Beteiligung auf Zeit

Individuelle Zugehörigkeit am Beispiel der Tourismuskirchenarbeit, EKD-Texte 132, Juli 2019

3. Das Phänomen des spirituellen Tourismus

Es wird im Folgenden keineswegs der Anspruch erhoben, etwas völlig Neues zu sagen; die Geschichte der EKD-Texte zu diesem Thema ist lang und klug. Es gibt eine Fülle von hochreflektierten Texten, die die hier angedeuteten Gedanken schon prägnant formulierten. So sollen hier thesenhaft einige wichtige Aspekte zum Thema Tourismus in Erinnerung gerufen werden:

  1. Kirche im Tourismus gehört zu den Feldern kirchlicher Arbeit mit einer besonderen missionarischen und innovativen Relevanz für die zukünftige Gestalt von Kirche.[1]
     
  2. »Kirche im Tourismus ist ein exemplarisches Handlungs- und Lernfeld der gesamten Kirche. Das gilt für die Formen der Verkündigung, aber auch für die Schritte des Gemeindeaufbaus, die beispielsweise eine Gemeinde dazu befähigen, sich als gastfreundlich zu erweisen.«[2
    »Erste Erfahrungen mit situativen Verkündigungssituationen und netzwerkartigen Beteiligungsstrukturen werden in funktionalen Handlungsfeldern der Kirche gesammelt. Beispiele dafür finden sich in der Tourismusseelsorge, in der Krankenhausseelsorge, in Evangelischen Akademien, in der Bundeswehrseelsorge und in der Citykirchenarbeit. Vergleichbare Erfahrungen verbinden sich mit Großereignissen wie den Kirchentagen oder Gospelfestivals. Der Austausch mit solchen Erfahrungen ist auch für die Weiterentwicklung der Parochialgemeinden wichtig. Zugleich ist die eigenständige Bedeutung solcher inhaltlich profilierten Angebote als neue Gemeindeformen zu achten.«[3]
    »In den Urlaubsgemeinden […] zeigt sich geradezu idealtypisch die Spannung von situativer und etablierter Gemeinde. Das ist der Punkt, an dem es in den Urlaubsgemeinden, gleichsam stellvertretend und exemplarisch, um eine strategische Entscheidung geht, die für die gesamte kirchliche Arbeit auch zu Hause in den Gliedkirchen der EKD wichtig ist.«[4]
     
  3. Die missionarische Dimension kirchlichen Handelns im Tourismus hat für die zukünftige Gestalt von Kirche zentrale Bedeutung. Sie ist gekennzeichnet durch eine Öffnung nach außen, sie ist einladend, zeigt sich gastfreundlich und stellt sich auf die besonderen Lebenssituationen von Menschen ein.[5]
    »Die Situations- und klientelbezogene Flexibilisierung der Gemeinde- und Beteiligungsformen ist nach wie vor eine der zentralen Herausforderungen für die Zukunftsfähigkeit des kirchlichen Lebens.«[6]
     
  4. Kirche im Tourismus qualifiziert die vorhandenen Kontaktflächen der Kirchen mit ihren Mitgliedern. Sie ist geprägt von der Offenheit für die Form distanzierter Mitgliedschaft (»Gemeinde auf Zeit«) und dem Bewusstsein für punktuelle Teilhabe (Kirche bei Gelegenheit).
    »Die große Mehrheit der Kirchenmitglieder nimmt ihre Mitgliedschaft nur zu bestimmten Anlässen wahr, umso wichtiger ist es, solche Anlässe bewusst zu gestalten und zu feiern.«[7]
    »Diese Qualifizierung konkretisiert sich z. B. in der beständigen Arbeit an der Qualität der Kasualien, in einer intensiven Bereitschaft, Kirche auch an anderen, ungewöhnlichen Orten zu gestalten.«[8]
     
  5. Kirche im Tourismus ermöglicht und fördert bewusst eine Vielzahl von Zugängen und Mitgliedschaftspraxen und hebt das Potenzial vielfältiger Bindungskräfte von Kirche.
    »Es wird also zukünftig eher um polyzentrische Entwicklungen von Gemeinden und Kirchenbildern gehen, die eine Vielzahl von Zugängen und Mitgliedschaftspraxen nicht nur zulassen, sondern bewusst ermöglichen und fördern.«[9] Das Ziel ist eine polyzentrische Kirchenentwicklung, die der Pluralität von sozialen Praxen der Mitglieder Rechnung trägt und Räume für eine selbstgewählte Form der religiösen Praxis öffnet.[10]

Insgesamt gilt also die Feststellung der EKD-Studie »Fern der Heimat: Kirche«[11] auch noch im Jahr 2019: Reisen ist nach wie vor die populärste Suche nach Glück. Der Tourismus ist zu einer, wenn nicht zu der Leitökonomie des 21. Jahrhunderts geworden. Laut aktuellem »Urlaubsreisetrend« dürfte auch 2019 ein gutes Jahr für die Branche werden. 43 Prozent aller Befragten hätten sowohl Lust auf Urlaub als auch genug Zeit und Geld dafür. Und im Jahr 2018 gab es in den Beherbergungsbetrieben in Deutschland über 477 Millionen Übernachtungen in- und ausländischer Gäste; dies war ein Plus von vier Prozent gegenüber dem Jahr 2017. Damit stiegen die Übernachtungszahlen zum achten Mal in Folge und erreichten einen neuen Rekordwert: 53,7 Millionen Menschen machen jährlich an mindestens fünf Tagen Urlaub. Hinzu kommen die ungezählten Tagestouristen, die gerade in Städten und besonderen Orten die Mehrzahl der Besucherinnen und Besucher ausmachen.     

Allerdings darf auch niemand die Schattenseiten dieses wachsenden Marktes übersehen: Der Tourismus ist zwar einer der größten Wirtschaftsfaktoren, er hat jedoch auch gravierende ökologische Auswirkungen und steht im Spannungsfeld globaler Ungerechtigkeit. Schlechte Arbeitsbedingungen derer, die im Tourismus arbeiten, der Klimawandel, zu dem der Tourismus mit jeder achten Tonne Kohlendioxid beiträgt, sowie die weiterhin wachsende Zahl von Kindern, die Opfer sexueller Ausbeutung im Umfeld des Tourismus werden, seien nur exemplarisch genannt. Das Bewusstsein für Nachhaltigkeit zu schärfen und Bemühungen zu fördern, diese Negativfolgen zu mindern, ist seit dem Aufkommen des internationalen Tourismus ein wichtiges Feld der kirchlichen Bildungsarbeit und des internationalen Dialogs, besonders in Ländern des globalen Südens. Es wird auch in ersten Ansätzen zur Richtschnur für die eigenen kirchlichen Angebote im Rahmen des Tourismus, wie nachhaltigkeitszertifizierte oder integrativ arbeitende christliche Hotels und Gästehäuser zeigen, oder das Bayerische Pilgerbüro, dass sein Nachhaltigkeitsmanagement unabhängig überprüfen lässt.
Nicht selten brauchen Menschen im Urlaub auch konkrete, diakonische Hilfe; denn auf der Suche nach Glück geraten manche in Krisen und Notlagen. Andere werden durch ökonomische oder physische und psychische Barrieren daran gehindert, an Reiseerlebnissen teilzuhaben. Auch für diejenigen, die Unterstützung für ihr Reiseerlebnis brauchen, stehen kirchliche Hilfsangebote zur Verfügung.

Urlaubsreisende suchen Erholung, Natur/Landschaft, Atmosphäre, Erlebnis, Familienfreundlichkeit, sportliche Aktivitäten, aber auch Nachhaltigkeit. Und spätestens seit Hape Kerkelings Bestseller »Ich bin dann mal weg« aus dem Jahr 2006, in dem er die Erlebnisse seiner Pilgerreise nach Santiago de Compostela schildert, ist der spirituelle Tourismus noch populärer geworden, wobei spirituell hier in einem sehr weiten Sinne gemeint ist, nämlich Spiritualität als eine Suchbewegung nach Sinn und Transzendenz. Gegenwärtig gibt es keine Statistiken für den spirituellen Tourismus, deutlich ist aber, dass Pilgerwege und Klosterurlaube sich wachsender Beliebtheit erfreuen. Darauf weist die entsprechende Angebotspalette auch aus dem kirchlichen Bereich hin. Kirche im Tourismus ist darum ein Arbeitsfeld von wachsender Bedeutung, denn wenn das Evangelium dort zu den Menschen gebracht werden soll, wo sie Glück, Orientierung und sinnstiftende Erlebnisse suchen, dann muss es dort auch Angebote geben. Die Erfahrung vieler Urlaubsseelsorgerinnen und -seelsorger zeigt, dass Menschen im Urlaub und fern der Heimat offener für kirchliche Angebote sind: Gottesdienste, offene Kirchen und ihr Programm, Konzerte, Ausstellungen, Kirche unterwegs, Einkehrzeiten, Pilgerwege und Radwegekirchen, alle diese Angebote werden auch von Menschen wahrgenommen, die sich im Alltag Kirche und Glauben gegenüber eher indifferent verhalten.

Es zeigt sich, dass der Tourismus in der Spätmoderne keineswegs eine religionsferne Sphäre darstellt. Davon zeugt nicht nur die schon konventionelle religiöse Textur von Werbeanzeigen, die »Urlaubsparadiese« verspricht. In religiöser Perspektive ist Tourismus »Fremdenverkehr« in einem mehrdeutigen Sinne: Er ermöglicht Begegnung mit fremden Dingen und mit fremden Menschen. Darin überschreitet er die Grenzen der vertrauten Welt. Er ermöglicht auch, sich selbst (als) fremd zu erleben und transzendiert damit die heimische Identität des Ichs. Welt und Selbst sind unterwegs anders, Religion oszilliert zwischen Beheimatung und Fremdheitserfahrung. Nicht zufällig ist eines der klassischen religiösen Sinnbilder die Vorstellung vom »Leben als Reise« . Dass Tourismus als Resonanzraum des Religiösen verstanden und gestaltet werden kann, zeigt sich auch an den (kommerziellen) Angeboten eines »spirituellen Tourismus«, der Erlebnisräume für einen »Weg zu sich selbst«[12] kreiert.

Bei gründlicher Durchdringung sind es insbesondere acht Motive des Tourismus, die religiös wahrgenommen werden können:

1. Sehnsucht nach Anderem stillen und den Reiz des Fremden erfahren
Reise und Urlaub sind außergewöhnliche Zeiten – oft mit Versprechen verbunden und mit Verheißungen aufgeladen. Wer aufbricht aus dem Alltagsvertrauten, macht eine Erfahrung des Woanders; die Reisende, der Urlauber tritt in eine andere Wirklichkeit ein.

2. Zur Ruhe kommen und auf Sinnsuche gehen
Explizit spirituelle Formen gestalten Alternativen zur Alltagswelt: Stille statt Lärm; Langsamkeit statt Eile; Abgeschiedenheit statt Eingebundensein; für sich sein statt gesellig; existentielles Gespräch statt Unterhaltung, Konzentration statt Zerstreuung. Es sind insbesondere monastische Traditionen, die aufgegriffen und neu arrangiert werden.

3. Körperlichkeit erleben und in Bewegung kommen
Das Bedürfnis nach körperlicher (Selbst)Erfahrung motiviert aktivierende Formen des Urlaubs, die sich mit unterschiedlichen religiösen Praktiken von spirituellen Körperübungen bis Wandern/Pilgern verbinden können.

 4. Naturerfahrungen machen
Die urbane Spätmoderne hat in ihren Urlaubs- und Reisewelten einen starken Zug in die Natur und sucht den Zugang zu elementaren Naturerfahrungsräumen: Meer, Berg, Wald, Wüste. Was hier erlebt werden kann, führt über die eigene Person hinaus und über das, was Menschen machen können. Naturerfahrungen sind Refugien einer kontemplativen Weltbeziehung; »im Grünen« oder »am Wasser« werden zu religiösen Ortsangaben.

5. Zeitrhythmen gestalten
Feste, Ferien und Feiertage strukturieren individuelle und kollektive Zeiten; sie geben ihnen einen Rhythmus und qualifizieren sie. Die religiöse Erinnerungskultur mit ihren Jubiläen ist ein wichtiges Element des Tourismus geworden, die Kirchenjahresfeste sind Kristallisationspunkte touristischer Angebote, aber auch Tagzeiten, Abend und Nacht können rituell oder als Event gestaltet werden.

6. In Gemeinschaft und Begegnung sein
Die organisierte Form der touristischen Vergemeinschaftung  ist  die  Reisegruppe, die inszenierte ist die Erlebnisgemeinschaft. In beiden findet – vermittelt in gemeinsamen Reiseerfahrungen oder gemeinschaftlichen Erlebnissen, etwa eines Projektchores oder eines Meditationskurses – Begegnung statt. Urlaub und Reise sind Orte intensivierter Gemeinschaftlichkeit außerhalb beruflicher oder familiärer Rollen. Sie ermöglicht die Chance auf Geselligkeit ohne Vorgeschichte.

7. Kulturelle, kirchliche und spirituelle Orte aufsuchen
Für die Erfahrung der Reise ebenso wie für das Urlaubserlebnis sind die Örtlichkeiten entscheidend. Die Anmutung und Atmosphäre bestimmter Orte werden nicht selten auch für im Alltag eher religiös abstinente Menschen zu religiös gestimmten Orten: Beim touristischen Besuch einer Citykirche wird eine Kerze entzündet; die alternative Stadtführung sucht den Platz auf, an dem die Synagoge stand; ein Kloster kann als auratischer Ort wahrgenommen werden.

8. Rückkehr als Vergewisserung und die Kraft des Vertrauten
Zum Urlaub und zur Reise gehört, dass sie begrenzte Zeit dauern; sie haben immer ein Ende. Zum Wegfahren gehört die Hoffnung, wieder gut heimzukommen. Zur Rückkehr gehört es, sich zu vergewissern, und die Probe aufs Exempel, wohin ich gehöre. Ankommen ist eine existentiell bedeutsame Situation.


Fußnoten:

  1. 1 Vgl. Wolfgang Huber, Chancen und Herausforderungen der Tourismusarbeit, in: epd-Dokumentation 35 [2006], 5–12, hier 6 f. Bei der zitierten Schrift handelt es sich um die Dokumentation Konsulation »Chancen und Herausforderung der Tourismus- arbeit« (19. u. 20. Juni 2006 im Kirchenamt der EKD).

  2. Wolfgang Huber, a. a. O., 12.

  3. Kirche der Freiheit. Perspektiven für die Evangelische Kirche im 21. Jahrhundert: Ein Impulspapier des Rates der EKD (2006), 54.

  4. Thomas Erne, »Kirche von Zeit zu Zeit« – Was kann man aus den Untersuchungen zur Kirchenmitgliedschaft für die Zukunft der Kirche lernen?, in: epd-Dokumentation 35 [2006], 12–18, hier 15.

  5. Vgl. Kirche empirisch: Ein Werkbuch zur vierten EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, hrsg. v. Jan Hermelink u. Thorsten Latzel, Gütersloh 2008, 30.
     
  6. Engagement und Indifferenz: Kirchenmitgliedschaft als soziale Praxis. V. EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, 2014, S. 131.
     
  7. Wolfgang Huber, a. a. O., 11.
     
  8. Vernetzte Vielfalt: Kirche angesichts von Individualisierung und Säkularisierung. Die fünfte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, hrsg. v. Heinrich Bedford-Strohm u. Volker Jung, Gütersloh 2015, 454 f., vgl. Gemeinden auf Zeit: Überlegungen zur Ergänzung des parochialen Prinzips. Informationen 41, Evangelischer Arbeitskreis für Freizeit-Erholung-Tourismus in der EKD, Stuttgart 1992, 34 f.
     
  9. Vernetzte Vielfalt, 450.
     
  10. Vgl. ebenda, 456
    .
  11. EKD Texte 82 [2005], 6.
     
  12. Christian Antz, Sprituelles Reisen, in: 100 spirituelle Tankstellen, hrsg. v. Chr. Antz u. K. Berkelmann, Freiburg/Basel/Wien, 2013, 15 ff.
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