des Südens hemme oder strukturell verhindere. Allerdings hatte dieser ökologische Diskurs auf die zweite und dritte Entwicklungsdekade zunächst wenig Einfluss. Die 1980er-Jahre sollten ohnehin als »das verlorene Jahrzehnt« [13] in die Geschichte der internationalen Entwicklungspolitik eingehen. Die Armut nahm in vielen Regionen zu, nicht zuletzt auch durch einen neoliberalen Kurswechsel und die Rückkehr zu herkömmlichen Strategien der Wachstumsförderung. Die Entwicklungstheorie nahm indes den Boom der ostasiatischen »Tigerstaaten« zum Anlass, über die spezifischen Bedingungen nachzudenken, unter denen eine »nachholende Entwicklung« möglich ist. Der Boom kam überraschend, weil dies in der Logik der Dependenztheorie nicht hätte passieren können. Die anhand der wirtschaftlichen Erfolge einiger Schwellenländer und der gleichzeitigen Verarmung vieler Staaten in Subsahara-Afrika ersichtliche Differenzierung der »Dritten Welt« trat in der vierten Entwicklungsdekade noch deutlicher zum Vorschein.

    Die anfängliche Hoffnung, dass mit dem Fall der Berliner Mauer 1989 und dem Ende des Ost-West-Konfliktes eine Friedens- und Entwicklungsdividende frei würde, wurde in der vierten Entwicklungsdekade nach 1990 nicht erfüllt. Zwar hat ein beispielloses Wohlstandswachstum in vielen Ländern stattgefunden. Jedoch hat die wirtschaftliche Globalisierung die Kluft zwischen Gewinnern und Verlierern weiter vertieft. Der Graben, der die Wohlhabenden von den Armen trennt, ist breiter denn jemals zuvor in der Menschheitsgeschichte. Während die Ungleichheit zwischen den Nationen auf hohem Niveau stagniert und teilweise leicht zurückgeht, ist die Ungleichheit innerhalb vieler Länder gestiegen [14]. Eine »Dritte Welt« lässt sich als homogene Entität nicht mehr konstruieren. Doch bei aller Zerklüftung und neuerlichen Fragmentierung der Welt zeigte die Globalisierung auch einen positiven Zug: Das Bewusstsein, dass die Probleme, mit denen die Welt konfrontiert ist, nur noch gemeinsam und kooperativ gelöst werden können, ist in Nord und Süd, Ost und West gewachsen [15].

    Die Weltgipfel der VN in den 1990er-Jahren [16] markierten wichtige Schritte zu mehr internationaler Kooperation und rückten die Verschränkungen der verschiedenen globalen Krisen ins Blickfeld der Welt- und Entwicklungspolitik. Dem hat auch ein neues Verständnis von Entwicklungspolitik als globaler Strukturpolitik und die Orientierung am Leitbild einer nachhaltigen Entwicklung Rechnung getragen. Mit der Agenda 21 wurde auf der VN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung 1992 »sustainable development« (nachhaltige Entwicklung) als Paradigma internationaler Entwicklung verkündet, das gleichrangig die Ziele der Überwindung der weltweiten Armut und des Schutzes der natürlichen Lebensgrundlagen anstrebt. Doch wie die Debatten um eine »grüne Ökonomie« bei den nachfolgenden Gipfeln Rio+10 und Rio+20 zeigten, geht der internationale Mainstream nach wie vor davon aus, dass sich Strategien der Armutsbekämpfung und des Umweltschutzes im Rahmen des Wachstumsparadigmas versöhnen lassen. Es wird kein Anlass gesehen, an den Kernfesten, d. h. den Wertmaßstäben des alten Entwicklungsleitbildes zu rütteln.

    Eine wichtige neue Weichenstellung war die Verwirklichung der gemeinsamen Initiative zur Entschuldung der ärmsten hochverschuldeten Entwicklungsländer. Bezugspunkt für die internationale Entwicklungspolitik im neuen Jahrtausend sind die MDGs, die gewissermaßen an die Stelle einer Deklaration einer fünften Entwicklungsdekade treten. Sie bündeln zentrale Zielsetzungen der Weltkonferenzen der 1990er-Jahre und benennen einen konkreten Zielhorizont zur Halbierung von Hunger und extremer Armut bis 2015. Kurz vor Ablauf der gesetzten Frist fällt die Bilanz gemischt aus: Zwar wird es vor allem dank der ökonomischen Entwicklungsfortschritte bevölkerungsreicher Schwellenländer gelingen, den Anteil der extrem Armen global gesehen gegenüber 1990 mehr als zu halbieren. Auch sind große Erfolge im Kampf gegen HIV/ Aids, Malaria und Tuberkulose erzielt worden. Insgesamt aber muss ernüchtern, dass viele arme Bevölkerungsgruppen am allgemeinen Wohlstandszuwachs der Weltgesellschaft kaum partizipieren konnten. Für viele marginalisierte und ausgegrenzte Menschen haben sich die Lebensbedingungen weiter verschlechtert. Gerade diese armen Bevölkerungsgruppen (»bottom billion«) [17], die der Unterstützung am dringendsten bedürfen, sind durch Entwicklungsmaßnahmen aber häufig nur schwer erreichbar.

    Nicht weniger dramatisch ist, dass die unbegrenzte Fortschreibung einer wachstumsorientierten Industrialisierung auf der Basis fossiler Energieträger und der Versuch einer nachholenden Entwicklung in den Entwicklungs- und Schwellenländern die gesamte Welt in eine ökologische Krise stürzt (vgl. Kap. 3). Die Treibhausgasemissionen sind trotz der Warnungen vieler Wissenschaftler immer weiter gestiegen; eine globale Trendwende ist derzeit nicht in Sicht. Bislang ist es keinem Land der Welt gelungen, die Voraussetzungen für einen hohen Grad an menschlicher Entwicklung, d. h. ein möglichst gutes Leben für alle, zu ermöglichen, ohne die ökologischen Ressourcen und die planetarische Biokapazität über das ihm zustehende faire und zukunftsfähige Maß hinaus zu übernutzen. Weltweit hat die Suche nach einem global verträglichen und klimafreundlichen Zivilisationsmodell begonnen, das Wohlfahrt und Teilhabe aller mit der Erhaltung der globalen Gemeingüter in Einklang bringt. Das Zeitfenster für diese Suche ist begrenzt. Groß ist daher die Erwartung, dass die Rahmensetzung für eine Post-2015-Agenda dafür Stellschrauben identifiziert (vgl. Kap. 5.5).

    Herausforderungen für das Entwicklungsdenken

    Bei aller Unterschiedlichkeit der jeweiligen Ansätze ruht die Entwicklungszusammenarbeit von Kirchen, Staat und Zivilgesellschaft auf tief verwurzelten gemeinsamen Grundgedanken: den Vorstellungen, dass (a) sich Gesellschaften entwickeln (sollen) und Entwicklung zur »Verbesserung« der Welt beiträgt, (b) es Entwicklungsgefälle zwischen Gesellschaften gibt, die überwunden werden müssen, und (c) Entwicklung gestaltbar ist und durch externe Einflüsse initiiert werden kann. Eine wesentliche Annahme lautet, dass große Ungleichheiten der Lebensverhältnisse nicht hinzunehmen sind. Dadurch unterscheidet sich der moderne Entwicklungsgedanke von der noch im 18. Jahrhundert verbreiteten Theorie, der zufolge die materiellen Ungleichheiten in erster Linie auf naturräumlichen Gegebenheiten und Reproduktionsbedingungen beruhen und nur die »gemäßigten Zonen« zum Aufbau nationalen Wohlstandes prädisponiert seien.

    Die Leitbilder, die die Entwicklungspolitik in den vergangenen Dekaden geprägt haben, werden in mancherlei Hinsicht der heutigen Problemlage nicht mehr gerecht:

  • Angesichts der unübersehbaren Differenzierung des Südens, d. h. angesichts der enormen Unterschiede, die die wirtschaftlichen und politischen Entwicklungspfade der einzelnen Länder aufweisen, entpuppt sich das theoretische Konstrukt einer »Dritten Welt« bzw. von Entwicklungsländern »im Sinne einer homogenen Gruppe von Ländern mit identischen Tiefenstrukturen und daraus ableitbaren allgemeinen Theorien und Strategien zur Problemlösung« [18] als viel zu grobmaschig.

  • Angesichts der ökologischen Grenzen und des Wissens um die Nicht-Universalisierbarkeit des westlichen Produktions- und Konsummusters ist ein Entwicklungsideal, das sich das Verbrauchsniveau der Industrieländer zum Vorbild nimmt, nicht mehr haltbar. Die vermeintlichen Entwicklungserfolge der alten Industrieländer und der Schwellenländer müssen im Lichte ihrer ökologischen und sozialen Unverträglichkeit neu bewertet werden.

  • Angesichts gesellschaftlicher und ökologischer Fehlentwicklungen auch im Norden kann man von einer »Verallgemeinerung der Entwicklungsproblematik« [19] sprechen. Die Industrieländer sind heute selbst von Prozessen ungleicher Entwicklung betroffen. Erscheinungen wie Massenarbeitslosigkeit, Exklusion breiter Bevölkerungsgruppen, Slumbildung oder labile Staatlichkeit, die lange Zeit als typische Dritte-Welt-Phänomene galten, gibt es auch in den Staaten des Nordens. Ein »Entwicklungsgefälle« ist nicht mehr vorrangig entlang einer territorial verstandenen Nord-Süd-Schiene zu verorten. Vielmehr gibt es »Norden im Süden« und »Süden im Norden«. Diese Ungleichzeitigkeiten werfen aber neue Fragen hinsichtlich der Verteilung von Verantwortung auf.

  • Angesichts der zunehmenden Bedeutung transnationaler Prozesse kann der Nationalstaat bzw. die nationalstaatlich verfasste Gesellschaft nicht mehr als alleiniges Subjekt gesellschaftlicher Entwicklung angesehen werden. Gesellschaftliche Veränderungen vollziehen sich in einem weltgesellschaftlichen Kontext. Die wesentlichen Entwicklungskrisen unserer Zeit haben eine globale, grenzüberschreitende Dimension angenommen bzw. sind auf globale Ursachen zurückzuführen und verlangen daher auch neue, kooperative Lösungen. Damit verändert sich auch die Rolle des Nationalstaats als Entwicklungsakteur.

    Neben diesen konzeptionellen Anfragen an die Prämissen des Entwicklungsdenkens werden heute aber auch die Grenzen der herkömmlichen strategischen Ansätze und der Instrumente des Politikfeldes »Entwicklungszusammenarbeit« immer mehr bewusst. Zu nennen sind:

  • Die Debatte um die Wirksamkeit der »Entwicklungshilfe«: Nachdem die Ziele der vorausgegangenen vier Entwicklungsdekaden meist verfehlt wurden und auch das große globale Entwicklungsprojekt der MDGs bis zum Jahr 2015 in vielen Bereichen ernüchternd ausfallen wird, muss sich die Entwicklungspolitik mit der Kritik auseinandersetzen, dass ihre Ambitionen weit über das hinausgehen, was sie tatsächlich zu leisten vermag. Als Mikro-Makro-Paradoxon beschreibt die Evaluationsforschung das häufig anzutreffende Phänomen, dass zwar Einzelprojekte der Entwicklungszusammenarbeit zu einem guten Teil ihre selbstgesetzten Ziele in ihrem unmittelbaren Projektumfeld erreichen, makroökonomische Fortschritte oder Breitenwirkungen jedoch sehr viel seltener nachzuweisen sind [20].

  • Radikale Kritiker der Entwicklungspolitik gehen noch weiter: Das Problem der Entwicklungshilfe sei nicht, dass sie ihre ambitionierten Ziele nicht hinreichend zu erreichen vermag, sondern dass sie die Armut und Entwicklungsrückstände verschärft, indem sie die Armen durch Alimentierung in Armut und Abhängigkeit hält oder indem sie, in einer Feigenblattfunktion, dazu beiträgt, von den eigentlichen Ursachen von Verarmungsprozessen abzulenken. Die staatlichen und zivilgesellschaftlichen Entwicklungsakteure setzen dieser Fundamentalkritik neue Ansätze einer partnerschaftlichen Entwicklungskooperation und Strategien zur Verbesserung der Wirksamkeit, Transparenz und Koordination der internationalen Entwicklungszusammenarbeit entgegen.

  • Die quantitative »Marginalität der Hilfe«: Auch wenn nicht zu bezweifeln ist, dass die Entwicklungszusammenarbeit »im Kleinen« vielfältige Erfolge vorzuweisen vermag, ist offensichtlich, dass die internationale Hilfe allein quantitativ viel zu bescheiden ist, um das Problem der globalen Armut lösen und die weltweiten Entwicklungskrisen beilegen zu können. Dabei wird in der Regel verschwiegen, dass die VN sich schon 1970 das Ziel gesetzt hatten, dass die Industrieländer 0,7 Prozent ihres Bruttonationaleinkommens (BNE) für Entwicklungszusammenarbeit verwenden. Das Ziel wurde 2000 im Rahmen der Verabschiedung der Millennium Development Goals erneuert, bislang aber nur von Schweden, Norwegen, Dänemark, den Niederlanden und Luxemburg erreicht. Die USA stagnieren bei 0,2 Prozent ihres BNE, Deutschlands ODA-Quote (Öffentliche Ausgaben für Entwicklungszusammenarbeit) beträgt für das Jahr 2013 0,38 Prozent. Die Lösung der Entwicklungsproblematik kann ganz offensichtlich nicht allein der Entwicklungspolitik aufgebürdet werden. Es ist im Sinne einer kohärenten Weltinnenpolitik vielmehr die Aufgabe der Gesamtpolitik auf nationaler wie globaler Ebene, eine gerechte und nachhaltige Weltgesellschaft zu ermöglichen. Mit dem Verständnis von Entwicklungspolitik als Beitrag zu einer globalen Strukturpolitik und der Forderung nach einer Kohärenz aller Sektorpolitiken für nachhaltige Entwicklung wird dieser Herausforderung zu begegnen versucht.

  • Die Grenzen der Machbarkeit und Steuerbarkeit gesellschaftlicher Entwicklung: Die Vorstellung, dass es zufrieden stellend gelingen kann, gesellschaftliche Entwicklungsprozesse durch entwicklungspolitische Interventionen von außen anzustoßen, ist heute ebenso umstritten wie die Idee, gesellschaftliche Entwicklung intern durch »Fünfjahrespläne« und andere Blaupausen realisieren zu können. Die wichtigsten sozialen Transformationen und Innovationen – und das trifft insbesondere auch auf die großen epochalen Transformationen der neolithischen und der industriellen »Revolution« zu – waren weder in ihrem tatsächlichen Verlauf vorhersehbar noch bewusst geplant, sondern in erster Linie Ergebnisse evolutionärer Prozesse [21]. Daraus könnte gefolgert werden, dass es vor allem darauf ankommt, günstige Kontextbedingungen für evolutionäre Transformationen der Gesellschaft zu schaffen und damit auch die Diversität und Fehlerfreundlichkeit sozialer Lebensbedingungen zu erhöhen. Entwicklungsakteure sollten eher Fragen stellen als Lösungen anbieten [22].

    Die vorgenannten Argumente mahnen einen Paradigmenwechsel in Entwicklungstheorie und Entwicklungspolitik an. Es werden aber auch Positionen vertreten, die darüber hinausgehen und die es für erforderlich halten, den Entwicklungsbegriff ganz abzulegen, da er von negativen historischen Bedeutungen belastet scheint, die man nicht mehr abzuschütteln vermag. So wirft die Post-Development-Kritik dem Entwicklungsdiskurs vor, er sei eurozentrisch, entpolitisierend und autoritär: »Eine Äußerung im Entwicklungsdiskurs impliziert die Subjektposition einer Person, die weiß, was >Entwicklung< ist und wie man sie erreicht« [23]. Die postkoloniale Kritik spricht von der »Komplizenschaft kosmopolitischer Solidaritätsbekundungen mit globalen Herrschaftsstrukturen« (Nikita Dhawan) [24] und verwahrt sich gegen den Gestus, »der Welt helfen zu wollen«. Die Decroissance-Bewegung und die Postwachstumstheoretiker [25] bestreiten die Möglichkeit eines »grünen Wachstums«, u. a. weil eine vollständige Entkopplung von Wachstumsdynamik und deren externalisierten Nebenfolgen nicht möglich sei. Andererseits rechtfertigen Theoretiker der Decroissance-Bewegung die Notwendigkeit einer wirtschaftlichen Schrumpfung der nördlichen Länder auch mit dem Argument, dass hierdurch mehr »Umweltraum« für das Wachstum des Südens geschaffen werde. Die Wertmaßstäbe des Degrowth-Entwicklungsbegriffs knüpfen insofern an die Idee der 1970er-Jahre an, die Überentwicklung im Norden zu bekämpfen.

    Kritische Stimmen werden lauter, die das Entwicklungsversprechen auf allgemeinen Wohlstand als eine trügerische Illusion zurückweisen. Sind »Entwicklung« und »Fortschritt« somit die falschen Konzepte für eine menschenwürdige Zukunft? Die Kammer der EKD für nachhaltige Entwicklung hält an der Entwicklungsidee als Vision allgemeiner Wohlfahrt innerhalb der ökologischen Grenzen fest, ohne sich Illusionen hingeben zu wollen. Man könnte dies einen »illusionslosen Idealismus« nennen. Für die Kammer stellt sich dabei die Herausforderung, die Entwicklungsidee mit neuen Leitbildern und Maßstäben für ein gutes Leben aller auf ein verändertes Fundament zu stellen.

    2.2. Neue Wohlstandsmodelle und alternative Maßstäbe für Entwicklung

    Wenn das Leitbild der nachholenden Entwicklung selbst als überholt gelten muss, stellt sich die Frage nach alternativen Maßstäben für Entwicklung oder Wohlstand. Grob lassen sie sich beschreiben mit (a) einer Verbesserung der Lebensbedingungen aller Menschen, orientiert am völkerrechtlichen Bestand der politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte, ergänzt durch (b) die Einschränkung, dass diese Verbesserungen sich in dem Rahmen bewegen müssen, der durch die Tragfähigkeitsgrenzen der Erdökosysteme und ihrer Funktionskreisläufe gesetzt ist. Damit ist gleichzeitig von einer Ausweitung individueller menschlicher Wahlmöglichkeiten und Freiheiten im Sinne Amartya Sens die Rede und von der ethischen Pflicht, die Ausübung dieser Freiheiten zu begrenzen, um die natürlichen Lebensgrundlagen und damit die Wohlstandschancen zukünftiger Generationen nicht zu gefährden.

    Diese Kombination von Freiheit und Pflicht kann als erste zu bewältigende Schwierigkeit bei der Umsetzung dieser neuen Wohlstandsmodelle benannt werden (vgl. Kap. 4.2). Eine zweite Schwierigkeit liegt darin, zu erkennen, welche Erdökosysteme und Funktionskreisläufe wesentlich sind und wie ihre Tragfähigkeitsgrenzen bemessen und quantifiziert werden können. Damit verbunden ist die Notwendigkeit, die ursächlichen Verknüpfungen zwischen menschlichen Aktivitäten und der Übernutzung natürlicher Ressourcen und Überbeanspruchung natürlicher Funktionskreisläufe zu erfassen. Die wichtigste, dringend zu bewältigende Schwierigkeit liegt jedoch darin, von der Analyse zum Handeln zu kommen, denn überzeugende neue Orientierungsangebote und Handlungskonzepte sind es, die Menschen stärker zu verändertem Handeln motivieren als Krisendiagnosen und Ursachenanalysen.

    Die Debatte um neue Wohlstandsmodelle, die den genannten zwei Maßstäben gerecht werden, speist sich vor allem aus Arbeiten der ökologischen Ökonomik und der Postwachstumsökonomie, denn hier werden die Fragen, die sich durch die ökologischen Begrenzungen für Produktion, Konsum und die Finanzierung öffentlichen Handelns stellen, am ehesten bearbeitet [26]. Ein weiterer wichtiger Bereich ist die Wohlstandsmessung, die neue Verfahren entwickelt hat, um neben Markttransaktionen auch Veränderungen im Umweltbereich und unbezahlte Dienstleistungen einzubeziehen.

    Wirtschaftswachstum und nachhaltige Entwicklung

    Vorläufer der heutigen kritischen Wachstumsdebatte waren 1972 der Bericht des Club of Rome (»Grenzen des Wachstums«), der vor allem auf die begrenzte Verfügbarkeit natürlicher, nicht erneuerbarer Ressourcen abhob und die Naturblindheit der Wirtschaftswissenschaft kritisierte. Diese Blindheit äußerte sich darin, dass weder natürliche Ressourcen noch Emissionen und Abfälle in älteren ökonomischen Modellen berücksichtigt wurden und dass – u. a. vermittelt durch den technischen Fortschritt – von einer unbegrenzten Substituierbarkeit der Produktionsfaktoren ausgegangen

    wurde. Ausgehend von dieser Kritik entwickelte die ökologische Ökonomie alternative Modelle, die das ökonomische System aufgrund seiner physischen Bedingtheit als Teil des Erdsystems konzipierten. Damit sind auch ökonomische Aktivitäten an die natürlichen Bedingungen (Erneuerungszyklen der Ressourcen, Gesetze der Thermodynamik) gebunden, müssen mit ihnen konsistent sein und können nicht unbegrenzt materiell wachsen. Daraus wurde der Leitsatz abgeleitet, dass die Material- und Energieflüsse bzw. Durchsätze von Produktion und Konsum im Einklang mit dem natürlichen System stehen müssen [27]. Allerdings muss an dieser Stelle zwischen ökonomischem und physischem Wachstum unterschieden werden. Das physische Wachstum betrifft den Ressourceneinsatz in der Produktion, das ökonomische Wachstum das BIP. Die Kopplungen zwischen ökonomischem und physischem Wachstum einschließlich der Möglichkeiten von Entkopplungen sind Gegenstand umwelt(makro)ökonomischer Debatten. Als Faustformel mag gelten, dass ein absoluter Rückgang des physischen Wachstums (»physisches Degrowth«) mit hohen Raten ökonomischen Wachstums schwer zu vereinbaren sein dürfte. Ökologisch nachhaltige Gesellschaften werden sich daher strukturell zu Postwachstumsgesellschaften wandeln müssen.

    In die breite Debatte in Deutschland über nachhaltige Entwicklung fanden diese Erkenntnisse Eingang durch die Studien »Zukunftsfähiges Deutschland«, die 1996 und 2008 veröffentlicht und breit diskutiert wurden [28]. Durch diese Studien wurde der Begriff der »Suffizienz« einer breiteren Öffentlichkeit bekannt. Diesen Begriff hatte Wolfgang Sachs vom Wuppertal Institut dem Begriff der »Effizienz« entgegengesetzt, um darauf hinzuweisen, dass eine effizientere Ressourcen- und Energienutzung allein nicht ausreichen würde, um nachhaltig zu wirtschaften: »Einer naturverträglichen Gesellschaft kann man in der Tat nur auf zwei Beinen näher kommen: durch eine intelligente Rationalisierung der Mittel wie durch eine kluge Beschränkung der Ziele. Mit anderen Worten: die >Effizienzrevolution< bleibt richtungsblind, wenn sie nicht von einer >Suffizienzrevolution< begleitet wird.« [29] Ein Nachdenken über das »Genug« sei erforderlich, eine Begrenzung unserer Vorstellungen von der materiellen Seite eines guten Lebens, um innerhalb der Tragfähigkeitsgrenzen der Erde zu verbleiben. Diese Argumentation wird durch neuere Arbeiten zum Rebound-Effekt technischer Innovationen bestätigt: Ein effizienterer Ressourcen- und Energieeinsatz kann Konsumgüter billiger machen. Es kann den Konsum dieser Güter steigern und andere Konsummöglichkeiten eröffnen. Deswegen können Einspareffekte verloren oder sogar überkompensiert werden. Eine absolute Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Ressourcen- und Energieverbrauch ist ein notwendiges Kriterium zukunftsfähiger Entwicklung. Sie ist bislang in den Industriegesellschaften nicht erreicht worden, wäre aber bei einer anderen Effizienzpolitik möglich. In Deutschland ist ein Rückgang des Primärenergieverbrauchs im Zeitraum von 1990 bis 2013 um 6,7 Prozent zu verzeichnen. Dabei sind aber Produktionsverlagerungen ins Ausland nicht berücksichtigt, und auch das Ziel der deutschen Nachhaltigkeitsstrategie, die Energieproduktivität zwischen 1990 und 2020 zu verdoppeln, ist in weiter Ferne [30].

    Bei der neuen Postwachstumsdebatte lassen sich verschiedene Ausprägungen erkennen. Auffällig ist, dass neben die oben bereits beschriebene ökologische Begründung für Grenzen des Wachstums nun eine weitere Begründung tritt, die auf objektive soziale Indikatoren menschlicher Entwicklung und die Messung subjektiver Empfindungen von Glück und Zufriedenheit zurückgreift. Für ein neues Entwicklungsverständnis kommt es entscheidend darauf an, wie objektive Indikatoren und subjektive Bewertungen der eigenen Lebenssituation miteinander konzeptionell gekoppelt werden. Werden etwa Bildung und Lebenserwartung als zwei objektive Dimensionen des Index für menschliche Entwicklung des Entwicklungsprogramms der VN mit dem BIP pro Kopf in Beziehung gestellt, so zeigt sich, dass bereits Länder mit wesentlich geringerer Wirtschaftsleistung dasselbe Niveau wie Industrieländer erreichen können. Entwicklung wäre dann erfolgreich, wenn sich die Lebensverhältnisse global auf einem Set solcher objektiver Indikatoren annäherten.

    Befragungen nach subjektivem Glück zeigen, dass ein hohes durchschnittliches Pro-Kopf-Einkommen keine Garantie für individuelle Zufriedenheit ist [31]. Im Gegenteil, die Zufriedenheitswerte zwischen reichen Ländern variieren stark. Dies kann daran liegen, dass in Ländern mit hohen Erwartungen und einem hohen durchschnittlichen Lebensstandard die subjektive Zufriedenheit eher abnimmt. Außerdem zeigen Untersuchungen zum Zusammenhang zwischen Ungleichheit und Wohlstand, dass ein hohes Maß an Einkommensungleichheit in reichen wie in armen Ländern die Grundlagen von Wohlstand und Zufriedenheit erodiert: Vertrauen nimmt ab, Angst und Krankheiten nehmen zu, ebenso wie exzessiver Konsum [32].

    Die Konsumforschung belegt ähnliche Effekte: Die Zufriedenheit, die nach erfolgreichem Kauf des ersehnten Gegenstands oder Statussymbols hoch ist, reduziert sich innerhalb relativ kurzer Zeit und fällt auf ihr altes Niveau zurück, sodass stets neue Käufe erforderlich sind, um das angestrebte Glücksgefühl wieder zu erlangen. Stabilere Quellen von Zufriedenheit und Sinnstiftung hingegen seien soziale Beziehungen und Aktivitäten, die über Materielles (Konsum, Einkommen etc.) hinausgehen [33]. Aus dieser prinzipiellen Unfähigkeit der Konsumgesellschaft, dauerhaft Sinn zu stiften, ergibt sich auch eine Triebfeder für gesellschaftliche Veränderungsprozesse in Richtung auf eine Postwachstumsgesellschaft. Dies konstatiert die Soziologin Juliet B. Schor für die USA, die zunächst die amerikanische Konsumgesellschaft empirisch untersucht hatte und sich nun mit der Vielfalt an Initiativen von unten für eine »zeitreiche, ökologisch leichte, lokal verankerte Gesellschaft mit hoher Zufriedenheit« [34] befasst. Diese Arbeiten beschreiben damit Quellen für den kulturellen Wandel, der für den Übergang zu einer Postwachstumsökonomie erforderlich ist, denn die Menschen müssen bereit sein, Wohlstand nicht mehr vor allem mit einer Steigerung des materiellen Konsums gleichzusetzen.

    Ansätze zu einer derartigen »Kultur des Genug« gab und gibt es in Entwicklungsländern auch. Eine Quelle sind die Normen nicht-westlicher Kulturen wie die der Indigenen aus den südamerikanischen Anden oder der Ureinwohner in verschiedenen Teilen Indiens. Hier gilt die Natur als eigenständiges Wesen mit eigenen Rechten, wie sie beispielsweise in der neuen bolivianischen Verfassung anerkannt sind. Das bedeutet jedoch nicht, dass in Bolivien die Rechtswirklichkeit diesem Ideal entspricht; zudem sind die praktischen Schlussfolgerungen aus diesem Recht der Natur nicht unumstritten: Auch hier gibt es Auseinandersetzungen um die Ausbeutung von mineralischen Rohstoffen, die dadurch möglichen öffentlichen Einnahmen zur Finanzierung sozialer Entwicklung einerseits und die damit einhergehenden Kosten für die Umwelt und die dort lebenden Menschen andererseits. Diese Auseinandersetzungen bilden jedoch eine Chance für die Einführung neuer Wirtschafts- und Entwicklungswege; vorausgesetzt, es kommt zu Kompromissen, die auch die Interessen der lokalen Bevölkerung angemessen berücksichtigen.

    Aber welche Verteilungswirkungen hätte eine Postwachstumsökonomie, wenn gegenwärtig sowohl die Wohlstandssteigerung allgemein als auch die Bereitstellung von Arbeitsplätzen, die Finanzierung der Sozialversicherungssysteme, die Erfüllung von Verpflichtungen aus dem Schuldendienst und die Anreize für technischen Fortschritt in starkem Maße vom Wirtschaftswachstum abhängen? [35] Inwiefern ist also nicht nur Wohlstandssteigerung, sondern auch Wohlstandserhalt von Wachstum abhängig? Handelt es sich doch um ein Dilemma ohne mögliche Lösung? Vor allem fragt sich, in welche Pfadabhängigkeiten eine Postwachstumsgesellschaft hineingeraten könnte [36]. Gunther Tichy ist der Auffassung, dass eine Marktwirtschaft ohne Wachstum denkbar sei, da Profit nur in dem Maße erwirtschaftet werden muss, wie Ersatzinvestitionen getätigt werden müssen, um die Produktionskapazitäten (bei beschränktem Konsum) aufrechtzuerhalten [37]. Der Zwang zur Kreditaufnahme (und zu Profiten, um die Kredite und Zinsen zu bedienen) entfalle dann. Eine beschäftigungs- und sozialpolitische Flankierung sei erforderlich, denn Produktivitätsfortschritte werde es weiterhin geben, die durch eine verkürzte Lebensarbeitszeit nicht ausgeglichen werden könnten und daher die Schaffung neuer Arbeitsplätze erforderlich machten. Umverteilungspolitiken müssten dann aus der Substanz heraus finanziert werden, was Verteilungskämpfe hervorriefe.

    Diese Überlegungen zeigen, dass eine Postwachstumsökonomie grundsätzlich zunächst einmal nur für alte Industriegesellschaften vorstellbar ist, die bereits über ein hohes materielles Ausstattungsniveau verfügen [38]. Aber gerade auch in diesen Gesellschaften zeigt der große Unterschied zwischen privatem Vermögen und knappen öffentlichen Haushalten, wie schwierig die Finanzierung von Ersatzinvestitionen der öffentlichen wirtschaftlichen und sozialen Infrastruktur und des Aufbaus neuer Infrastrukturen (Energiewende) zu bewerkstelligen ist. Deshalb konstatiert auch der Wissenschaftliche Beirat der Bundesregierung für Globale Umweltfragen (WBGU), dass der Strukturwandel zu einer kohlenstoffarmen Wirtschaft in einer nicht wachsenden Wirtschaft schwerer zu leisten ist als in einer wachsenden, »da in den schrumpfenden Sektoren neben absolutem Lohnverzicht auch strukturelle Arbeitslosigkeit entstünde. Insgesamt bestehen in einer Wirtschaft ohne Wachstum geringere Leistungs-, Investitions- und Innovationsanreize« [39].

    Mit Blick auf die erforderliche Dekarbonisierung der Wirtschaft als wichtigstem ersten Schritt zu einer »grünen Ökonomie« stellt sich die Frage, ob auch hier nachlassendes Wachstum erforderlich wäre. Dies verneint der WBGU und verweist auf globale Modellrechnungen, in denen ermittelt wurde, dass »bei einer Transformation der Energiesysteme mit dem Ziel der Stabilisierung der CO2-Konzentration bei 450 ppm technologische Innovationen (d. h. Verbesserungen der Energieeffizienz sowie eine Dekarbonisierung der Energieerzeugung) den durch Wirtschaftswachstum bedingten Emissionsanstieg überkompensieren können« [40]. Die dabei angenommene langfristige Wirtschaftswachstumsrate beträgt 2,1 bis 2,4 Prozent jährlich bis 2100, es ergibt sich die Möglichkeit eines Rückgangs der Emissionen ab 2020/2025. Auch Modellrechnungen mit dreiprozentigen Wirtschaftswachstumsraten kommen zu einem ähnlichen Ergebnis. Diese Modellrechnungen setzen jedoch voraus, dass die Maßnahmen zur Steigerung der Energieeffizienz und zur Dekarbonisierung erheblich verstärkt werden. Nur so wird es möglich sein, die historische Verringerungsrate der Energieintensität der Produktion (die zwischen 1980 und 2008 global durchschnittlich etwa 1,1 Prozent betrug) zu steigern.

    Aber auch wenn die Dekarbonisierung der Wirtschaft mit einer Aufrechterhaltung des Wirtschaftswachstums kompatibel sein sollte (und dadurch zumindest in finanzieller Hinsicht sogar erleichtert werden könnte), bleiben doch die eingangs genannten Fragen bestehen: Wie sollen in einer global reicher werdenden Gesellschaft die Lebensbedingungen aller Menschen verbessert, die erforderlichen Rohstoffe für die Ernährung, für den Konsum und den Transport aller Menschen bereitgestellt werden, wenn (a) nicht gleichzeitig auf eine ökologisch konsistente Kreislaufwirtschaf [41] umgestellt wird und (b) nicht die materiellen Konsumerwartungen insbesondere in den alten Industriegesellschaften und den aufstrebenden großen Entwicklungsländern auf ein damit verträgliches Maß reduziert werden? Ein menschenrechtlicher Ansatz, der neben den wirtschaftlichen Rechten auch die sozialen, kulturellen und politischen Rechte der Menschen betont, kann ebenfalls hilfreich sein, um zu verdeutlichen, dass Wohlstand, ein gutes Leben für alle, auf einem Ausgleich zwischen diesen verschiedenen Dimensionen, die einander nicht ersetzen können, beruht. Von diesem Nebeneinander verschiedener Dimensionen menschlichen Wohlstands gehen auch neuere Ansätze zur Wohlfahrts- und Nachhaltigkeitsmessung aus, die eine Grundlage für die Formulierung konsistenter Politiken für die qualitative und quantitative Wohlstandsverbesserung abgeben.

    Wohlfahrts- und Nachhaltigkeitsmessung

    Die Reformdebatte zur Erweiterung der Messung der Wirtschaftsleistung eines Landes um soziale und ökologische Dimensionen ist fast genauso alt wie die ökologische Ökonomie. So gibt es mittlerweile eine Reihe neuer Maße, die teilweise alle drei Dimensionen nachhaltiger Entwicklung abdecken oder auch nur eine oder zwei davon. So gibt es die Variante, das herkömmliche BIP – das Markttransaktionen misst – beizubehalten und um verschiedene monetarisierte Indikatoren zu ergänzen. Dazu gehören der »Measure of Economic Welfare«, der »Index of Sustainable Economic Welfare«, der »Genuine Progress Indicator« und der »Nationale Wohlfahrtsindex«, die sowohl die ökonomische, die soziale als auch die ökologische Dimension abbilden. Demgegenüber bilden die umweltökonomische Gesamtrechnung und das VN-System für die ökologische und ökonomische Gesamtrechnung die soziale Dimension nicht ab. Schließlich gibt es eine Reihe zusammengesetzter Indizes, die monetarisierte und nicht-monetarisierte Größen integrieren: Alle drei Dimensionen berücksichtigen der »Index of Economic Wellbeing«, der KfW-Nachhaltigkeitsindikator, die »Sustainable Development Indicators« von Eurostat und der »Gross National Happiness Index« von Bhutan. Eher traditionell konzipiert sind Maße, die die ökonomische Dimension um die soziale Dimension erweitern, wie der »Human Development Index« (HDI) des United Nations Development Programme (Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen, UNDP) und der »Index of Economic Freedom«. Die soziale und die ökologische Dimension bildet der »Happy Planet Index« ab, während der »Environmental Performance Index« nur die ökonomische und die ökologische Dimension berücksichtigt.

    Allen Maßen ist gemeinsam, dass sie keine einfache Zahl produzieren, mit der sich Veränderungen von einem zum anderen Jahr angeben und international vergleichbar machen ließen; vielmehr liefern sie komplexere Informationen, die nicht so leicht verständlich sind wie es vorgeblich beim BIP der Fall ist. Gegen diese Machtstellung der BIP-Wachstumsrate vorzugehen, mit der gute Zukunftsaussichten suggeriert werden, ist das Ziel aller neuen Maße.

    Besonders bekannt wurde in diesem Zusammenhang die Stiglitz-Sen-Fitoussi-Kommission, die vom damaligen französischen Präsidenten Sarkozy eingesetzt wurde und deren Ergebnisse auch von einer deutsch-französischen Expertenkommission positiv zur Kenntnis genommen wurden. Die Stiglitz-Sen-Fitoussi-Kommission empfahl, jährlich acht Dimensionen der Lebensqualität zu messen: materieller Wohlstand, Gesundheit, Bildung, persönliche Aktivitäten/Erwerbsarbeit, politische Partizipation und Regierungsführung, soziale Beziehungen, Umweltbedingungen und existenzielle (physische und ökonomische) Unsicherheit. Dabei seien auch subjektive Indikatoren (Glück, Zufriedenheit) einzuschließen. Zur Messung von Nachhaltigkeit empfahl die Kommission, diese separat mit einem multidimensionalen Indikatorenset zu verfolgen, das auch physische Indikatoren umfasst. Dabei sollen zur Beurteilung von Nachhaltigkeit das Vermögen (der Bestand) und die Verbindlichkeiten gegenübergestellt sowie das Natur-, Sozial- und Humankapital bilanziert werden, um Änderungen der Bestände anzuzeigen.

    Eine regelmäßige Berichterstattung und öffentliche Kommentierung dieser Bestandsveränderungen im Kontext der anderen Dimensionen wäre ein wichtiger Schritt, um der Öffentlichkeit regelmäßig in Erinnerung zu rufen, wie materieller menschlicher Wohlstand mit anderen sozialen Dimensionen und dem physischen Naturzustand zusammenhängt. Gleichzeitig können neue Wohlstandsmaße wie der »Nationale Wohlfahrtsindex« (NWI) oder Indikatorensets wie die der Stiglitz-Sen-Fitoussi-Kommission genutzt werden, um die Rechenschaftspflichten der Politik und privater Ressourcennutzer auf eine konkrete Basis zu stellen und spezifische Zielorientierungen für politisches und privates Handeln zu setzen. Auf diese Weise könnte es eher gelingen, die gegenwärtige ausschließliche Fixierung auf das Wirtschaftswachstum als Kenngröße für den Wohlstand einer Gesellschaft zu überwinden: Es träten nicht nur andere Größen hinzu, sondern es würde auch deutlich, an welchen Stellen Veränderungen notwendig sind.

  • Nächstes Kapitel