Damit das Leben über den Tod siegt
Wie Christen nach dem Massaker in der Mar-Elias-Kirche weitermachen
Am 22. Juni 2025 ist das eingetreten, womit viele Christen in Syrien insgeheim schon lange gerechnet hatten. Nachdem im Frühjahr tausende Alawiten rund um Tartus und Latakia an der Mittelmeerküste Zielscheibe von islamistischer Gewalt geworden waren, war es für viele nur eine Frage der Zeit, wann es auch die Christen treffen würde.
Nur 51 Sekunden brauchte der Attentäter, um 22 Menschen in der Mar-Elias-Kirche mit sich in den Tod zu reißen und 60 Menschen zum Teil schwere Verletzungen zuzufügen. Boutros Beshara kann jede einzelne Sekunde rekonstruieren. Er ist der Priester der griechisch-orthodoxen Gemeinde in Dweilaa, einem Stadtteil von Damaskus. An jenem Sonntagabend hatte er Dienst und feierte gerade mit 250 Gemeindegliedern Gottesdienst. Der Attentäter, dessen Name später mit Muhammad Zain al-Abidin Abu Uthman angegeben wird, war kurz vor halb sieben mit dem Motorrad vor das Tor des Kirchhofs gefahren, im Gepäck ein Schnellfeuergewehr, eine Handgranate und einen Sprengstoffgürtel. Am Tor erschoss er zuerst die Sekretärin, am Seiteneingang, zwei Teenager. Vor dem Haupteingang wechselte er noch einmal das Magazin, warf die Handgranate in den Gottesdienstraum. Allerdings explodierte sie nicht. Danach eröffnete er das Feuer auf die Menschen, die betend in den Bänken saßen. Drei junge Männer aus der Gemeinde stürzten sich auf ihn, wollten ihn aus der Kirche drängen und fielen vor dem Ausgang unter dem letzten Kronleuchter mit ihm zu Boden. In dem Moment zündete der Attentäter seinen Sprengstoffgürtel.
Boutros Beshara steht vor dem Loch, welches die Detonation in den Boden gerissen hat. „Weil die jungen Männer auf ihm lagen, ist die Wucht der Sprengung nach unten geleitet worden. Sonst wäre es noch schlimmer geworden“, sagt er und fügt nachdenklich hinzu: „Sie haben mit ihrem Leben viele andere vor dem Tod bewahrt.“
Der Kirchenraum ist eine Baustelle. Neue Rohre werden im Boden verlegt, auf Gerüsten stehen Gipser und spachteln Risse und Einschusslöcher zu. Ein Kompressor macht die Verständigung etwas mühsam. Alles ist mit Zementstaub bedeckt. Beshara weist auf ein Loch in der Wand im Chorraum. Diese Kugel hätte eigentlich ihn treffen sollen. Doch weil der Attentäter bereits vor der Kirche um sich geschossen hatte, war der Priester nicht an seinem üblichen Platz, sondern gerade auf dem Weg zum Seiteneingang, um nachzuschauen, was los war. An die Minuten nach dem Attentat kann Beshara sich nicht erinnern. Die Detonation hatte auch die Ikonostase im Altarraum aus ihrer Verankerung gerissen. Der Priester wurde unter ihr begraben und fiel ihn Ohnmacht. Als er wieder erwachte, war die Kirche leer. Auch konnte er erst einmal nichts hören.
Die Umstände rund um das Massaker werfen viele Fragen auf. Wie später rekonstruiert wurde, hatte der Attentäter auf seinem Weg zur Kirche drei Checkpoints passieren müssen. Niemandem war aufgefallen, was er da alles mit sich führte. Und zwischen 18 Uhr und 19 Uhr waren Handy-Empfang und Internet in dem ganzen Stadtviertel abgeschaltet. Auf die Frage nach dem Warum lächelt Beshara kurz vieldeutig und zuckt mit den Schultern. Das müsse man die Verantwortlichen fragen. „Jedenfalls hat es eine Dreiviertelstunde gedauert, bis der erste Notarzt zu uns kam“, sagt er. Man habe vorher niemanden erreichen können.
Dafür hätten muslimische Nachbarn sofort Erste Hilfe geleistet. Auch in den folgenden Tage habe es große Solidarität von muslimischer Seite gegeben. Viele seien gekommen, hätten kondoliert und beim Aufräumen geholfen. Die offiziellen Stellen dagegen hätten mit Desinteresse geglänzt. Erst zwei Wochen nach dem Attentat habe die Polizei mit den Ermittlungen begonnen. „Und nach vier Wochen hieß es, man habe alles vergessen“, erzählt Beshara.
Auch wie die Regierung auf das Attentat reagierte, enttäuschte die Christen in ganz Syrien. Nur eine Ministerin, Hind Kabawat, stattete der Gemeinde einen Besuch ab. Sie ist selbst Christin. Übergangspräsident Ahmed al-Sharaa nahm lediglich das Telefon in die Hand und kondolierte zu den „Todesfällen“, sprach von „Opfern“ und von denen, „die gestorben sind“.
Der griechisch-orthodoxe Patriarch Johannes X. Yazigi sparte in seiner Traueransprache zwei Tage später nicht mit Kritik. „Herr Präsident, nur anrufen und kondolieren reicht nicht. Es braucht mehr. Unsere Toten sind doppelte Märtyrer. Sie sind für ihren Glauben und für ihre Heimat gestorben. Dies ist das schlimmste Massaker an Christen in Syrien seit 1860. Und es ist unter Ihrer Führung geschehen. Wir erwarten, dass die Regierung die Täter zur Rechenschaft zieht. Wir haben die Revolution begrüßt und Ihnen persönlich gratuliert. Wir haben Ihnen die Hand ausgestreckt, um mit Ihnen gemeinsam ein neues Syrien aufzubauen. Wir warten noch immer, dass auch uns gegenüber jemand die Hand ausstreckt.“
Dass ein Kirchenführer in Syrien so deutlich Kritik an der Regierung äußert, erstaunte viele. Doch mit seinen Worten sprach der Patriarch den Christen und vielen anderen aus dem Herzen. Der Anschlag sei nicht nur gegen die Christen gerichtet gewesen, sondern gegen alle, die ein Syrien aufbauen wollten, in dem alle einen Platz haben, egal welcher Religion sie angehören, hatte der Patriarch es formuliert.
Die Jugend der Mar-Elias-Gemeinde in Dweilaa fühlte sich ermutigt und zog in den folgenden Tagen skandierend durch die Straßen des Viertels. So würden sich nicht verjagen lassen. Würden bleiben, egal was komme. Sie hätten ein Recht auf ein Leben in Syrien.
„Ich habe sie irgendwann gebeten, ein wenig zurückzufahren in ihrem Protest“, sagt Priester Beshara. „Es bringt doch nichts, diejenigen zu provozieren, die uns den Tod wünschen. Wir dagegen sind Kinder des Lebens. Und das Leben muss weitergehen.“ Deswegen sei es ihm wichtig gewesen, dass die Gemeinde nicht aufhört, in der Mar-Elias-Kirche regelmäßig Gottesdienst zu feiern. Weil alles gerade eine große Baustelle ist, trifft man sich eben in den Kellerräumen. „Die Trauerfeier der 22 Märtyrer haben wir sogar hier im verwüsteten Gottesdienstraum gefeiert. Wir lassen uns unsere Kirche nicht nehmen“, sagt Beshara.
Anfang September fand nun auch die erste Taufe nach dem Attentat in der Mar-Elias-Kirche statt. Genau 22 Kinder empfingen die Heilige Taufe, in Erinnerung an die 22 getöteten Gemeindeglieder. „Wir haben die Taufe gefeiert wie eine große Hochzeit. Damit alle sehen können, dass das Leben über dem Tod siegt.“
Katja Dorothea Buck ist Fachjournalistin für religiöse Minderheiten und Religionsfreiheit im Nahen Osten und hat die Mar-Elias-Kirche in Damaskus Anfang Oktober 2025 besucht.