Im Geist der Liebe mit dem Leben umgehen

4. Medizin und Gesundheitswesen im Dienst des Menschen

Die Erfahrung von Krankheit ist Bestandteil jedes menschlichen Lebens. Um dem damit verbundenen Leiden zu begegnen, haben sich in allen Kulturen Menschen gefunden, die mit ihren speziellen Kenntnissen halfen, Krankheit zu heilen und Leiden zu lindern. Im Mittelalter entstanden die ersten christlichen Hospitäler, später die Krankenhäuser und allmählich ein Gesundheitssystem mit einer gesetzlichen Krankenversicherung, das in Deutschland seit dem Ende des 19. Jahrhunderts für den Einzelnen Absicherung im Krankheitsfall bietet.

Heutzutage stehen die Versorgungsstrukturen des Gesundheitssystems und speziell der Krankenhäuser vor erheblichen Umwälzungen. Ursache dafür sind einerseits die Ausweitung der naturwissenschaftlichen Kenntnisse und medizintechnischen Entwicklungen, aber auch die damit verbundenen teilweise widersprüchlichen Bewertungen, die zum Ausdruck kommen, wenn im Einzelfall über die Behandlung von Kranken entschieden werden muss. Je mehr Möglichkeiten für eine Behandlung bestehen, desto schwerer und vielschichtiger wird die Diskussion über die Sinnhaftigkeit dieser Optionen sein. Hinzu kommt, dass, während sich einerseits der Handlungs- und Entscheidungsspielraum für Patienten und Ärzte erweitert und verkompliziert, sich andererseits zunehmende Einengungen bei der Finanzierung ergeben. Das deutsche Gesundheitswesen ist durch seine gewachsenen Strukturen äußerst komplex und geprägt durch die Selbstverwaltung der Leistungserbringer und –träger, die wiederum den politischen Rahmenbedingungen unterliegen. Derzeit halten Elemente des Wettbewerbs verstärkt Einzug in die Krankenversorgung. Das stellt die Verantwortlichen im Gesundheitswesen vor große neue Herausforderungen.

Die von der kirchlichen Diakonie getragenen Krankenhäuser reagierten und reagieren auf die zunehmenden finanziellen und ethischen Herausforderungen, indem sie einerseits neue Strukturen der Zusammenarbeit und Kooperation innerhalb der Einrichtungen und mit anderen Krankenhäusern zusammen entwickelten und sich andererseits der Diskussion stellten, was das spezifisch Christliche an einem Krankenhaus sei und wie dies in einem diakonischen Krankenhaus umzusetzen sei. Diese kritische Selbstreflexion führte u.a. dazu, dass es in Deutschland die Verbände der konfessionellen Krankenhäuser waren, die den Diskussionsprozess um die Errichtung von Ethikkomitees im Krankenhaus angestoßen haben.

Von den Veränderungen im Gesundheitswesen ist auch das traditionelle Selbstverständnis des ärztlichen Berufs betroffen. Seit jeher ist der Beruf des Arztes durch den Heilungsauftrag für Hilfesuchende geprägt. Das Verhalten des Ärztestandes wurde durch ethische Verhaltensregeln kodifiziert. Ein frühes Beispiel dafür ist der Hippokratische Eid. Heute sind die Berufsordnung und deren Präambel mit dem Genfer Gelöbnis für die Ärzteschaft verpflichtend [27]. Es haben sich damit gesellschaftliche Umgangsweisen zwischen Heilenden und Patienten entwickelt, zu denen in neuerer Zeit vielfältige Formen von Pflege- und Besuchsdiensten hinzugekommen sind.

In den zurückliegenden Jahren sind neben dem durch den Gedanken der Fürsorge und Therapie geprägten Ethos erneut Forderungen nach umfassender medizinischer Vorsorge hervorgetreten. Hier kommt der Mensch nicht als Patient in den Blick der Medizin, sondern als Gesunder, dessen Gesundheit der Aufmerksamkeit und des pfleglichen Umgangs bedarf, um erhalten zu bleiben. Dieser historisch gesehen bedeutende Bereich der präventiven Medizin verdient in Zukunft auch aus ethischen Gründen besondere Aufmerksamkeit.

Eine wichtige gesellschaftliche Entwicklung der letzten Jahrzehnte ist die Forderung nach verstärkter Respektierung der Mitsprache des Patienten. Hiermit war die Umsetzung des Konzepts der informierten Zustimmung (Informed Consent) verknüpft, d. h. der Einwilligung in eine medizinische Handlung nach entsprechender Aufklärung. Zunehmend selbstbewusstere und durch verschiedene Medien besser informierte Patienten fordern heutzutage Selbstbestimmung bei der Anwendung medizinischer Verfahren.

Änderungen im Verhältnis von Medizin und Patient traten außerdem durch die zunehmende Spezialisierung der ärztlichen Fachgebiete und anderer Berufszweige im Gesundheitswesen auf. Die Professionalisierung verschiedener Berufsgruppen in der Medizin führte für die Patienten zu einem vielfältigen Bezugssystem, durch welches das Zweierverhältnis der Arzt-Patient-Beziehung sich immer mehr erweiterte. Es ist davon auszugehen, dass sich die Vielschichtigkeit der Bezugssysteme für Patienten und Pflegebedürftige in Zukunft noch weiter spezifizieren wird. Das Verhältnis zwischen einem zunehmenden Erfordernis von Teamentscheidung, das sich ergibt aufgrund der speziellen Kenntnisse und Erfahrungen der einzelnen medizinischen Berufe, und der Letztverantwortung (und damit auch rechtlichen Haftung) des Arztes wird in der individuellen Entscheidungsfindung ein schwieriger Balanceakt bleiben.

Ein Großteil des Unbehagens, das der modernen Medizin entgegengebracht wird, hat mit einem Spannungsverhältnis und Ungleichgewicht zu tun, das zwischen der Ausrichtung der Medizin auf wissenschaftlich-technische Effizienz bei der Behandlung von Krankheiten und der Orientierung am Wohl des individuellen Patienten besteht. Nach Meinung kritischer Stimmen kommt in der heutigen medizinischen Praxis häufig das Zweite gegenüber dem Ersten zu kurz, wofür es vielfältige Gründe gibt.

Die Medizin ist der Prototyp einer praktischen Wissenschaft, die ihre Einheit in der Vielfalt ihrer Disziplinen von den Zielen her gewinnt, auf die sie gerichtet ist. Diese Ziele sind die Erkennung, Therapie und Heilung, Linderung sowie Verhütung von körperlicher und psychischer Krankheit. Die Medizin als Wissenschaft steht in einer instrumentellen Beziehung zu diesen Zielen. Sie stellt Mittel bereit – diagnostische, therapeutische, präventive – zu deren Erreichung. Dieser instrumentelle Charakter wird durch die naturwissenschaftliche Ausrichtung der modernen Medizin verstärkt.

Der Begriff der „Medizin als Kunst“ ist aber umfassender. Er hat das ärztliche Handeln im Allgemeinen und speziell die Interaktion zwischen Arzt und Patient im Blick. Der Bezugspunkt der medizinischen Kunst ist die Person des Patienten, die sich von ihrem Leib und ihrer Psyche unterscheidet und gleichwohl mit diesen eine Einheit bildet [28]. Der Patient wird damit ein unverwechselbares Individuum. Das Ziel der medizinischen Kunst geht über die rein naturwissenschaftliche „Reparatur“ des Körpers oder der Psyche hinaus und sorgt sich um das Wohl des Patienten als Person. Als diagnostisches und therapeutisches Bemühen des Arztes hat die medizinische Kunst einerseits ebenfalls instrumentellen Charakter im Hinblick auf dieses Ziel. In dieser Beziehung stützt sie sich auf die Erkenntnisse und Techniken, die die medizinische Wissenschaft bereitstellt. Andererseits gibt es aber auch Ziele, für die das ärztliche Handeln nicht Mittel ist, sondern die im Vollzug ärztlichen Handelns und in der Kommunikation zwischen Arzt und Patient realisiert werden [29]. Mit einer auf Aristoteles zurückgehenden Unterscheidung kann man hier vom ärztlichen Handeln einerseits als Poiesis sprechen, die ihr Ziel ausserhalb ihrer selbst hat und zu diesem in einer Zweck-Mittel-Relation steht, und andererseits als Praxis, die ihr Ziel in ihrem Vollzug realisiert. Mit diesem zweiten Aspekt hängt das traditionelle Tugendethos der Medizin zusammen. Für den Erfolg des ärztlichen Handelns bedarf es nicht nur medizinischer Fertigkeiten und Kenntnisse, sondern auch einer bestimmten Haltung, mit der der Arzt dem Patienten begegnet und über die er die Einstellung und Haltung des Patienten zu seiner Gesundheit und Krankheit mitbeeinflusst.

Für den Erfolg der Behandlung eines Kranken sind einerseits die adäquate (natur-) wissenschaftliche Erfassung der Krankheit, die zu behandeln das Ziel ist, sowie die dazu geeigneten Mittel entscheidend. Für den Erfolg der Behandlung ist aber auch entscheidend, dass in der Kommunikation zwischen Arzt und Patient herausgefunden wird, worin jeweils das Wohl des Patienten – als das hier anzustrebende Ziel – besteht und was diesem Wohl dient. Das lässt sich nicht in Absehung von der Person des Patienten definieren, vielmehr sind hier individuelle Wertgesichtspunkte seitens des Patienten zu beachten. Und es lässt sich auch nicht in einer für alle gleichermaßen gültigen Weise standardisieren. Dem Arzt und anderen im Gesundheitswesen Tätigen fällt hier die Aufgabe zu, dem Patienten dabei zu helfen, von seinem Selbstverständnis und seinen Werthaltungen her ein Verhältnis zu seinem kranken Körper oder seiner kranken Psyche und den ihm verbleibenden Lebensperspektiven zu finden als Voraussetzung für eine in eigener Einsicht gründende Entscheidung darüber, welchen medizinischen Eingriffen er (noch) zustimmen will und welchen er nicht (mehr) zustimmen will. Bei der ärztlichen Kunst wird damit die Poiesis ärztlichen Handelns gesteuert und begrenzt durch die Praxis der Kommunikation zwischen Arzt und Patient und durch die für diese leitenden Wertgesichtspunkte.

Es ist allerdings sehr zu fragen, ob für diese Probleme und Ungleichgewichte die moderne, naturwissenschaftlich ausgerichtete Medizin als solche verantwortlich zu machen ist oder ob man sie nicht besser einer Entwicklung zuschreiben sollte, welche die Medizin faktisch genommen hat und die im Prinzip korrigierbar ist [30]. Die Korrektur müsste darin bestehen, die Anwendung medizinischen Wissens und Könnens konsequenter am Ziel des Wohls des Kranken zu orientieren und sie von diesem her zu begrenzen, wo immer dies angezeigt ist. Viel kommt dabei auf die Einsicht an, dass das „Wohl“ des Patienten – als der letzte und eigentliche Grund für alle medizinischen Bemühungen - keine rein wissenschaftlich definierbare und realisierbare, sondern eine nur im Rahmen der Arzt-Patienten-Beziehung auszumessende Zielgröße ist. Dieser Beziehung muss daher das ihr gebührende Gewicht beigemessen werden. Im Rahmen der vielfältigen Beziehung zum Kranken muss die Anwendung medizinischen Wissens und Könnens so gestaltet werden, dass der individuelle Patient mit seiner je spezifischen Bedürftigkeit der Bezugspunkt medizinischen Handelns bleibt.

Diese Aufgabe kommt dem medizinischen Handeln auch aus christlicher Sicht zu. Gerade in dieser Sicht betreffen Gesundheit und Krankheit nicht nur den Körper und die Psyche, sondern den ganzen Menschen. Nicht nur die Gesundheit, sondern auch Krankheit, Behinderung und am Ende der Tod gehören zu der Bestimmung des Lebens, das einem Menschen von seinem Schöpfer gegeben ist. Dieses Leben mit seinen Gaben und Möglichkeiten, aber auch mit seinen Beeinträchtigungen und seiner Endlichkeit annehmen zu können ist daher etwas, das einem jedem Menschen als Lebensaufgabe mitgegeben ist. In dem Bemühen, ihm dabei zu helfen, treffen sich Medizin und kirchliche Seelsorge.

Der vom Geist der Liebe inspirierte ethisch angemessene Umgang mit Gesundheit und Krankheit zeigt sich in einer Reihe von unterschiedlichen Verhaltensweisen:

  • als grundlegende Orientierung der gesamten Medizin (als medizinische Forschung und als ärztliche Kunst) am Wohl des Menschen;
  • als verantwortlicher Umgang mit den finanziellen Möglichkeiten und materiellen Ressourcen;
  • als achtsamer Umgang mit eigener und fremder Gesundheit;
  • als Zuwendung zu den von Leiden, Krankheit und Behinderung Betroffenen;
  • als Bereitschaft zur Seelsorge, die kranke und sterbende Menschen sowie ihre Angehörigen begleitet und ihnen beisteht;
  • als Weisheit von Kranken und Ärzten, die erkennt, wann das Hinauszögern des Todes eines Menschen seinen Sinn und seine Berechtigung verloren hat und es nur noch geboten ist, in das Sterben einzuwilligen, es zu begleiten und zu erleichtern.

Wo ein Mensch so den Tod annehmen und im Frieden sterben kann, da wird ein wesentliches Element der Würde des begrenzten menschlichen Lebens und damit der Bestimmung des Menschen erlebbar. Dieser Ziel- und Endpunkt macht nicht rückwirkend allen Einsatz für die Gesundheit des Menschen sinnlos oder fragwürdig, sondern er besiegelt die – ihrerseits begrenzte – Bedeutung und Wichtigkeit, die dieser Einsatz aus der Sicht des christlichen Glaubens für das geschöpfliche Leben hat.

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