Konsens und Konflikt: Politik braucht Auseinandersetzung

Zehn Impulse der Kammer für Öffentliche Verantwortung der EKD zu aktuellen Herausforderungen der Demokratie in Deutschland, August 2017

1. Christliche Freiheit und Demokratie als Lebensform

Im Jahr 2017 feiern die evangelischen Kirchen den Beginn der Wittenberger Reformation vor 500 Jahren. Hinter ihnen liegt ein langer und schmerzhafter Lernprozess, der sie die Bedeutung der reformatorischen Botschaft von der Freiheit eines Christenmenschen für das Zusammenleben in Staat und Gesellschaft erst allmählich erkennen ließ. Die evangelischen Kirchen in Deutschland gelangten nur schrittweise, nach dem Zusammenbruch von 1945 und im Angesicht des Grauens, das der Nationalsozialismus hinterlassen hatte, zu einer positiven Würdigung der Demokratie. Sie interpretieren heute die freiheitliche Grundordnung des Grundgesetzes als eine Entsprechung zu der Freiheit, die das Evangelium von Jesus Christus ermöglicht und verbürgt. Diese Freiheit beinhaltet immer zugleich die Freiheit zur Verwirklichung eigener Lebenschancen und die Verantwortung gegenüber dem Nächsten. Dass die unveräußerlichen Menschenrechte anerkannt sind, dass die staatliche Gewalt an das Recht gebunden ist, dass alle Entscheidungen des staatlichen Handelns grundsätzlich korrigierbar sein müssen: Diese Grundlagen der freiheitlichen Demokratie verstehen die Kirchen in Deutschland heute als Entsprechung zum christlichen Menschenbild, das von der Würde und Freiheit des Menschen ebenso spricht wie von seinen Begrenztheiten und seiner Anfälligkeit für Fehler. Auch im politischen Raum gilt: Der Mensch ist gerecht und Sünder zugleich.

Wie jede andere staatliche Ordnung ist die Demokratie einem steten Wandel unterworfen. Gerade weil sie die Freiheit ihrer Bürger zum Ziel hat, entfaltet sie auch eine besondere Veränderungsdynamik. Diese betrifft nicht nur das Leben in der Demokratie, sondern auch die Demokratie selbst. Solche Veränderungen sind in den letzten Jahren deutlich hervorgetreten: Die Gesellschaft der Bundesrepublik ist nicht nur pluraler und individueller geworden, sondern auch fragmentierter und stärker von Konflikten geprägt. Nicht bewahrheitet hat sich dabei die Erwartung, dass Konflikte durch eine „Fundamentalliberalisierung“ (Jürgen Habermas) entschärft werden und in ein Miteinander verschiedener Kulturen und Weltanschauungen münden könnten. Zwar ist die Gesellschaft offener geworden, aber mit dieser Offenheit steigt auch das Potenzial für Konflikte. Von den staatlichen Institutionen wird auch weiterhin eine umfassende Daseinsvorsorge erwartet. Gleichzeitig zeigen empirische Untersuchungen, dass das Vertrauen in Politiker, Parteien und Parlamente abnimmt. Die internationalen Verflechtungen sind auf der Ebene der Politik, aber auch auf den Ebenen von Wirtschaft und Gesellschaft stärker geworden. Gleichzeitig werden in den Auseinandersetzungen um die Kompetenzen der EU oder neue Freihandelsabkommen tiefgreifende Interessengegensätze deutlich. Nicht zuletzt ist die Rolle der Religion im politischen Raum wieder stärker sichtbar geworden. Gleichzeitig lassen die Bindekräfte der Kirchen nach, die noch vor wenigen Jahrzehnten gesellschaftsbestimmend waren.

Die Kirchen stehen für die Demokratie als Lebensform der Vielfalt ein.

All diese Veränderungen haben auch zu einem Wandel in der Praxis der Demokratie geführt. Die Denkschrift „Evangelische Kirche und freiheitliche Demokratie“ von 1985 konnte den politischen Konflikt noch problematisieren und thematisierte die Demokratie vorrangig als Verfahren, um Konsens in politischen Fragen zu erreichen. Heute stellt sich die Lage anders dar: Die Demokratie wird mit bleibenden Konflikten rechnen müssen. Sie steht vor der Herausforderung, erheblich vielfältigeren Lebensformen gerecht zu werden und gleichzeitig den gesellschaftlichen Zusammenhalt im Blick zu behalten. Zu dieser veränderten Demokratie müssen sich die evangelischen Kirchen verhalten und sich deren weiterentwickelte Strukturen und Prozesse neu aneignen. Dazu gehört insbesondere die Einsicht, dass der Konflikt nicht per se bereits eine Krise, sondern eher den Normalfall der Demokratie darstellt. Daher ist es auch kein realistisches Ziel, jeglichen Konflikt in Konsens zu überführen. Zwar ist die Demokratie darauf angelegt, verschiedene Interessen und Sichtweisen in ein förderliches Verhältnis zueinander zu bringen. Im Spannungsfeld von Konflikt, Kompromissen und Konsens kommt es aber vor allem auf eines an: Strukturen und Mentalitäten zu schaffen, die dabei helfen, mit Konflikten und Dissonanzen so umzugehen, dass deren destruktives Potenzial eingehegt wird. So können diese sowohl für den Einzelnen als auch für die Gesellschaft fruchtbar sein.

Die Demokratie ist mehr als eine Regierungsform: Sie beschreibt, wie Bürgerinnen und Bürger ihre eigenen Interessen und Freiheiten mit den Vorstellungen anderer in einen für alle förderlichen Ausgleich bringen können. Deshalb ist eine Demokratie nur stabil, wenn sie eingebettet ist in eine politische Kultur, in der die Bürgerinnen und Bürger sich gegenseitig als Freie und Gleiche anerkennen und achten. Das Grundgesetz nimmt diese Überzeugung auf, indem es die Achtung der Menschenwürde an den Beginn der Verfassung setzt und damit zum Auftrag und Maßstab des staatlichen Handelns macht (Art. 1 Abs. 1 GG). Eine solche politische Kultur ist nicht selbstverständlich gegeben, sie muss immer wieder neu errungen und verteidigt werden. In diesem Auftrag erkennen Christinnen und Christen ihre eigene, im befreienden Evangelium von Jesus Christus verankerte Berufung wieder.

Mit den nachfolgenden Überlegungen benennt die Kammer für Öffentliche Verantwortung der Evangelischen Kirche in Deutschland Aspekte, die aus ihrer Perspektive für das Verständnis der gegenwärtigen Praxis der Demokratie und ihre Weiterentwicklung unverzichtbar erscheinen. Damit ist zugleich zweierlei angesprochen: erstens die Herausforderungen, die sich für die Kirchen selbst und ihre Rolle in der freiheitlichrechtsstaatlichen Demokratie stellen, und zweitens der Beitrag, den die Kirchen für das Funktionieren dieser Demokratie zu leisten vermögen. Die Überlegungen beanspruchen dabei keine Vollständigkeit, sondern sind als Beitrag zu einer verstärkten Debatte um die derzeitige Gestalt und die anstehende Weiterentwicklung der Demokratie gedacht. Denn Christinnen und Christen würdigen und schätzen die Demokratie als den politischen Raum, in dem sie – wie die Angehörigen anderer Religionsgemeinschaften auch – ihren Glauben in Freiheit ausüben und das gemeinsame Leben aus ihrem Glauben heraus mitgestalten können.

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