„Geliehen ist der Stern, auf dem wir leben“

Die Agenda 2030 als Herausforderung für die Kirchen. Ein Impulspapier der Kammer der EKD für nachhaltige Entwicklung. EKD-Texte 130, 2018

1. Was uns trägt

Die Erde ist des Herrn,
geliehen ist der Stern, auf dem wir leben,
drum sei zum Dienst bereit,
gestundet ist die Zeit, die uns gegeben
[2]
 

1.1  Das Geschenk der Schöpfung und die christliche Antwort

„Und Gott sah an alles, was er gemacht hatte, und siehe, es war sehr gut.“ (Gen 1,31) Wie ein Refrain ist vielen von uns diese biblische Geschichte über den Ursprung allen Lebens vertraut. Wir glauben an Gott, der diese Welt gut geschaffen hat und ihre Vollendung will. Zugleich erzählt die Bibel von der anderen Seite der Schöpfung, die auf Versöhnung angewiesen ist: Mühsal und Brudermord, Sintflut und urbaner Größenwahn, Hungersnot und Versklavung. Immer wieder wird deutlich, dass Gott Menschen viel zutraut und zumutet. Die Psalmen der Gemeinden, die Erfahrungen von Noah und Abraham, von Joseph, Jakob, Mose, Hiob und vielen anderen berichten davon. Gerade in unguten Lebenserfahrungen hat Gott sich immer wieder als der erwiesen, „ der Treue hält ewiglich“ (Ps 146,6). Mit Gottes Hilfe sind Menschen stark. In vielen Geschichten erzählt die Bibel, wie Gott mit den Menschen und der Schöpfung immer wieder neu beginnt, von der Befreiung aus der Knechtschaft in Ägypten, aus dem Exil in Babylon, vom Bundesschluss mit dem Volk Israel, von Leben, Sterben und Auferstehung Jesu Christi, bis zu der bleibenden Zusage: „ Denn siehe, ich will ein Neues schaffen“ (Jes 43,19; 65,17; Offb 21,5). Die in der Exodus- und Schöpfungsgeschichte erkennbare und in Jesus Christus bezeugte Liebe Gottes zur Welt (Joh 3,16) macht uns dankbar und hilft uns, für unsere Zeit zu bekennen: Gottes Weisung „ . . . füllet die Erde und machet sie euch untertan“ (Gen 1, 28) wurde auch als Freibrief zur Ausbeutung der Schöpfung missbraucht. Christen können nicht leugnen, dass sie durch diesen Missbrauch zu dieser Ausbeutung beigetragen haben: Leid und Zerstörung in unbekanntem Ausmaß, bleibende Armut und Hungersnot, himmelschreiende Ungleichheit, von Waffenexporten genährte Kriege, Müll im Meer, Säure im Regen, Nitrat im Boden, zu viel CO2 in der Luft. Im Lichte von Gottes liebender Weltzuwendung erkennen Christen ihre Verantwortung für das „ Seufzen der Schöpfung“ (Röm 8,22). Aber Umkehr und Neubeginn sind möglich.

Menschen sind in unserer Zeit dabei, die ökologischen Grenzen des Planeten zu sprengen – keiner allein, aber fast alle mit ihrem Anteil. Manche reden daher vom „ Anthropozän“, als dem nun begonnenen Erdzeitalter, in dem der Mensch der entscheidende Einflussfaktor geworden ist für die weitere biologische und atmosphärische Entwicklung der Schöpfung. Gerade die „fortschrittlichen“ Länder haben keinen nachhaltigen Lebensstil. Die Welt leidet besonders unter dem Lebensstil der Mittel- und Oberschicht in den reichen Ländern. Aber auch die Eliten in den ärmeren Ländern tragen Verantwortung für die Überschreitung der planetaren Grenzen. Wer heute dafür hält, die Rettung der kippenden Welt sei Gottes Sache, der spekuliert auf das, was Dietrich Bonhoeffer „billige Gnade“ nannte, und stellt sich Gottes liebender Weltzuwendung in Jesus Christus nicht zur Verfügung. Sie bewahrt uns vor falschen Machtansprüchen und erinnert uns an das eigene Dasein als Geschöpf, dessen Annahme uns aufgegeben ist. Unsere Verantwortung gewinnt dadurch ein neues Gesicht. Nicht als Herrschaftsanspruch versteht sie sich, sondern in Christus stellt sie sich in den Dienst von Gottes Schöpfung und ihrer Erhaltung. Wenn es um Nachhaltigkeit geht, gibt es nichts schönzureden: Wir Menschen machen uns schuldig. Wir werden unserer Schöpfungsverantwortung nicht gerecht. Wir lieben unsere Nächsten nicht wie uns selbst, wir sorgen nicht gut für das Geschenk der Schöpfung. Zugleich glauben wir Christinnen und Christen: Nichts kann größer sein als Gottes Liebe, die er uns in Jesus Christus gezeigt hat. In dankbarer Freude wollen wir antworten mit einem vor Gott verantwortlichen Leben.

Beides, die Erfahrungen menschlicher Tiefen und die Zusagen Gottes, ermöglichen christlichen Realismus. Dieser leugnet nicht Abgründe und Katastrophen, Resignation und Ratlosigkeit. Zugleich gibt er Zuversicht und Orientierung. Er öffnet den Horizont, um weltweit zu sehen, zu urteilen und zu handeln. Beschenkt mit dem Leben und seinen Möglichkeiten stellen wir uns den Fragen unserer Zeit: „Was sollen wir tun? Was kann bleiben? Was muss neu werden?“ Getragen von diesem Zuspruch Gottes können Christinnen und Christen sich als Pilgerinnen und Pilger auf Erden dankbar, fröhlich und inspiriert, selbstkritisch und ökumenisch auf den Weg des Lebens, den Weg der Gerechtigkeit, des Friedens und der Bewahrung der Schöpfung machen. Dankbarkeit ist ein Augen-Öffner und eine Kraftquelle für die Wege, die wir zur Reformation und Transformation der Welt vor uns haben. Menschen, die den Zusagen des Alten und des Neuen Testaments vertrauen, wissen Gott als verlässlichen Partner, der Zusagen hält. Wir sehen neu: Das griechische Wort „Ökumene“ meinte immer die ganze bewohnte Erde. Diese ökumenische Perspektive wollen wir unter dem Gesichtspunkt der Nachhaltigkeit wieder frisch und neu in unseren Wahrnehmungs-Horizont hineinnehmen.

1.2 Dank als Lebenshaltung

Wo wir handeln, haben wir eine Haltung, die mehr ist als Berechnung. Wir Christinnen und Christen glauben an einen Gott, der wie eine liebevolle Mutter und ein liebevoller Vater zu allen Menschen ist. Er will, dass wir wie Schwestern und Brüder miteinander umgehen und seine Schöpfung in ihrer Vollständigkeit und Schönheit bewahren (vgl. Vancouver-Botschaft, ÖRK, 1983). Gott will, dass alle Menschen ein gutes Leben und „volle Genüge“ haben (Joh 10,10). Der Psalmist erinnert uns: „ Die Erde ist des Herrn und was darinnen ist, der Erdkreis und die darauf wohnen“ (Ps 24,1). Weltweit engagieren sich Christinnen und Christen ökumenisch im „Konziliaren Prozess für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung“. Unsere Beiträge zu einer nachhaltigen und zukunftsfähigen globalen Entwicklung können darauf aufbauen.

Das Leben auf unserem Planeten hat Grenzen. Wir Menschen sind dabei, sie zu übertreten. „Weiter so“ geht nicht mehr. In vielen Fällen wäre weniger mehr: weniger Feinstaub, weniger Müll, weniger Lärm, weniger betonierte Flächen, weniger Ausgrenzung, weniger Antibiotika in der Tierhaltung, weniger Zerstörung der Artenvielfalt. Die alte Weisheit einer „Ethik des Genug“ wird neu verständlich. Der christliche Glaube gibt die Freiheit zur Begrenzung. Er hilft uns, die aktive Begrenzung eigener Möglichkeiten und Interessen als einen Ausdruck christlicher Befreiung zu erkennen, der wohl tut. Gelegentlich wird solche „Ethik der Selbstbegrenzung“ als Freudlosigkeit und Kasteiung karikiert, als Schwäche oder Entbehrung. Richtig ist: Selbstbegrenzung aus Freiheit ermöglicht eine Haltung inspirierten Fragens: Wovon habe ich im Überfluss zu wenig? Wovon habe, nutze oder konsumiere ich zu viel? Wo kann Verzicht Gewinn sein? Was ist das rechte Maß? Wann wird mein Handeln zur Belastung für andere und für unsere Umwelt? Was fehlt Menschen weltweit, um existenzielle Grundbedürfnisse zu befriedigen und in Sicherheit und Würde zu leben? Was hat das mit mir zu tun? Was fehlt den Tieren, was der gesamten geschaffenen Welt? Bei der Beschäftigung mit diesen Fragen entdecken viele Menschen wieder, dass vieles, was keinen Preis hat, von großem Wert ist: Zeitwohlstand, geglücktes Leben, Nächstenliebe, Gemeinschaft, Spiritualität, Begegnungen mit anderen Menschen und mit den Geschöpfen in der Natur. So vieles von dem, was nicht käuflich ist, ist wertvoll. Die Frage nach dem rechten Maß, nach Mitgefühl (Compassion) und Barmherzigkeit mit allen Menschen und der gesamten Schöpfung eröffnet uns den Weg, in dieser Welt dankbar, in Freude und in verantwortlicher Freiheit mitzuwirken.

Die von den Vereinten Nationen 2015 beschlossene Agenda 2030 für eine nachhaltige Entwicklung ist für uns ein Grund zur Dankbarkeit. Sie wurde Transformationsagenda genannt. Sie fordert die Umkehr von nicht universalisierbaren Lebensweisen. Als Selbstverpflichtung der Vereinten Nationen hat sie eine menschheitsgeschichtliche Tragweite, die der 1948 verabschiedeten Charta der Menschenrechte vergleichbar ist. Eine Gesellschaft, die die Gottebenbildlichkeit des Menschen ernstnimmt, kann nie eine Klassengesellschaft sein. Menschen sind gleich viel wert und haben gleiche Rechte. Entsprechend lautet ein Leitprinzip der Agenda 2030: „Niemanden zurücklassen!“ Fairness und Gerechtigkeit erweisen sich zwischen Nationen und Generationen, Klassen und Individuen. Sie ist das Gegenteil einer Politik nationaler Egoismen.

Uns als Christinnen und Christen trägt der Glaube an eine sinnenfrohe Welt, in der „Gerechtigkeit und Friede sich küssen“ (Ps 85,11). Wir entdecken die schöpfungsfreundlichen Traditionen in den Religionen neu. Wir sind dankbar für die Selbstverständlichkeit, mit der wir uns ökumenisch gemeinsam auf den Weg machen, um die großen Herausforderungen wie die Begrenzung des Klimawandels, die Bewahrung der Schöpfung oder den Schutz der universellen Menschenrechte, im Vertrauen auf Gottes Liebe zur Welt anzunehmen. Die mahnenden, aufrüttelnden und zugleich von tiefer Liebe zur Schöpfung geprägten Worte, die Papst Franziskus in seiner Enzyklika „Laudato si’“ angesichts der dringlichen Transformation unserer Welt gefunden hat, kommen zum richtigen Zeitpunkt.

1.3 Von Werten und Preisen

In unserer Gegenwart wird unübersehbar: Wir haben uns in vergangenen Zeiten weder ökumenisch noch nachhaltig ausreichend eingesetzt für eine Welt, in der die Umwelt zum Objekt geworden ist. Eine Welt, die vor dem „Ausverkauf“ steht, in der die Frage nach Preis und Nutzen andere Werte überschattet. Werte wie den Eigenwert der Schöpfung, die Sorge um die leidende Kreatur oder den Einsatz vieler Menschen für einen weltweiten Abbau gravierender Ungleichheit. Zu viele Menschen müssen unter Bedingungen arbeiten, die die Menschen der Industrienationen für sich niemals akzeptieren würden, weil sie menschenverachtend sind. Ausbeutung anderer in Kauf zu nehmen, ist unfair und lieblos. Unmerklich hat sich eine Monokultur verbreitet, in der vorrangig nach geringem Preis und hohem Wachstum, nach Quantität statt Qualität und nur nach individuellem Nutzen gefragt wird. Das war nicht immer so. Menschen können mehr. Andere Zeiten und Menschen – schon die griechische Antike, aber auch Franz von Assisi, der Naturentdecker Alexander von Humboldt oder der Theologe und Arzt Albert Schweitzer – fragten stärker nach den Zusammenhängen und dem Gelingen des Lebens, nach der Kunst, mit der Begrenzung des Lebens zu leben, nach dem Maß des Menschlichen. So reich das neuzeitliche Denken ist, so sehr ist es durch Naturvergessenheit verarmt, und so sehr vertraut es der Selbststeuerung durch Ökonomie. Die Natur wurde primär Objekt von Analyse, Ausbeutung und Kalkulation. Selbst wenn wir in allen ökologischen und sozialen Fragen die notwendigen Rahmenordnungen hätten, bliebe die Frage: Werden durch richtige Regeln verlässlich aus Eigennutz Gemeinwohl und die Sicherung der Lebenschancen folgender Generationen? Solches Denken zieht seine Legitimität aus der Überzeugung, dass mit guten Regeln gleichsam wie durch eine „unsichtbare Hand“ Egoismus in den Wohlstand aller Nationen transformiert werden könne. Kann es in komplexen Fragen Regeln ohne Schlupflöcher geben? Der für diesen methodologischen Individualismus gerne als Ahnherr zitierte schottische Nationalökonom Adam Smith jedenfalls sah im Menschen weit mehr als den Eigennutz am Werk. Er plädierte pragmatisch dafür, die unzweifelhafte Leistungskraft von Arbeitsteilung und Marktpreisen zu nutzen – aber er verlor dabei das, was ein gutes Leben ausmacht, nie aus den Augen: die menschliche Fähigkeit zur Sympathie, also zum Mitfühlen und Mitleiden. Menschen können mehr als rechnen. Die menschliche Fähigkeit zur Kooperation jenseits des Kalküls ermöglicht und stärkt Gemeinschaft – Hirnforschung, Ökonomie, Entwicklungspolitik und viele andere Fachwissenschaften sind in unseren Tagen dabei, den überlebenswichtigen Wert der Kooperation neu zu entdecken.

So wichtig ein Markt daher ist, so wenig gebührt ihm das alleinige Wort, wenn es um Nachhaltigkeit geht. Der Wert der Schöpfung kann nicht exklusiv über Marktmechanismen und Preisschilder erfasst werden. Wert und Preis sind nicht dasselbe. Christinnen und Christen können mit Marktpreisen kalkulieren, aber sie sind zugleich so frei, sich nicht allein daran zu orientieren. Sie können fragen: Ist der freie Markt fair? Sind nachhaltige Investments die besseren Pensionsfonds? Wie verhalten sich Privateigentum und Gemeingüter zueinander? Muss Nutztierhaltung quälen? Sollen Krankenhäuser Profitcentern gleichen? Welchen „Gewinn“ sollen Schulen abwerfen? Ist die Schöpfung vor allem wertvoll als Deponie, Warenlager oder Urlaubsparadies? Es gibt gute Gründe, sich für eine inspirierte, verantwortungsvollere und nachhaltigere Gestaltung der Märkte und der Globalisierung einzusetzen. Christinnen und Christen haben die Freiheit, herrschende Verständnisse über das „Spiel“, das gesellschaftlich gespielt werden soll, und über seine Regeln, öffentlich und in prophetischer Tradition mahnend in Frage zu stellen.

Die Weltgemeinschaft steht vor großen Herausforderungen. Für die Transformation zu einer zukunftsfähigen Entwicklung, wie sie in der Agenda 2030 beschrieben wird, müssen alle gesellschaftlichen Gruppen ihren Beitrag leisten: Politik und Wirtschaft, Gesellschaft und Familie. Auch die EKD – die als Institution für Humanität und Achtung vor der Natur einsteht – sieht sich in der Pflicht, Bildungsprozesse und eine solidarische Praxis anzustoßen und damit die Transformation und die Umsetzung der Ziele für nachhaltige Entwicklung zu fördern. Auch wir sind gefragt, an unserer Stelle Verantwortung zu übernehmen. „Wir“, das ist in diesem Fall die Kirche mit ihren Gemeinden sowie kirchlichen und diakonischen Einrichtungen. Wir können und müssen mehr tun. Vom biblischen Auftrag kommt uns die besondere Verantwortung zu, Mahner, Mittler und Motor für eine nachhaltige Entwicklung im Dienst der Bewahrung der Schöpfung zu sein und für diese Aufgabe zu werben. [3]


[2]  Lied 634, Vers 1, Evangelisches Gesangbuch der Evangelischen Kirche von Kurhessen-Waldeck, Text: Jochen Rieß.

[3] Vgl. Kapitel 4.2.

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