Christliche Kirchen in Syrien
Historisch bedeutend, konfessionell bunt, doch zahlenmäßig sehr klein
Die Bedeutung Syrien für die Kirchengeschichte kann nicht hoch genug geschätzt werden. Doch heute ist die Zahl der Christen dramatisch klein geworden. Zudem sind sie in so viele unterschiedliche Kirchen aufgeteilt, dass man schnell den Überblick verlieren kann. Hier der Versuch einer Einordnung.
Syrien ist christliches Ursprungsland. Bis in die allerersten Anfänge des Christentums reichen die Bezüge nach Syrien. In Damaskus wurde Saulus zum Paulus. Auch Antiochien, von wo aus der Apostel seine Missionsreisen in den Mittelmeerraum unternahm, und wo die Anhänger der neuen Religion zum ersten Mal „Christianoi“ genannt wurden, war damals Teil der römischen Provinz Syria.
Und hier ist schon die erste Verständnishürde zu nehmen. Denn wenn kirchengeschichtlich von „Syrien“ oder „syrisch“ die Rede ist, darf dies nicht auf den heutigen Nationalstaat Syrien bezogen werden, dessen Grenzen von Frankreich und Großbritannien erst Anfang des 20. Jahrhunderts gezogen wurden. Wenn es also um „syrische Christen“ geht, sind damit mitnichten alle Christen gemeint, die im heutigen Syrien leben. Vielmehr sind damit die Christen gemeint, welche zu den Kirchen gehören, die in den ersten Jahrhunderten des Christentums in der römischen Provinz Syria entstanden sind. Das sind die Syrisch-Orthodoxe Kirche mit ihrer späteren Abspaltung der Syrisch-Katholischen Kirche, die Assyrische Kirche des Ostens und ihr katholischer Zweig, die Chaldäische Kirche, sowie die Maronitische Kirche. Die ursprünglichen Siedlungsgebiete der syrischen Christen reichten von der Mittelmeerküste bis nach Mesopotamien, vom Taurusgebirge über das Hakkari-Gebirge bis hin zum Zagrosgebirge.
Mit „Syrisch“ wird auch eine Sprache bezeichnet, die allerdings nicht mit Arabisch verwechselt werden darf. Das Syrische (auf Englisch „syriac“) ist eine alte (Schrift-)Sprache, die sich aus dem Aramäischen entwickelt hat – der Sprache, die zu Zeiten Jesu in der gesamten Region gesprochen wurde. Syrisch ist bis heute die Liturgiesprache in der Syrisch-Orthodoxen Kirchen, der Maronitischen, der Assyrischen und der Chaldäischen Kirche, wobei zwischen Westsyrisch und Ostsyrisch zu unterscheiden ist – noch so eine kirchengeschichtliche Verästelung, die einen schnell den Überblick verlieren lässt.
Aber zurück zu Antiochia, das für das syrische Christentum bis in die Gegenwart identitätsstiftend ist. Die Stadt liegt heute in der Türkei und heißt mittlerweile Antakya. Nach wie vor führen vier Kirchen den Zusatz „von Antiochien“ in ihrem Namen, auch wenn sie dort nicht mehr präsent sind. So gibt es das „Griechisch-Orthodoxe Patriarchat von Antiochien und dem ganzen Orient“ mit Sitz in Damaskus. Zahlenmäßig ist dies die größte Kirche in Syrien. Ihre Gottesdienste werden nach byzantinischer Tradition, aber nicht auf Griechisch, sondern auf Arabisch gefeiert. Als Erbin der byzantinischen Staatskirche im syrischen Raum war sie lange Zeit von Griechen dominiert. Erst 1899 wurde der erste Araber zum Patriarchen gewählt. Fortan wurde die Kirche nicht nur personell, sondern auch in ihrer Identität immer mehr arabisiert. Man könnte sie als die arabisch-orthodoxe Kirche im Nahen Osten bezeichnen.
Ihre Gläubigen nennt man auch die Rum-Orthodoxen. Mit „Rum“ ist das alte „Ost-Rom“, also das frühere Byzanz (später Konstantinopel, heute Istanbul) gemeint. Im Nahen Osten ist diese Kirche für ihre innovative Jugendbewegung ab der Mitte des 20. Jahrhunderts bekannt, die auf andere Kirchen ausstrahlte und die Neubesiedlung von alten Klöstern ermöglichte. Zu ihren wichtigen Wallfahrtszentren gehören das Marienkloster von Saydnaya aus dem 6. Jahrhundert und das Kloster der Heiligen Thekla von Ma‘lula.
Seit 2012 ist Johannes X. Yazigi Patriarch dieser Kirche. Er ist der ältere Bruder des im Bürgerkrieg 2013 entführten griechisch-orthodoxen Erzbischofs von Aleppo, Boulos Yazigi. Wer ihn zusammen mit Gregorios Yohanna Ibrahim, dem syrisch-orthodoxen Metropoliten von Aleppo, damals im türkisch-syrischen Grenzgebiet entführt hat und was mit den beiden Kirchenführer danach passierte, ist bis heute nicht geklärt. Man weiß nur, dass die beiden auf dem Weg waren, um über die Freilassung zweier entführter Priester zu verhandeln.
In Damaskus hat seit 1959 auch der Patriarch der „Syrisch-Orthodoxen Kirche von Antiochien und dem ganzen Osten“ seinen Sitz. Diese Kirche musste im Laufe ihrer Geschichte aufgrund von Verfolgung ihren Sitz immer wieder verlegen. Vor Damaskus hatte sie für einige Jahrzehnte ihr Zentrum in Homs (1933-1959), davor mehr als 600 Jahre in Mardin in der Südosttürkei (1293-1932), davor weitere fünf Jahrhunderte in Amid (heute Diyarbakir, ca. 750 bis 1293). In Antiochien selbst hatte die Kirche nur bis 518 ihren Sitz. Und die folgenden zwei Jahrhunderte bis zur Niederlassung in Amid/Diyarbakir verbrachten die syrisch-orthodoxen Patriarchen und Bischöfe im Untergrund, um sich vor der byzantinischen Verfolgung zu schützen. Denn den Beschluss des Konzils von Chalcedon (451 n.Chr.), wonach die zwei Naturen Christi, die göttliche und die menschliche, „unvermischt, unverändert, ungetrennt und unteilbar“ seien, hatte die Syrisch-Orthodoxe Kirche neben der Koptisch-Orthodoxen und der Armenisch-Apostolischen Kirche abgelehnt. Entsprechend wurden sie in den folgenden Jahrhunderten wegen Häresie verfolgt. Von anderen Christen wohlgemerkt. Auch das ist ein Kapitel der Kirchengeschichte, das vielen nicht bekannt ist.
„Von Antiochien“ führt aber auch die Griechisch-Katholische Kirche in ihrem Namen. Offiziell heißt sie Melkitisch-Griechisch-Katholische Kirche von Antiochien, Alexandria und Jerusalem. Ihre Liturgiesprachen sind Arabisch und Griechisch. Sie ist 1724 aus einer Abspaltung vom griechisch-orthodoxen Patriarchat und einer Hinwendung zur Katholischen Kirche in Rom entstanden. Sie nahm den ursprünglichen Namen der Mutterkirche an, nämlich „melkitisch“. Das bedeutet königlich und verweist auf diejenigen, die dem König von Byzanz anhingen.
Eine weitere Kirche, nämlich die Maronitische Kirche, führt ebenfalls „von Antiochien“ in ihrem Namen. Sie hat ihren Sitz allerdings in Bkerké, im Libanon und hat sich schon im zwölften Jahrhundert der Römisch-Katholischen Kirche angeschlossen.
Welche Kirchen gibt es noch in Syrien?
Kaum ein Land ist konfessionell so bunt wie Syrien. Und manches erscheint auf den ersten Blick ziemlich unübersichtlich. Wer sich aber mit der Geschichte der einzelnen Kirchen befasst, lernt viel über innerkirchliche Auseinandersetzungen, Verfolgung und andere tragische Kapitel in der Menschheitsgeschichte. Neben den syrischen Christen leben heute in Syrien auch viele armenische Christen. Sie sind Nachfahren der Genozid-Überlebenden von 1915. Ihre Familien stammten ursprünglich aus den südöstlichen und östlichen Provinzen des Osmanischen Reiches, an dessen Ende die Jungtürken rigoros das Ziel eines ethnisch und religiös homogenen türkischen Staat verfolgten. Sie trieben rund 1,5 Millionen Armenier auf Gewaltmärschen Richtung Süden in den Tod. Wer überlebte, fand in Syrien Schutz. In Aleppo und Damaskus gibt es heute relativ große armenische Gemeinden. Die meisten von ihnen gehören der Armenisch-Apostolischen Kirche an.
Wie bei der Syrisch-Orthodoxen und der Griechisch-Orthodoxen Kirche gab es auch innerhalb der Armenischen Kirche im 18. Jahrhundert eine Bewegung, die sich für die Angliederung an die Katholische Kirche in Rom aussprach. So gibt es heute neben der Syrisch-Katholischen und der Melkitisch-Griechisch-Katholischen Kirche auch eine Armenisch-Katholische Kirche. Zu den mit Rom unierten Ostkirchen gehört aber auch die Chaldäische Kirche. Sie ist allerdings schon im 16. Jahrhundert aus einer Abspaltung von der Assyrischen Kirche des Ostens entstand.
Die Assyrischen Kirche des Ostens wiederum gehört zu den allerältesten Kirchen, die sich in den ersten Jahrhunderten vor allem außerhalb des Römischen Reiches zu einer Weltkirche entwickelte – ebenfalls ein Faktum, das nur wenigen Spezialisten in Kirchengeschichte bekannt ist. Bis nach Indien, Zentralasien und China reichte einst ihr Missionsgebiet. Heute ist sie selbst im Nahen Osten vielerorts nicht mehr präsent. Zu häufig litten ihre Anhänger unter Verfolgung. Nach dem Genozid an den Syrischen Christen 1915 bis 1918 im Osmanischen Reich und weiterer Verfolgung im Irak in den 1930er Jahren siedelten sich assyrische Christen vor allem im Nordosten Syriens in der Gegend von al-Hasaka und im Khabur-Tal an. Doch selbst dort waren sie nicht sicher. Im Februar 2015 eroberte der Islamische Staat die 36 assyrischen Dörfer am Khabur und trieb die rund 20.000 Christen in die Flucht. Zahlreiche Frauen und Mädchen verschleppten und versklavten die Terroristen. Kaum eine Familie ist seither wieder an den Khabur zurückgekehrt. Was einst die weltweit größte christliche Gemeinschaft war, ist heute nur noch eine ganz kleine Minderheit im Nahen Osten.
Die Lateinische Kirche, also die Römisch-Katholische Kirche, ist seit den Kreuzzügen im 11. Jahrhundert in Syrien präsent. Katholische Missionen, insbesondere durch die Franziskaner, breiteten sich ab dem 17. Jahrhundert in Syrien aus. Doch heute gehören die wenigsten Katholiken in Syrien der Römisch-Katholischen Kirche an. Die meisten sind Mitglied in einer der mit Rom unierten Ostkirchen.
Evangelische Christen gibt es erst seit dem 19. Jahrhundert in Syrien. Während die Armenisch-Evangelische Kirche aus einer innerkirchlichen Reformbewegung heraus entstand, sind die Nationale Evangelische Synodenkirche für Syrien und den Libanon oder die Alliance-Church Nachfolgerkirchen amerikanisch-presbyterianischer Missionsbewegungen. Anglikanische Christen gibt es nur sehr wenige in Syrien. Schließlich war Syrien während der Kolonialzeit unter französischem und nicht unter britischem Einfluss. Auch das lutherische Christentum hat in Syrien nicht nennenswert Fuß gefasst.
Wie überall auf der Welt sind in den letzten Jahrzehnten auch in Syrien charismatische und pfingstlerische Gemeinden entstanden. Allerdings ist die Anzahl ihrer Mitglieder kaum zu ermitteln. Zum einen waren sie vom Assad-Regime nicht gerne gesehen. So wurden Mitte der 1970er Jahre zum Beispiel die Adventisten verboten und zahlreiche Pastoren und Gemeindeglieder verhaftet, weil ihnen eine zu große Israel-Nähe vorgeworfen wurde. Auch Hauskirchen sind in Syrien seit einigen Jahren verboten, weil das Regime befürchtete, zu wenig Kontrolle über sie zu haben. Zum anderen werden freikirchliche Bewegungen auch von den etablierten Kirchen nicht gerne gesehen. Sie werfen ihnen „Sheep steeling“ vor, also das Abwerben der eigenen Mitglieder – und das in Zeiten, in denen alle Kirchen in Syrien sowieso schon unter einem enormen Mitgliederschwund durch Abwanderung leiden.
Die Zahl der Christen in Syrien ist seit 2011 nicht nur absolut, sondern auch prozentual dramatisch gesunken. Offizielle Zahlen wurden zwar schon lange nicht mehr erhoben. Doch Schätzungen gehen davon aus, dass der Anteil der Christen an der Bevölkerung bis vor dem Bürgerkrieg noch bei etwa zehn Prozent lag. Heute sind es wohlwollend geschätzt noch vielleicht zwei Prozent. Flucht und Emigration sind zwar kein rein christliches Thema. Auch viele Muslime haben in den letzten 15 Jahren ihre Heimat verlassen. Doch in einer Minderheit ist die Abwanderung insbesondere der jungen und berufstätigen Mitglieder besonders stark zu spüren. Irgendwann sind die Reihen so ausgedünnt, dass Gemeinden nicht mehr weiter existieren können. Die Zukunft der Christen im neuen Syrien ist vollkommen ungewiss. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die lange Tradition christlicher Präsenz in diesem Land demnächst endgültig zu Ende ist.
Katja Dorothea Buck ist Fachjournalistin für religiöse Minderheiten und Religionsfreiheit im Nahen Osten.