„Geliehen ist der Stern, auf dem wir leben“

Die Agenda 2030 als Herausforderung für die Kirchen. Ein Impulspapier der Kammer der EKD für nachhaltige Entwicklung. EKD-Texte 130, 2018

3. Was wir suchen

3.1          Positionen der weltweiten Ökumene zur Nachhaltigkeit

Die Agenda 2030 ist für uns als Kirche wie ein (noch zu hebender) Schatz, denn sie greift vieles auf, was die ökumenische Bewegung bereits seit den 1970er Jahren, vor allem im „Konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“ gefordert hat:[8]

Die Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen 1968 in Uppsala befasste sich mit der Suche nach neuen Lebensstilen, die dem Leiden von Menschen durch Krieg und Ausbeutung gegenüber nicht gleichgültig sind, die den Kreislauf von Gewalt und Gegengewalt sprengen und sich der Erneuerung, auch durch Wissenschaft und Technik, öffnen.[9]

Es waren die Mitgliedskirchen des Ökumenischen Rates der Kirchen, die den Begriff der Nachhaltigkeit „sustainability“ erstmals 1974 in einer Weltkonferenz für Wissenschaft und Technologie und bei ihrer Vollversammlung 1975 in Nairobi auf die globale Agenda gesetzt haben.[10] Damit wurde eine Gesellschaft bezeichnet, die ihre inneren und äußeren Rahmenbedingungen in sozialer wie ökologischer Hinsicht gerecht und partizipatorisch gestaltet. Inspiriert wurde sie von einem Vortrag des Biologen Charles Birch, der von der prinzipiellen Gleichwertigkeit der Gerechtigkeits- und der ökologischen Thematik ausging und eine theologisch begründete Abkehr vom technokratisch-instrumentellen Naturverständnis forderte.

1983 wurde auf der Vollversammlung des Ökumenischen Rates in Vancouver der „Konziliare Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“ beschlossen, der bereits damals die Themen in einen Zusammenhang brachte, die man heute auch in der Agenda 2030 findet. In der Abschlusserklärung der Weltkonvokation zu Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung 1990 von Seoul „Now is the time“ werden die Untrennbarkeit von Gerechtigkeit und Frieden betont, insbesondere mit Blick auf die Gleichheit aller Rassen und Völker sowie zwischen den Geschlechtern, die handlungsleitende Bedeutung der Option für die Armen ebenso wie die der Menschenrechte und die Achtung vor der Erde als Eigentum Gottes.

Die Option für die Armen wird im gemeinsamen Wort des Rates der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz 1997 zur wirtschaftlichen und sozialen Lage als entscheidender Maßstab für „alles Handeln und Entscheiden in Gesellschaft, Politik und Wirtschaft“ benannt, das „an der Frage gemessen werden (muss), inwiefern es die Armen betrifft, ihnen nützt und sie zu eigenverantwortlichem Handeln befähigt“[11]. Stand in diesem Wort die Frage nach Gerechtigkeit und Teilhabe im Zentrum, erweiterte sich später der Blick und benannte auch die Zusammenhänge zwischen Umweltzerstörung und Ungerechtigkeit.

Die ökumenische Debatte über eine „Wirtschaft im Dienst des Lebens“ wurde auch in der EKD aufgenommen. Dies zeigt sich in zwei Erklärungen, die von der Synode 2008 in Bremen verabschiedet wurden und angesichts der Finanz-, Wirtschafts- und Klimakrise einen grundsätzlichen Wandel von Wirtschaftsweise und Lebensstil forderten, um die Spaltung der Bevölkerung in Bedürftige und Wohlhabende zu überwinden, die natürlichen Lebensgrundlagen für zukünftige Generationen zu bewahren und die Tragfähigkeit der ökologischen sowie der ökonomischen Systeme zu sichern.[12]

In der Denkschrift des Rates der EKD 2009 „Umkehr zum Leben. Nachhaltige Entwicklung im Zeichen des Klimawandels“ wird unterstrichen, dass der Begriff der Entwicklung im Zeitalter des Klimawandels überdacht werden muss, orientiert an den Leitwerten der Gerechtigkeit und der Nachhaltigkeit, dem Lebensrecht aller Menschen und dem Eigenwert der nichtmenschlichen Natur. Diese Denkschrift formulierte Leitlinien für eine gerechte und nachhaltige Klima- und Entwicklungspolitik und deren zentrale Handlungsfelder – Energie- und Verkehrspolitik, Ernährungssicherung, Anpassung an den Klimawandel, Flucht und Migration –, die sich in der Agenda 2030 wiederfinden.[13]

Die Notwendigkeit, die internationale Kooperation zu stärken und bestehende Institutionen der Vereinten Nationen zu reformieren, stand im Zentrum der EKD-Studie der Kammer für nachhaltige Entwicklung „Nachhaltige Entwicklung braucht Global Governance“; auch hier setzt die Agenda 2030 mit SDG 10 (Weniger Ungleichheiten), 16 (Frieden, Gerechtigkeit und starke Institutionen) und 17 (Partnerschaften zur Erreichung der Ziele) einen starken Akzent.[14]

Der Aufforderung von 2009, den Entwicklungsbegriff zu überdenken, entsprach schließlich eine Studie der Kammer für nachhaltige Entwicklung von 2015 („… damit sie das Leben und volle Genüge haben sollen“) und betonte die Notwendigkeit einer sozialökologischen Transformation in allen Ländern, ein Grundgedanke der Agenda 2030. Als zentrale Handlungsfelder benennt diese Studie die Friedenssicherung, die Umsetzung der Menschenrechte, die Verbesserung der Politikkohärenz und die Stärkung von globaler Zusammenarbeit sowie die Neuorientierung der Zusammenarbeit mit Entwicklungsländern.

2013 hat die Vollversammlung des ÖRK in Busan den „Pilgerweg der Gerechtigkeit und des Friedens“ beschlossen, der von den Mitgliedskirchen sowohl im direkten Sinne als auch im übertragenen Sinne als spirituelle Suchbewegung verstanden und mit Leben gefüllt wird.

In allen diesen Texten und Aufrufen wird Nachhaltigkeit verstanden als ein Konzept, demzufolge eine Generation ihre Bedürfnisse befriedigen kann, wenn dadurch die Befriedigung der Bedürfnisse der nachfolgenden Generationen nicht gefährdet wird. Bedingung ist dabei die Einhaltung der ökologischen planetaren Grenzen dieser Erde. Die EKD vertritt somit das Verständnis einer „starken Nachhaltigkeit“, demzufolge Naturkapitalien und Naturgüter mindestens konstant gehalten bzw. gestärkt werden müssen.[15]

3.2          Ansprüche über die Agenda 2030 hinaus

Ähnlich wie die Agenda 2030 argumentierte die Kammer für nachhaltige Entwicklung 2015, dass in allen Ländern ein grundlegender Wandel in Wirtschaft und Gesellschaft nötig ist, um zukünftig allen Menschen ein würdiges Leben zu ermöglichen. Dabei sollten „die reichen Länder (. . .) die Verantwortung übernehmen und vorangehen: weil sie nach wie vor den im Durchschnitt höchsten konsumbedingten Ressourcenverbrauch aufweisen, weil sie historisch gesehen den absolut höchsten Verbrauch haben, weil es schwer vermittelbar ist, dass anderen Gesellschaften das verwehrt würde, was hiesige Gesellschaften seit Jahrzehnten beansprucht haben, und schließlich, weil ihnen nach wie vor eine gewisse Vorbildfunktion zugeschrieben wird. Auch die aufstrebenden großen Entwicklungsländer werden jedoch in naher Zukunft mehr Verantwortung in diesem umfassenden Sinne übernehmen müssen, d. h. für ihre eigene Bevölkerung wie für schlechter gestellte Länder, für globale Gemeingüter in Gegenwart und Zukunft.“[16] Somit bestehen große Übereinstimmungen zwischen den evangelischen und ökumenischen Stellungnahmen und der Agenda 2030 zum Verständnis einer nachhaltigen Entwicklung und zum Verständnis der notwendigen Transformation, um diese Ziele nachhaltiger Entwicklung der UN zu erreichen.

Dennoch gibt es auch erkennbare Unterschiede zwischen der Agenda 2030 und dem Denken der Kirchen in der Ökumene. Auch wenn der Anspruch der Ziele nachhaltiger Entwicklung weitreichend und kühn ist, so weisen Fragestellungen und Suchbewegungen der Kirchen noch über den Anspruch der Agenda 2030 hinaus. Es sind Fragen, auf die auch die Kirchen noch keine erschöpfenden Antworten haben, die aber innerhalb und außerhalb der Kirchen breit diskutiert werden und dringend bearbeitet werden müssen, wenn es zu der von der Agenda 2030 angestrebten großen Transformation kommen soll.

Eine wichtige Frage ist die nach dem Verhältnis von Wohlstand und Wachstum und die noch grundlegendere Frage, was überhaupt unter Wohlstand verstanden wird und wie Wohlstand zu messen ist. Diese Frage wird in der Agenda 2030 nicht wirklich geklärt. Es wird unter dem SDG 8 zwar ein „nachhaltiges Wirtschaftswachstum“ gefordert, das den Druck auf die Ökosysteme nicht erhöhen darf und die Ungleichheit verringern soll, aber was darunter verstanden wird, bleibt unklar. Der Verweis auf das Bruttoinlandsprodukt (BIP) zeigt außerdem, dass hier auf eine Messgröße Bezug genommen wird, die im Hinblick auf Wohlstandsmessung nicht ausreichend und im Nachhaltigkeitsdiskurs eigentlich auch schon überholt ist. Zwar wird in der Agenda 2030 zugegeben, dass es zusätzlicher Messgrößen zur Messung von Wohlstand bedarf. Aber zu diesem Thema gab es in den Verhandlungen zur Ausarbeitung der Agenda 2030 Differenzen, die nicht wirklich ausgetragen, sondern nur mit Formelkompromissen übertüncht wurden. Den Kirchen geht es hier zentral um die Frage, was eigentlich ein gutes Leben ist, was dazugehört und was nicht.

Damit eng verknüpft ist die Frage nach der Ressourceneinsparung und einer „Ethik des Genug“ (Suffizienz). Es fällt auf, dass dieser Gedanke der Suffizienz in der Agenda 2030 fast nirgends zu finden ist. Vorrangig sind Maßnahmen der Umsteuerung in Richtung Nachhaltigkeit und Effizienz. Lediglich bei einem Unterziel zum Ziel 12 „Nachhaltiger Konsum“ wird bei der Frage der Abfallentsorgung von Vermeidung und Verminderung gesprochen. Ohne Suffizienzstrategien, ohne ein Weniger an Ressourcenverbrauch, an Produktion, an Konsum, an Energieverbrauch, an Mobilität etc. werden sich aber die Ziele nachhaltiger Entwicklung – insbesondere solche, die sich auf die Erhaltung des ökologischen Gleichgewichtes beziehen – nicht erreichen lassen. Es fällt generell auf, dass in Stellungnahmen der Politik und der Wirtschaft zur Nachhaltigkeit solche Suffizienzstrategien fehlen. Hier sind die Kirchen schon seit geraumer Zeit einen Schritt weiter gegangen, in dem sie sehr deutlich die Einhaltung von Grenzen und eine andere Praxis in Richtung einer „Ethik des Genug“ fordern.[17]

Ein weiterer Punkt, den wir in der Agenda 2030 vermissen, ist die Frage, welche kulturellen Veränderungsprozesse es eigentlich braucht, um zu der geforderten Transformation zu kommen. Zur Umsetzung der Ziele nachhaltiger Entwicklung braucht es nicht nur entschlossene und handlungsbereite Regierungen, sondern auch einen grundlegenden Kultur- und Wertewandel in den Gesellschaften, in dem die Achtsamkeit gegenüber der Schöpfung sowie gegenüber den Bedürfnissen anderer Menschen und zukünftiger Generationen und das Nachdenken über den Wert des Lebens jenseits von Wachstum und Konsum an Bedeutung gewinnen.

Hierfür ist die Rolle von Religion und Spiritualität nicht zu unterschätzen. Als Kirchen wollen und können wir für solche Suchprozesse wichtige Beiträge leisten. Wir können zwar keine fertigen Lösungen anbieten, aber doch Suchprozesse anstoßen oder uns an ihnen beteiligen. In diesen Suchbewegungen lassen wir uns leiten von den großen biblischen Visionen von der zukünftigen Welt Gottes, in der Gerechtigkeit und Frieden sich durchsetzen, in der die Tränen abgewischt und Gewalt und Tod besiegt sein werden. „ Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde…und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein; und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein . . .“ (Offb 21,1a.3b-4). Diese Visionen geben uns die Kraft und die Ausdauer, schon in der gegenwärtigen von Gewalt und Ungerechtigkeit gezeichneten Welt immer wieder Zeichen dieses zukünftigen Friedensreiches zu setzen.

 

[8]    Vgl. Heinrich Bedford-Strohm (2001): Schöpfung in der Ökumenischen Bewegung, Göttingen; ders.: Die Entdeckung der Ökologie in der ökumenischen Bewegung (2008), in: Hans-Georg Link, Geiko Müller-Fahrenholz (Hrsg.), Hoffnungswege. Wegweisende Impulse des Ökumenischen Rates der Kirchen aus sechs Jahrzehnten, Frankfurt, S. 321 – 347.

[9]    Vgl. Wolfgang Stierle, Dietrich Werner, Martin Heider (1996): Ethik für das Leben: 100 Jahre Ökumenische Wirtschafts- und Sozialethik, S. 272 ff. (Alternativ, aber für viele nicht so erreichbar: Bericht aus Uppsala 1968. Offizieller Bericht über die Vierte Vollversammlung des ÖRK, Uppsala 4.–20. Juli 1968, hg. v. Norman Goodall, Deutsche Ausgabe besorgt von Walter Müller-Römheld, Genf 1968, S. 93 – 97).

[10]    A.a.O., S. 550 f.

[11]    Vgl. Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit. Wort des Rates der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland, Gemeinsame Texte 9, Hannover/Bonn 1997, S. 44 f.; https://www.ekd.de/ekd_de/ds_doc/sozialwort_1997.pdf.

[12]    Vgl. EKD-Synode 2008 „Beschluss zu verbindlichen Regeln für die globalen Finanzmärkte“; https://www.ekd.de/synode2008/beschluesse/beschluss_kapitalmarkt.html und Kundgebung der EKD-Synode 2008 „Klimawandel – Wasserwandel – Lebenswandel“; https://www.ekd.de/synode2008/beschluesse/beschluss_kundgebung_klima_wasser_lebenswandel.html.

[13]    Vgl. Umkehr zum Leben. Nachhaltige Entwicklung im Zeichen des Klimawandels. Denkschrift des Rates der EKD, Gütersloh 2009; https://www.ekd.de/klimawandel.htm.

[14]    Vgl. Auf dem Wege der Gerechtigkeit ist Leben. Nachhaltige Entwicklung braucht Global Governance. Eine Studie der Kammer der EKD für nachhaltige Entwicklung, EKD-Texte 117, Hannover 2014; https://www.ekd.de/ekdtext_117.htm.

[15]    Dies liefe in der Praxis z. B. auf die Renaturierung geschädigter ökologischer Systeme hinaus, auf Aufforstung und den Wiederaufbau übernutzter Fischbestände. Vgl.  „. . . damit sie das Leben und volle Genüge haben sollen.“ Ein Beitrag zur Debatte über neue Leitbilder für eine zukunftsfähige Entwicklung. Eine Studie der Kammer der EKD für nachhaltige Entwicklung, Hannover 2015, EKD-Texte 122, S. 62; https://www.ekd.de/ekdtext_122_leitbilder.htm.

[16]    A.a.O., S. 86.

[17]   Vgl. Die Denkschrift der EKD „Umkehr zum Leben“, S. 156, aber auch Initiativen wie „Umkehr zum Leben“, „anders wachsen“ oder das sogenannte „Klimafasten“; www.umkehr-zum-leben.de, www.anders-wachsen.de und www.klimafasten.de.

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