Konsens und Konflikt: Politik braucht Auseinandersetzung

Zehn Impulse der Kammer für Öffentliche Verantwortung der EKD zu aktuellen Herausforderungen der Demokratie in Deutschland, August 2017

4. Wandel gestalten – Vertrauen erhalten

Die vergangenen Jahrzehnte waren geprägt von einer bislang beispiellosen Überschreitung vorgegebener Grenzen. Überkommene gesellschaftliche und politische Ordnungsvorstellungen wurden infrage gestellt: durch wirtschaftliche und kulturelle Globalisierung, durch die Einführung und Verbreitung neuer Technologien (Digitalisierung, gentechnische Entwicklungen), die die Wahrnehmung der Wirklichkeit und damit auch das Denken beeinflussen, sowie durch einen grundlegenden und krisenhaften Umbruch der internationalen Beziehungen. Neue Lebensformen, zuvor nicht gekannte Mobilität und die Umgestaltung von Arbeitsverhältnissen haben eine Erweiterung von Freiheiten und Handlungsspielräumen mit sich gebracht. Sie führen aber auch zu Einengungen und zur Verunsicherung über den eigenen Ort bzw. die eigene Rolle in der Gesellschaft und über die gemeinsame Kultur. Auf die Zumutungen dieses Wandels reagieren Teile unserer Gesellschaft mit Hilflosigkeit und Abgrenzung. Dabei kaschiert die populäre Rhetorik eine wichtige Tatsache: Der Wandel der gemeinsamen Kultur verdankt sich keineswegs nur äußerem Anpassungsdruck, sondern er entsteht auch aus der Distanz oder Gleichgültigkeit gegenüber den eigenen Traditionen. Das gilt für die Pflege regionaler sozialer Gebräuche ebenso wie für die Pflege der christlichen Tradition.

Neue gesellschaftliche Bruchlinien bilden sich zwischen denen, die den Wandel als Chance sehen, und denen, die Angst haben, zu den Verlierern des Wandels zu gehören. Diese sehen ihre Lebenschancen bedroht; unter ihnen breitet sich das Gefühl aus, „abgehängt“ zu werden. Die Zugehörigkeit zu der einen oder anderen Gruppe lässt sich dabei nicht eindeutig bestimmen, sondern kennt zahlreiche Überschneidungen: Viele Menschen sehen und nutzen in einigen Bereichen die Chancen des Wandels und stehen ihm in anderen Bereichen skeptisch gegenüber. Andere wiederum empfinden ihre Situation subjektiv kritischer, als sie sich objektiv darstellt. Für die Demokratie ist es dabei zunächst unerheblich, ob sich dieses Gefühl auch an empirischen Fakten eindeutig belegen lässt. Entscheidend sind die Wahrnehmung der eigenen Lage und Rolle in der Gesellschaft und die daraus resultierende politische Positionierung. Eine eindeutige soziale Schichtung ist mit diesen Zugehörigkeiten nicht verbunden, weil sie sich quer durch die sozialen Klassen und Milieus finden lässt. Dennoch lässt sich empirisch belegen, dass ein beträchtlicher Teil derjenigen, die sich „abgehängt“ fühlen, sozioökonomisch zum unteren Drittel der Gesellschaft gehört.

Häufig, wenn auch nicht zwangsläufig, geht die unterschiedliche Wahrnehmung des gesellschaftlichen Wandels mit dem Bildungsgrad einher. Die Bruchlinie verläuft dann zwischen den Angehörigen von Bildungseliten und weniger gut bzw. flexibel ausgebildeten Schichten. Diese sind nicht selten auch weniger mobil; ihre Mittel reichen nicht aus, um die durch den Wandel eröffneten Möglichkeiten für sich fruchtbar zu machen. Vor allem aber fehlt ihnen die Zuversicht, die Freiheiten der Demokratie für sich nutzen zu können. Stattdessen sehen sie sich als Verlierer der Veränderungen und empfinden – mitunter nicht zu Unrecht – deren Lasten als ungerecht verteilt.

Die Demokratie muss Antworten finden auf wirtschaftliche und kulturelle Globalisierung, sozialen Wandel und Abstiegsängste.
Sie braucht Vertrautes und Vertrauen.

Die Gründe dafür sind vielfältig. Es gibt strukturelle Faktoren, die in erster Linie nicht im Verantwortungsbereich der Einzelnen liegen. So lässt es sich nicht leugnen, dass eine stark auf Produktivitätssteigerung und Wettbewerbsorientierung konzentrierte Wirtschaftsweise diejenigen an den Rand drängt, die dem Innovationsdruck nicht standhalten können. Darüber hinaus hängen die Möglichkeiten gesellschaftlich flexibler Beteiligung stark vom Bildungsgrad ab, sodass mangelnde Bildung auch mit geringeren Partizipationsmöglichkeiten einhergeht. Dass Bildung und Wohlstand unmittelbar zusammenhängen, verstärkt diese Eindrücke und Erfahrungen noch. Es ist in Deutschland nach wie vor nicht gelungen, den Zusammenhang von sozialer Herkunft und Schulerfolg zu durchbrechen. Es gibt aber auch subjektive Faktoren, die den Eindruck verstärken, abgehängt zu sein. So sind es mitunter die Folgen eigener Lebensentscheidungen, die die Einzelnen in diese Situation gebracht haben. In beiden Faktoren – strukturellen wie subjektiven – zeigen sich die Schattenseiten freiheitlicher Lebensweisen: Bei denen, die die Chancen der Freiheit nicht zu nutzen vermögen oder nicht nutzen möchten, verdichten sich leicht wirtschaftliche Abstiegsängste und der Eindruck, Beheimatung zu verlieren. Das führt zu einer Mentalität der Abgrenzung gegen das Fremde und „die Fremden“. Nicht selten verbindet sie sich mit einer Ablehnung der etablierten Politik: Diese wird oft eher als treibende Kraft des Wandels wahrgenommen statt in ihrer Schutzfunktion für die Einzelnen. Bei allen Zwängen der globalisierten Ökonomie und der daraus sich ergebenden weiteren Dynamisierung sind für eine demokratische Politik deshalb drei Dinge zentral: den Wandel zu gestalten, auf die Bedingungen sozialen Ausgleichs und Zusammenhalts zu achten sowie Räume des Vertrauten und des Vertrauens zu erhalten. Dazu gehört es, weder den Wandel noch das zu erhaltende Vertraute als alternativlos zu begreifen, sondern auch hier die demokratische Auseinandersetzung um das rechte Maß und das rechte Ziel zu suchen. Christinnen und Christen sollten sich aus ihrem Glauben heraus dazu ermutigen lassen, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken: indem sie im Vertrauen auf Gott die eigenen Kräfte zuversichtlich gebrauchen und selbst eine solidarische Mitmenschlichkeit leben.

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