„…als wäre das letzte Kapitel aufgeschlagen worden“

Ein junger Armenier über die existentielle Bedrohung seines Volkes

Denkmal für den Völkermord in Eriwan, Armenien
Das Mahnmal für den Völkermord an den Armeniern in der Hauptstadt Eriwan.

Levik Amirkhanian (28) wurde als Sohn armenischer Eltern in Stuttgart geboren und lebt in Ludwigsburg. Dass sich hierzulande kaum einer für die armenische Frage interessiert, frustriert ihn. Im Interview spricht er über die Bedeutung von Freundschaften und die ungewisse Zukunft.

Sie sind in Deutschland geboren und hier aufgewachsen. Sprechen Sie in der Familie noch Armenisch?

Levik Amirkhanian: Das Armenisch-Sein spielt bei uns zu Hause eine große Rolle. Wenn ich die Wohnung meiner Eltern betrete, bin ich in einem armenischen Universum. Mein Vater besteht darauf, dass wir untereinander Armenisch sprechen. Er sagt, dass wir Armenier auf der Welt nur sehr wenige sind, und wenn wir nicht aussterben wollen, dann müssen wir unsere armenische Identität pflegen. Ich kann das verstehen.

Was heißt Armenisch-Sein in Deutschland? Spielt armenische Kunst, Literatur oder Musik bei Ihnen eine große Rolle?

Eigentlich interessiere ich mich generell nicht so sehr für Kunst, Literatur und Musik. Aber wenn ich zum Beispiel armenische Musik höre, dann merke ich, dass das ein Teil von mir ist. Ganz besonders, wenn es armenische Musik aus dem Iran ist, woher mein Vater stammt.

Ist die denn anders als armenische Musik zum Beispiel aus Syrien, Amerika oder Frankreich?

Ja, das ist ja das Großartige. Überall auf der Welt leben Armenier. Und es ist ein wunderbares Gefühl, wenn man als Armenier in ein anderes Land kommt und dort dann plötzlich Armenisch hört. Da ist dann sofort eine große Nähe, man bekommt schnell eine persönliche Beziehung zu dem Anderen. Das ist wie eine große Familie. In unserer Gemeinde in Stuttgart gibt es Armenier aus ganz verschiedenen Ländern, aus der Türkei, aus Georgien, aus Syrien oder auch aus Armenien. Und alle bringen ein bisschen was anderes mit, haben ein bisschen anderes Essen, ein bisschen andere Musik. Und trotzdem sind wir alle Armenier. Es ist großartig, gerade weil es so durchmischt ist. Da kann man viel Neues kennenlernen.

Wie ist das in Ihrem Freundeskreis? Haben Sie vor allem Freunde mit armenischen Wurzeln?

Als Jugendlicher war mein Freundeskreis noch recht bunt durchmischt. Da hatte ich Freunde mit ganz verschiedener Herkunft und Religion. Heute aber bin ich eher mit Leuten zusammen, die wie ich armenische Wurzeln haben.

Wie erklären Sie sich das?

Zum einen möchte ich nicht immer erklären müssen, warum ich Christ bin, warum ich zum Beispiel ein Kreuz trage und warum mir das alles wichtig ist. Das Christentum ist in Deutschland nicht mehr im Trend. Mein Eindruck ist, dass es in Deutschland heute wenig Verständnis dafür gibt, wenn man als Christ seinen Glauben lebt. Bei Muslimen ist es aber okay, wenn sie religiös sind. Ich bin lieber mit Menschen zusammen, denen ich nicht so viel erklären muss, was mir wichtig ist. Und zum anderen hat uns Armenier auch der 44-Tage-Krieg im Herbst 2020, als Aserbaidschan Armenien angegriffen und dann auch besiegt hat, stark zusammengeschweißt.

Wie haben Sie diese Zeit damals hier in Deutschland erlebt?

Wir haben Flyer gedruckt und verteilt, haben Kampagnen in den sozialen Medien geführt, um darauf aufmerksam zu machen, was im Kaukasus auf dem Spiel steht. Aber so richtig interessiert hat das niemanden. Das war frustrierend.  

Für viele, die keine armenischen Wurzeln haben, ist Armenien einfach weit weg ...

Ich will auch niemandem einen Vorwurf machen, wenn er oder sie sich nicht für die armenische Sache interessiert. Vielleicht würde es mir ja genauso gehen, wenn mir ein Freund aus Afrika zum Beispiel von schlimmen Vorgängen in seinem Heimatland erzählen würde. Aber wir Armenier haben im Herbst 2020 gemerkt, wie existenziell das für uns ist. Und wir haben es jetzt bei der Blockade Berg-Karabachs und dann bei der Eroberung durch Aserbaidschan noch einmal sehr deutlich gespürt. 

Aber Sie leben doch in Deutschland. Warum sind diese Ereignisse im Kaukasus für Sie existenziell?

Man muss das historisch sehen. Das, was heute Armenien ist, ist nur ein Bruchteil von dem, was früher einmal zum armenischen Großreich gehört hat. Im Lauf der Geschichte mussten die Armenier sehr viele ihrer ursprünglichen Siedlungsgebiete aufgeben. Nehmen Sie das Beispiel von Nachitschewan, die aserbaidschanische Exklave. Dort haben über Jahrhunderte Armenier gelebt. Heute aber erinnert nichts mehr daran, dass das einmal armenisches Kulturland war. Es gibt außerdem noch viel armenisches Land, das heute in der Türkei liegt. In Erewan kann man eigentlich von überall aus den Berg Ararat sehen, auf dem der Bibel nach die Arche Noah nach der Sintflut gestrandet ist. Dorthin können wir nicht, weil der Berg heute in der Türkei liegt. Jetzt haben wir Berg-Karabach verloren. In spätestens einer Generation wird die Spur armenischen Lebens dort nicht mehr erkennbar sein. Dann wird niemand mehr darüber sprechen.

Waren Sie schon einmal in Berg-Karabach?

Nein. Es macht mich aber sehr traurig, dass ich wohl nie in meinem Leben die armenischen Klöster und Kirchen in Berg-Karabach sehen werde.

Wie meinen Sie das?

Es wird vermutlich so laufen wie in Nachitschewan und alles wird zerstört werden, damit nichts mehr an die Armenier erinnert.

Was verbindet Sie mit dieser Region?

Für uns Armenier ist der Verlust von Berg-Karabach, als habe man das letzte Kapitel der Geschichte der Armenier im Kaukasus aufgeschlagen. Wir wissen alle, wie klein und schwach dieses Land ist. Niemand wird sich für die Interessen Armeniens einsetzen, weil es wirtschaftlich nicht interessant ist. Aserbaidschan hat schon mehrfach angedeutet, dass es auch Armenien erobern will. Es ist nur noch eine Frage der Zeit.

Kennen Sie Menschen aus Berg-Karabach?

Ja, ich habe einen Freund, der im Krieg 2020 stark verwundet wurde. Er kam nach Tübingen in ein Krankenhaus. Und der Pfarrer unserer Gemeinde in Stuttgart erzählte von ihm. Mein Vater hat damals zu mir und meinem jüngeren Bruder gesagt: Ihr seid auch junge Männer. Ihr fahrt zu ihm hin und kümmert Euch um ihn. Mir war nicht ganz wohl bei der Sache. Ich wusste nicht, was ich ihn fragen sollte, ohne oberflächlich zu wirken. Wir haben dann aber einen lebensfrohen Mann kennengelernt, der, obwohl er ein Auge verloren hatte und auch nur sehr schlecht laufen konnte, so positiv eingestellt war. Wir sind weiter in Kontakt und letztes Jahr habe ich ihn in Erewan getroffen.

Wie erleben Sie die Diskussion in Deutschland über Armenien und Berg-Karabach?

Es ist schwierig, sich darüber wirklich fundiert zu informieren. Um zu verstehen, was da wirklich passiert, muss man sich richtig einarbeiten. Es gibt keine einfachen Antworten. In den Medien müssen die Dinge aber immer in wenigen Sätzen erklärt werden. Mich hat zum Beispiel immer geärgert, wenn von „armenischen Rebellen“ in Berg-Karabach die Rede war, die nun „für Unruhe sorgten“. Man darf nicht nur beim Völkerrecht stehenbleiben und sich darauf berufen, dass Berg-Karabach völkerrechtlich nun einmal zu Aserbaidschan gehört. Man muss sich auch mit der Geschichte auseinandersetzen. Und je mehr man in die Thematik einsteigt, desto mehr merkt man, wie wenig man eigentlich weiß.

Wir hören immer wieder von antiarmenischen Hassposts in den sozialen Medien. Bekommen Sie davon etwas mit?

Ich selbst bin nur sehr wenig in den sozialen Medien unterwegs. Das ist kein Raum für eine differenzierte Auseinandersetzung. Aber was mich wirklich wundert, ist, dass es in Deutschland offenbar kein Thema ist, dass es hier laut Verfassungsschutz 12.000 Mitglieder der Grauen Wölfe gibt. Das ist eine rechtsextremistische Organisation, die offen antisemitisch, rassistisch und antiarmenisch ist. Warum interessiert das niemanden?!

Interview: Katja Dorothea Buck