Konsens und Konflikt: Politik braucht Auseinandersetzung

Zehn Impulse der Kammer für Öffentliche Verantwortung der EKD zu aktuellen Herausforderungen der Demokratie in Deutschland, August 2017

7. Repräsentation stärken

Der Rückzug von Bürgerinnen und Bürgern aus der demokratischen Beteiligung ist Ausdruck des Gefühls, im politischen Prozess nicht mehr vertreten zu sein – und verstärkt dieses Gefühl noch. In diesem paradoxen Verhalten liegt eine besondere Herausforderung für die Demokratie: Weil man sich nicht mehr repräsentiert fühlt, zieht man sich aus der politischen Beteiligung zurück und untergräbt darüber selbst jede Repräsentationsmöglichkeit. Angesichts einer Wahlbeteiligung von ca. 60 Prozent bei Landtagswahlen spricht man von der „Zweidritteldemokratie“ (Wolfgang Merkel). Diesen Sachverhalt nutzen Kritiker der repräsentativen Demokratie in ihrer derzeitigen Form, um deren Legitimität zu bezweifeln. Sie bringen stattdessen den von ihnen vermeintlich vertretenen Volkswillen gegen das Handeln der gewählten Amtsträger in Stellung. Das nicht mehr vertretene Drittel umfasst auch gesellschaftliche Gruppen, die sich nicht nur aus der politischen Beteiligung, sondern auch aus dem zivilgesellschaftlichen Engagement zurückgezogen haben. Marginalisierung und Selbstmarginalisierung führen so zu Mentalitäten, die die politische Repräsentation durch gewählte Mandatsträger grundsätzlich kritisch sehen und Politik nur noch als Geschäft der privilegierten gebildeten und ökonomisch starken Schichten – der „Eliten“ – auffassen. An dieser Bruchlinie zwischen den „Eliten“ und dem angeblich nicht mehr repräsentierten „Volk“ können dann politische Programme ansetzen, die einfache und klare Identitäten anbieten und die politische Arena mit dem Anspruch betreten, den nicht mehr gehörten Gruppen eine politische Stimme anzubieten.

Demokratie muss sich darum bemühen,
die vielfältigen Anliegen und Stimmen der Bürgerinnen und Bürger
im politischen Wettstreit zu Gehör zu bringen.

Diese Entwicklung ist ambivalent und macht gerade in dieser Ambivalenz die Herausforderungen deutlich, vor denen die Demokratie heute steht: Wenn es gelingt, über neue politische Parteien und neue zivilgesellschaftliche Gruppierungen den Zugang der jetzt am Rande stehenden Schichten zum demokratischen Diskurs zu befördern, ist diese Entwicklung im Interesse der demokratischen Kultur zu begrüßen. Angesichts der fortschreitenden Pluralisierung moderner demokratischer Gesellschaften ist es naheliegend, dass sich auch das Spektrum politischer Gruppierungen und Positionen vergrößert. Dies gilt umso mehr, als die etablierten Orte und Einrichtungen politischer Meinungsbildung dem Wettstreit unterschiedlicher Sichtweisen nur wenig Raum gelassen haben – Volksparteien ebenso wie in anderer Weise auch die Kirchen. Allerdings: In der Auseinandersetzung mit diesen Positionen muss sorgsam geprüft werden, ob neue Gruppen die „Repräsentationslücke“ wirklich schließen oder ob sie das nur behaupten und selbst die Klientelpolitik betreiben, die sie zu überwinden vorgeben. Manche Akteure stellen Freiheit und Pluralität und damit die Fundamente des politischen Prozesses selbst infrage. Derartige Gefährdungen müssen klar benannt werden. Darüber hinaus ist für alle Parteien kritisch zu prüfen, inwieweit wirklich die Interessen derer im Mittelpunkt des politischen Handelns stehen, für die das Mandat behauptet wird. Dies zu hinterfragen, ist vorrangig eine Aufgabe der Bürgerinnen und Bürger im demokratischen Prozess selbst und muss insbesondere über die eigene Wahlbeteiligung gesteuert werden. Die gerichtliche Überprüfung der Ziele politischer Gruppierungen kann nur das letzte Mittel des Rechtsstaates darstellen.

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