„Geliehen ist der Stern, auf dem wir leben“

Die Agenda 2030 als Herausforderung für die Kirchen. Ein Impulspapier der Kammer der EKD für nachhaltige Entwicklung. EKD-Texte 130, 2018

Vorwort

Wir leben in einer Zeit der globalen Krisen, die immer mehr die Zukunft des Lebens auf unserem Planeten in Frage stellen. Die Herausforderungen, vor denen die Weltgemeinschaft steht, sind riesig. Angesichts der Tatsache, dass immer noch über 800 Millionen Menschen von Hunger bedroht sind und jeden Tag über 20.000 Menschen an Hunger sterben, ist die Weltgemeinschaft von der Befriedigung der Grundbedürfnisse aller Menschen noch weit entfernt. Der Klimawandel schreitet voran und verschärft die Kluft zwischen Armen und Reichen, denn seine Folgen treffen die am stärksten, die am wenigsten dazu beigetragen haben und sich auch am wenigsten schützen können. Gegenwärtige und zukünftige Ressourcenknappheiten führen zur Zunahme von gewaltsamen Konflikten. Angesichts der Überschreitung der sogenannten planetarischen Grenzen in vielen Bereichen mit all ihren Folgen – insbesondere durch den menschengemachten Klimawandel – sind Mensch und Natur in allen Erdteilen mittel- und langfristig betroffen. Das Überleben der Menschheit und auch der Fortbestand der nichtmenschlichen Natur, wie wir sie heute kennen, ist in Gefahr.

Dieser Befund fordert nicht nur die Politik, sondern auch die Zivilgesellschaft heraus. Auch für die Evangelische Kirche in Deutschland ist diese globale Situation eine ­Herausforderung. Wir sehen die Natur als Schöpfung Gottes, deswegen kann uns nicht unberührt lassen, was sie zerstört. Den Menschen sehen wir als Ebenbild Gottes und deshalb mit einer unverletzlichen Würde ausgestattet. Deswegen können wir die Verletzung der Grundbedürfnisse vieler Menschen niemals hinnehmen.

Für die Kirchen ist die Frage nach einer nachhaltigen und zukunftsfähigen Entwicklung keineswegs neu. Der Ökumenische Rat der Kirchen hat bereits 1975 den Weckruf des Club of Rome zu den Grenzen des Wachstums aufgenommen und auf seiner Vollversammlung in Nairobi eine „just participatory and sustainable society“ gefordert.[1] Damit waren die Kirchen im ÖRK die Ersten, die den Begriff der Nachhaltigkeit im 20. Jahrhundert auf die globale Agenda gesetzt haben. Während die UN den Begriff der Nachhaltigkeit mit dem Brundtland-Bericht 1987 und der Rio-Konferenz 1992 als Leitbegriff für eine ökologische, sozialverträgliche und zukunftsfähige Entwicklung etablierte und ihn mit dem Beschluss der Nachhaltigkeitsziele 2015 zu einer neuen zentralen und für alle Staaten verbindlichen Orientierungsgröße erhob, haben die Kirchen im ÖRK aus innerkirchlichen theologischen Gründen den Nachhaltigkeitsbegriff durch die Wendung „Konziliarer Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“ ersetzt.

Inhaltlich hat der konziliare Prozess jedoch bereits in den 1980er Jahren die Themen aufgegriffen, um die es auch bei der heutigen Nachhaltigkeitsagenda geht: globale gerechte Strukturen und Beziehungen, friedliche und sichere Verhältnisse und die Bewahrung allen geschaffenen Lebens. Auch hier waren die Mitgliedskirchen im Ökumenischen Rat der Kirchen im ausgehenden 20. Jahrhundert Vorreiter und Avantgarde für gesellschaftliche und politische Diskurse.

Viel Rückenwind hat der Nachhaltigkeitsdiskurs durch die Verabschiedung der Nachhaltigkeitsziele durch die Vollversammlung der Vereinten Nationen 2015 in New York bekommen. Für 17 Politikfelder wurden hier weitreichende Ziele definiert, die bis 2030 erreicht sein sollen. Diese Nachhaltigkeitsziele stellen gegenüber den Millenniumsentwicklungszielen einen Fortschritt dar, weil sie weitgehender und radikaler sind, mehr Themenbereiche umfassen – darunter insbesondere ökologische Fragen – und alle Länder in die Pflicht nehmen – darunter auch Deutschland. Dass über 190 Staaten – Industrie, Schwellen- und Entwicklungsländer, die ja durchaus unterschiedliche Interessen haben – sich auf diese weitreichende gemeinsame Agenda verständigen konnten, ist ein großer Gewinn.

Als Vorsitzender des Rates der Evangelischen Kirche begrüße ich diese Agenda ausdrücklich, obgleich ich auch ihre Widersprüche und Zielkonflikte sehe. Ich unterstütze das Engagement der Bundesregierung zur Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele und erwarte, dass ihr Engagement darin noch konsequenter und kohärenter wird. Bei der Umsetzung der Ziele wollen wir als Evangelische Kirche in Deutschland die deutsche Politik kritisch-konstruktiv begleiten. Der vorliegende Text bietet eine gute Grundlage und zahlreiche Anregungen dafür.

Neuerdings gewinnt im Nachhaltigkeitsdiskurs die Rolle der gesellschaftlichen Werte, der Kultur und auch der Religion an Bedeutung, denn für eine nachhaltige Entwicklung muss nicht nur politisch umgesteuert werden, es muss vor allem ein Wertewandel und ein umfassender Mentalitäts- und Kulturwandel stattfinden.

Als Evangelische Kirche in Deutschland ist uns die besondere Verantwortung, die wir für einen solchen Werte- und Kulturwandel tragen, sehr deutlich. Diese Verantwortung nehmen wir – getragen von den Verheißungen Gottes und zugleich von seinem Ruf zur Umkehr – bewusst und dankbar an. Wir wollen in dem Umsetzungsprozess der Agenda 2030 Mahner, Mittler und Motor sein. Wir wollen zur Umkehr mahnen, wir wollen in gesellschaftlichen Zielkonflikten vermitteln und um faire Lösungen ringen. Und wir wollen selbst in unserer kirchlichen Praxis noch nachhaltiger und glaubwürdiger werden. Wenn uns das gelingt, dann können wir zum Motor einer nachhaltigen Entwicklung werden, zur treibenden Kraft des Wandels – wie bereits in den 1980er Jahren die Kirchen im Ökumenischen Rat der Kirchen.

Ich bin dankbar für die vielfältigen Initiativen, Gruppen, Gemeinden, kirchlichen und diakonischen Einrichtungen im Raum der Evangelischen Kirche, die hier bereits unterwegs sind. Ich danke den Mitgliedern der Kammer für nachhaltige Entwicklung für die Erarbeitung dieses ermutigenden und orientierenden Textes und wünsche ihm eine vielfältige und starke Resonanz.

Hannover, im September 2018

Landesbischof Dr. Heinrich Bedford-Strohm
Vorsitzender des Rates der
Evangelischen Kirche in Deutschland


[1] Wolfram Stierle, Dietrich Werner, Martin Heider (1996): Ethik für das Leben. 100 Jahre ökumenische Wirtschafts- und Sozialethik, S. 551.

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