Leitlinien für eine multifunktionale und nachhaltige Landwirtschaft

Zur Reform der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP) der Europäischen Union. Eine Stellungnahme der Kammer der EKD für nachhaltige Entwicklung, EKD-Text 114, 2011

2. Agrarpolitik für eine multifunktionale und nachhaltige Landwirtschaft

Die Agrarpolitik ist innerhalb der Europäischen Union der einzige Politikbereich, der vollständig gemeinschaftlich geregelt ist. Daraus erklärt sich auch, dass ein beträchtlicher Anteil des EU-Haushaltes für die Gemeinsame Agrarpolitik aufgewendet wird. Er umfasste zuletzt 39% des gesamten EU-Haushalts. Doch nicht nur aufgrund der finanziellen Ausstattung kommt der Agrarpolitik eine Schlüsselstellung in der EU zu. Denn Agrarpolitik ist keineswegs als klassische Sektorpolitik zu betrachten, sie ist Gesellschaftspolitik, die sich nicht allein an den Interessen der im Landwirtschafts- und Ernährungssektors tätigen Akteure bemessen kann. Die Agrarpolitik ist daher auch eng verflochten mit anderen Politikfeldern wie der Verbraucherpolitik, der Entwicklungspolitik, der Handelspolitik, der Umweltpolitik, etc. Die konkreten Auswirkungen der Gemeinsamen Agrarpolitik der EU haben große Bedeutung für die Welternährung, den Klimaschutz, die biologische Vielfalt, die Landschaftsgestaltung, die Raumordnung, den internationalen Handel oder den Verbraucherschutz. Agrarpolitik ist also von großer gesamtgesellschaftlicher Relevanz, auf nationaler wie auch auf internationaler Ebene.

Der Landwirtschafts- und Lebensmittelsektor ist kein Wirtschaftszweig wie jeder andere. Der Zugang zu ausreichenden und qualitativ hochwertigen Lebensmitteln ist eine unabdingbare Voraussetzung für jede menschliche Entwicklung. Die politischen Rahmensetzungen für die zukünftige Entwicklung des europäischen und internationalen Landwirtschafts- und Lebensmittelsektors können deshalb nicht nach rein marktwirtschaftlichen Kriterien erfolgen, sondern müssen Aspekte wie Gemeinwohlorientierung, entwicklungspolitische Kohärenz, Erhalt der natürlichen Ressourcen und die öffentliche Honorierung von positiven externen Effekten und des Schutzes der öffentlichen Güter beinhalten. Agrarpolitik muss verstärkt der Multifunktionalität der Landwirtschaft und der ländlichen Räume Rechnung tragen. Dies haben der Rat der EKD und die Deutsche Bischofskonferenz bereits in ihrem gemeinsamen Diskussionsbeitrag "Neuorientierung für eine nachhaltige Landwirtschaft" im Jahr 2003 bekräftigt [1]. Dieses ökumenische Agrarwort der Kirchen tritt für neue Visionen für die ländliche Entwicklung ein. Mit dem Leitbild einer multifunktionalen und nachhaltigen Landwirtschaft wird auch zum Ausdruck gebracht, dass die Gesellschaft die vielfältigen Leistungen, die die Landwirtschaft und die ländlichen Räume für die Gesamtgesellschaft erbringen, anerkennen und honorieren muss. Auch dem Bericht des Weltagrarrates (IASSTD) "Landwirtschaft am Scheideweg" liegt ein Verständnis einer elementaren Multifunktionalität der Landwirtschaft zugrunde, das in den Blick nimmt, dass die Landwirtschaft nicht nur "handelbare Massenerzeugnisse" erzeugt, sondern zugleich auch für "Umweltleistungen, einzigartige Landschaften und kulturelle Schätze" [2] Sorge trägt. Das impliziert auch, dass die Landwirtschaft nicht marktbezogene Leistungen erbringt, "für die Märkte entweder schlecht funktionieren, oder gar nicht existieren" (ebd.). Agrarpolitik muss der Vielfalt der gesellschaftlichen und ökologischen Funktionen der Landwirtschaft gerecht werden, dafür Sorge tragen, dass ihre gesamtgesellschaftlichen Leistungen und die Beiträge zum Schutz oder zur Bereitstellung von Gemeingütern auch in Zukunft in ausreichendem Maße erbracht werden können, dass aber zugleich negative Auswirkungen beschränkt oder unterbunden werden. Nachhaltig und multifunktional ist Landwirtschaft im Sinne des Weltagrarrates dann, wenn sie nicht nur gesunde Lebensmittel produziert und Arbeitsplätze und Einkommen schafft, sondern u. a. auch eine zukunftsfähige Entwicklung der ländlichen Räume ermöglicht, die natürlichen Ressourcen schont, zu Landschaftspflege und zum Klimaschutz beiträgt, sowie die weltweite Ernährungssicherung und die Überwindung von Armut unterstützt. Der Paradigmenwechsel von einer vorrangigen Weltmarkt- und Wettbewerbsorientierung der Agrarwirtschaft hin zum Leitbild einer multifunktionalen nachhaltigen Landwirtschaft wird zwar seit Jahren diskutiert, ist aber agrarpolitisch noch nicht annähernd umgesetzt.

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