Konsens und Konflikt: Politik braucht Auseinandersetzung

Zehn Impulse der Kammer für Öffentliche Verantwortung der EKD zu aktuellen Herausforderungen der Demokratie in Deutschland, August 2017

3. Demokratische Streitkultur

Die Funktionsfähigkeit der Demokratie hängt davon ab, dass die Bürgerinnen und Bürger bereit sind, in gleicher Weise Verantwortung für die Gestaltung des eigenen Lebens zu übernehmen wie für das Zusammenleben in der Gesellschaft. Demokratische Politik folgt einem höchst anspruchsvollen Leitbild: der Vorstellung nämlich, dass aus dem vernünftig ausgetragenen Streit unterschiedlicher Positionen und Überzeugungen heraus politische Entscheidungen gefällt werden, die aufgrund der Art ihres Zustandekommens gerechtfertigt sind und daher von allen Beteiligten anerkannt werden sollen. Dieses Leitbild lässt sich nur dann verwirklichen, wenn alle Beteiligten die von ihnen vertretene Position immer wieder kritisch hinterfragen – und sich selbst hinterfragen lassen. Und zwar daraufhin, ob diese Position nicht nur den eigenen Interessen dient, sondern auch das Wohl des Gemeinwesens als Ganzes befördern kann und anderen genügend Freiräume für die Verwirklichung ihrer Lebensentwürfe einräumt.

Demokratie ist angewiesen auf Öffentlichkeit, Begegnung und Debatte – gerade um das Wohl des ganzen Gemeinwesens zu fördern.

Demokratien laufen immer wieder Gefahr, weit hinter ihrem eigenen Leitbild zurückzubleiben. Versuche, die gesellschaftliche Ordnung den Eigeninteressen mächtiger Gruppen zu unterwerfen, sind dabei ebenso problematisch wie der Rückzug der einzelnen Bürgerinnen und Bürger aus der politischen Meinungsbildung und die damit verbundene Aushöhlung des demokratischen Raums. Gegenwärtig wird diese Gefahr durch die Tendenz verstärkt, dass sich über die bereits bestehenden sozialen Gruppierungen hinaus in den sozialen Netzwerken positionell homogene Teilöffentlichkeiten („Echokammern“ oder „separierte Wirklichkeiten“) ausbilden, die einem öffentlichen Austausch von gegensätzlichen Argumenten und Meinungen ausweichen. Diese Gefahr besteht für alle Akteure, auch die Kirchen stellen hier keine Ausnahme dar. Das bedeutet: So sehr es gilt, die Chancen zur Partizipation zu nutzen, die eine internetbasierte Kommunikation bieten kann, so sehr ist darauf zu achten, dass die Nutzung der sozialen Medien nicht umschlägt in eine neue Privatisierung von Diskursen. Denn Demokratie bedarf der politischen Öffentlichkeit und einer politischen Kultur, die sich von anderen Positionen befragen lässt und nicht von vornherein die eigene Auffassung absolut setzt. Teil dieser Kultur muss es daher sein, das Gemeinsame als etwas zu verstehen, das sich nicht einfach von selbst einstellt. Es muss vielmehr im Prozess der Auseinandersetzung, des Fragens und der Kritik immer wieder neu gesucht und in Worte gefasst werden.

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