„Geliehen ist der Stern, auf dem wir leben“

Die Agenda 2030 als Herausforderung für die Kirchen. Ein Impulspapier der Kammer der EKD für nachhaltige Entwicklung. EKD-Texte 130, 2018

2. Was wir begrüßen

2.1  Der umfassende Anspruch der Agenda 2030

Im September 2015 haben die Staats- und Regierungschefs der Welt in der Generalversammlung der Vereinten Nationen gemeinsam die neue Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung verabschiedet. Im Rahmen dieser Agenda verpflichten sich 179 Staaten dazu, bis 2030 17 Ziele nachhaltiger Entwicklung (Sustainable Development Goals, kurz: SDGs) zu erreichen. Die Agenda beruht auf der Erkenntnis, dass sich die globalen Herausforderungen unserer Zeit nur gemeinsam bewältigen lassen und dass hierfür das Leitprinzip der nachhaltigen Entwicklung konsequent in allen Politikbereichen und in allen Staaten angewendet werden muss.

Die neuen Ziele greifen die Millenniumsentwicklungsziele (MDGs)[4] auf und entwickeln sie als Ziele für alle Länder weiter. Zum Kampf gegen Armut und Hunger, für Gesundheit, Bildung, Geschlechtergleichstellung, Wasser- und Sanitärversorgung gesellen sich weitere Zielmarken in den Bereichen Energie, Wirtschaft und Arbeitsbedingungen, Infrastruktur und Innovation, in der Stadtentwicklung sowie im Abbau von Ungleichheit innerhalb und zwischen Staaten. Umweltschutzaspekte sind durchgängig stärker integriert und auch durch konkrete Ziele zu Klima, Meeren, Landökosystemen und Biodiversität abgedeckt. Neu ist auch ein Ziel zu Frieden und Governance. Schließlich wurde für die Mittel zur Umsetzung ein eigenes Ziel mitverhandelt, wobei hier klassische Konflikte zwischen Geber- und Entwicklungsländern deutlich wurden. Zu allen 169 Unterzielen wurden mittlerweile mehrere Indikatoren entwickelt und vereinbart.

 

Insgesamt ist die Agenda 2030 ein substantieller Fortschritt, weil sie

  • eine umfassende „Transformation unserer Welt“ (so der Titel der Agenda 2030) fordert,
  • ganzheitlich angelegt ist und menschliche Wohlfahrt unter Beachtung der planetaren Grenzen anstrebt, also immer die ökonomische, ökologische und soziale Dimension von Nachhaltigkeit berücksichtigt und das Denken und Agieren in getrennten Zuständigkeitsbereichen überwinden will, zudem mit dem Verweis auf „Mutter Erde“ auch eine kulturell-spirituelle Motivation anspricht,
  • von allen Regierungen unterzeichnet wurde und für alle Länder weltweit gelten soll, auch für die Industrieländer,
  • ein neues Entwicklungsparadigma beschreibt, nach dem alle Staaten vor tiefgreifenden Veränderungsprozessen stehen und den Strukturwandel bewusst gestalten sollten,
  • besonders die Schwächsten und Verletzlichsten in den Blick nimmt („leave no one behind“),
  • Ungleichheit überwinden und Menschenrechte in ihrer vollen Bandbreite verwirklichen will,
  • Aufbruchsstimmung erzeugt hat und zu umfassender Beteiligung einlädt, da neben den Regierungen auch wichtige Gruppen und weitere „Interessenträger“ (Stakeholder) aus Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft dazu aufgefordert sind, an der Erreichung der SDGs mitzuwirken.

Gegensätzliche Interessen und der Zwang zum Kompromiss in einem internationalen Verhandlungsprozess produzieren immer auch Schwächen. So wird von einigen Kritikern bemängelt, dass die Agenda 2030 das Wachstumsparadigma und den Kapitalismus nicht grundsätzlich infrage stelle. Außerdem konnten sich die UN-Mitgliedstaaten bei einigen der SDGs nur auf wenig ambitionierte Zielformulierungen und aussagekräftige Indikatoren einigen.

Zentrales Gremium zur Begleitung der Agenda 2030 und zur Beobachtung und Überprüfung des Umsetzungsprozesses ist das 2013 eingerichtete sogenannte Hochrangige Politische Forum zu nachhaltiger Entwicklung (High-Level Political Forum on Sustainable Development, HLPF), in dem alle Staaten vertreten sind. Das HLPF tagt jährlich jeweils für acht Tage in New York und alle vier Jahre zusätzlich für zwei weitere Tage auf der Ebene der Staats- und Regierungschefs. Die Nachfolgeprozesse sind weniger auf Kontrolle als auf gemeinsame Lernprozesse und den Austausch von Erfahrungen ausgerichtet, sowohl zu „good practices“ als auch zu Hemmnissen bei der Umsetzung. Die Teilnahme an den nationalen Reviews beim HLPF ist freiwillig, seit 2016 haben mehr als 100 Staaten über ihre nationalen Umsetzungsanstrengungen berichtet und – noch wichtiger – dafür zuvor auf nationaler Ebene Abstimmungs-, Konsultations- und Umsetzungsprozesse angestoßen.[5] Gleichwohl fehlen noch viele Staaten, und die Qualität der Berichte und Prozesse muss deutlich besser werden. Damit das HLPF seinem Mandat gerecht werden kann, auf Basis dieser Prozesse eine ­politische Führungsrolle für die konsequente Umsetzung der Agenda 2030 und der SDGs auszuüben, sollte seine für 2019/20 geplante Reform mutig angegangen werden.

2.2  Ökologische Grenzen einhalten und soziale Grundlagen sichern

Einige Ziele der Agenda 2030 können miteinander in Konflikt geraten, wie etwa der Zugang zu Energie für alle und die wirksame Bekämpfung des Klimawandels. Der Club of Rome hat in seinem 2017 veröffentlichten Bericht[6] mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass die Erreichung vieler Ziele der Agenda 2030, die der menschlichen Wohlfahrt dienen, gleichzeitig unter anderem die Erderwärmung enorm steigern und die Biodiversität bedrohen werden, wenn man nicht bereit ist, bisherige Entwicklungspfade und Wachstumsstrategien zu verlassen. Teilerfolge bei der Erreichung der Millenniums­entwicklungsziele (MDGs) im Bereich der Armutsreduzierung oder der Verbesserung der Energieversorgung waren bisher stets mit einer Erhöhung des Drucks auf die Ökosysteme verbunden. In unserer Zeit gelingt es keinem Land, die Bedürfnisse seiner Bürgerinnen und Bürger mit einem global nachhaltigen Ressourcenverbrauch zu befriedigen.[7] Derartig problematische Entwicklungspfade müssen zukünftig vermieden werden. Eine verbesserte Energieversorgung in Entwicklungsländern kann mit dem Klimaschutz kompatibel sein, wenn diese Länder beim Ausbau erneuerbarer Energien unterstützt werden, statt bei Investitionen in fossile Energien.

Der strikte Kohärenzanspruch der Agenda ist sehr positiv zu bewerten. Die Notwendigkeit, ökologische Nachhaltigkeit und menschliche Entwicklung zusammenzubringen, wird schon länger diskutiert. Wie der sogenannte, unten abgebildete „Doughnut“ bildlich darstellt, geht es darum, für die gesamte Menschheit einen ökologisch sicheren und sozial gerechten Lebensraum zu schaffen. Dies erfordert nicht nur, ökologische Grenzen für die Naturnutzung einzuhalten, sondern auch eine soziale Grundlage zu sichern. Der „Doughnut“ verdeutlicht also erstens, dass wir die sogenannten planetaren Grenzen nicht überschreiten dürfen, die wir zu einem beträchtlichen Teil bereits verletzen (siehe rote Bereiche). Zweitens darf der Schutz des Erdökosystems nicht auf Kosten sozialer Mindeststandards gehen, insbesondere in den Ländern des Südens. So dürfen zum Beispiel die Kosten für den Klimaschutz nicht auch noch den wenig entwickelten Ländern aufgebürdet werden, da diese ohnehin schon überproportional an den Folgen des Klimawandels leiden. Vielmehr müssen sie in ihren Maßnahmen zum Klimaschutz sowie den Maßnahmen zur Anpassung an die Folgen des Klimawandels von den Industrieländern unterstützt werden. Der „Doughnut“ zeigt sehr anschaulich, dass es in einigen Bereichen eine Überschreitung der ökologischen Grenzen gibt (Klimawandel, Verlust der Biodiversität, Stickstoff- und Phosphatbelastung, Landnutzung), gleichzeitig eine deutliche Unterschreitung der sozialen Grundlagen (d. h. Defizite in den Bereichen Ernährung, Wasser, Bildung, Gesundheit, Frieden etc.). Daraus ergibt sich eine klare Agenda – nämlich die Einhaltung der planetarischen Grenzen und die Sicherung der grundlegenden politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte. Diese beiden Ansprüche zusammenzubringen, ist die besondere Herausforderung, vor die uns die Agenda 2030 stellt.


Quelle: The Lancet Planetary Health, Kate Raworth and Christian Guthier
https://www.thelancet.com/journals/lanplh/article/PIIS2542-5196(17)30028-1/fulltext
DOI: https://doi.org/10.1016/S2542-5196(17)30028-1
https://creativecommons.org/licenses/by/4.0/

 

[4]    Die Millenniumentwicklungsziele (MDGs) wurden im Jahr 2000 in der 55. Generalversammlung der Vereinten Nationen beschlossen. Die acht MDGs umfassten die Verminderung von extremer Armut und Hunger, Grundschulbildung, Gleichstellung und stärkere Beteiligung von Frauen, Senkung der Kindersterblichkeit, die Gesundheit der Mütter, die Bekämpfung von HIV, Aids, Malaria und anderen Krankheiten, die Sicherung der ökologischen Nachhaltigkeit sowie den Aufbau einer weltweiten Entwicklungspartnerschaft. Sie sollten bis 2015 erreicht werden, aber das gelang nur für einen Teil der MDGs. So wurden die Anliegen der MDGs in die SDGs übernommen, meist mit anspruchsvolleren Zielsetzungen.

[5]    Vgl. https://sustainabledevelopment.un.org/vnrs/.

[6]    Club of Rome (2017): Der große Bericht. Wir sind dran. Was wir ändern müssen, wenn wir bleiben wollen, S. 90.

[7]    Vgl. Daniel W. O’Neill, Andrew L. Fanning, William F. Lamb und Julia Steinberger (2018): A good life for all within planetary boundaries, in: nature sutainability; https://doi.org/10.1038/s41893-018-0021-4.

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