Beteiligung auf Zeit

Individuelle Zugehörigkeit am Beispiel der Tourismuskirchenarbeit, EKD-Texte 132, Juli 2019

Typ C: Reisen als Horizonterweiterung

Die Konzeption Tourismuskirche in konkreten Beispielen

  • Eine entwicklungspolitische Lernreise nach Kuba

    »Wir alle reden, handeln, betreiben entwicklungspolitische Bildung oder eben Theologie von einem ganz bestimmten Standpunkt aus. Diesen eigenen Standpunkt zu ergründen, war es, was ich in der Begegnung mit dem ›anderen‹, das ich in Kuba gesehen habe, gelernt habe.« So beschrieb es eine Teilnehmerin unserer Gruppe von 6 Personen, die alle haupt- oder ehrenamtlich im fairen Handel tätig sind. Das Zitat zeigt, dass eine Reise nicht nur an Ort und Stelle im Gastland stattfindet, sondern zu Veränderungen in der eigenen Wahrnehmung und im eigenen Handeln führen kann.

    Für mich persönlich ging es im Februar 2018 zum elften Mal nach Kuba. Bereits 1992 begegnete ich auf der ersten deutsch-kubanischen Konsultation in der Missionsakademie Hamburg dem Gründer des ökumenischen Martin Luther King Zentrums Havanna, Pfarrer Raul Suarèz. Meine intensiven Fragen bewegten ihn dazu, mich mit einer Gruppe Jugendlicher nach Kuba einzuladen. So begann 1994 die Zusammenarbeit mit dem Zentrum mittels Austauschprogrammen, die zum Ziel hatten, unsere gemeinsamen Erfahrungen speziell aus Ostdeutschland und Kuba mit gesellschaftlichen Veränderungsprozessen auszutauschen. Dazu gehören die Auseinandersetzung mit den Gesellschaftssystemen, dem bewussten Umgang mit der eigenen Geschichte und der Frage einer solidarischen Gestaltung der Gesellschaft. Dieser Austausch findet im Licht des Evangeliums statt. In Gottesdiensten, bei Andachten oder einer gemeinsamen Bibelarbeit gehen wir auch immer auf die Rolle der Kirchen bzw. der Christinnen und Christen in den jeweiligen Gesellschaftsprozessen ein.

    Natürlich gehört auch Musik dazu. Wir hatten 2018 zwei Musiker in unserer Gruppe, die sich darauf eingelassen haben, ihre Instrumente (Akkordeon und Saxophon) mitzunehmen. Unser kleines Liedheft, das wir vor der Reise mit deutschen, kubanischen und internationalen Liedern zusammengestellt hatten, erzählt von der Hoffnung, der Empathie und dem Einsatz für Gerechtigkeit. Die Gemeinden nahmen das in drei Gottesdiensten enthusiastisch an und bei einem Gemeindefest in der Kirchgemeinde Los Palos lud die kubanische Band unsere Musiker ein, gemeinsam mit ihnen zu spielen. Und plötzlich wurde im Pfarrgarten gemeinsam getanzt.

    Allen, die an der Studienreise teilnahmen, wurde die Möglichkeit gegeben, Informationen über die gegenwärtige Situation Kubas eingebettet in ihren historischen Kontext zu bekommen und mit Gemeindegruppen und Vertreter*innen staatlicher Einrichtungen darüber zu diskutieren. Ein Vertreter aus dem Kulturministerium berichtete über die aktuellen Veränderungen und Herausforderungen in Kuba. Die stellvertretende Direktorin des Institutes für Weltwirtschaft informierte uns über die ökonomische Situation Kubas und dessen Einbettung in weltwirtschaftliche Zusammenhänge. Diese Gespräche lösten in der Gruppe engagierte Diskussionen aus. Fragen nach der Wahrhaftigkeit wurden besprochen und der Einordnung der erhaltenen Informationen. Mit dem Programm in Kuba ermöglichten wir allen Beteiligten (unseren Partnern und uns) die Begegnung mit einer Vision und den Stärken und Schwächen in ihrer Umsetzung. Eine Teilnehmerin war schon mal als Touristin in Kuba und stellte fest: »Ein Land kann ganz unterschiedlich wahrgenommen werden.«

    Natürlich gibt es nach jeder entwicklungspolitischen Reise ein Auswertungstreffen. Dort haben die Teilnehmenden die Möglichkeit, darüber nachzudenken, was für sie prägend war und wie sie die gemachten Erfahrungen weitergeben können. Dazu gehört auch die Überlegung, wie sich die Einzelnen in den bevorstehenden Gegenbesuch der Kubaner*innen, die wir nach Sachsen einladen, einbringen werden.

    Wir haben entschieden, eine Fotoausstellung zu organisieren, die mit einem Reisebericht und einem Vortrag über die aktuelle Situation von einer ökumenischen Mitarbeiterin aus Kuba begleitet wird. Die Reise war für alle, die daran beteiligt waren ein Türöffner und eine Brückenbauerin – zu den Menschen und einem Land, das sich näher zu betrachten lohnt.

    Christine Müller    www.arbeitsstelle-eine-welt.de

  • Spirituelle Führungen am Beispiel einer Gemeindereise nach Guadix/Granada

    Viele Touristen kommen nach Andalusien nicht nur wegen Sonne, Strand und Sangria, sondern auch wegen der Zeugnisse maurischer Kultur, wie der Alhambra in Granada oder der Mezquita in Cordoba. Ein Hauch von Tausend und einer Nacht in Europa. Das ermöglicht  Touristen, die Sehnsucht nach dem Reiz des Fremden ein wenig zu befriedigen, ohne sich der Angst vor den Gefahren einer Reise in islamischeLänder auszusetzen.

    Viele Gruppenreisende werden jedoch kaum die Erfahrung machen können, wirklich in eine andere Welt einzutauchen. Denn sie müssen das Erlebnis des Orients etwa in Form einer Führung durch die Alhambra in einem engen Zeitfenster und inmitten hunderter Touristen absolvieren.

    Spirituelle Führungen, wie wir sie im Tourismuspfarramt Costa del Sol entwickeln, versuchen dazu eine Alternative zu bieten. Wir wollen die Sehnsucht nach Anderem in einen Rahmen stellen, der echte Erfahrung mit dem Fremden ermöglicht und dabei den eigenen Glauben vertieft.

    Als Beispiel nenne ich eine Reise nach Guadix in der Provinz Granada am nordöstlichen Rand der Sierra Nevada, die wir im Oktober 2018 durchgeführt haben. In Guadix leben viele Menschen in Höhlen, immer noch etwa ein Viertel der Einwohner. Man kann dieses touristische Highlight auf herkömmliche Weise besuchen, indem man sich von einem Touristenzug zum Höhlenviertel bringen lässt, dort das Höhlenmuseum besucht und sich vielleicht noch von einer einheimischen Familie ihre Höhlenwohnung zeigen lässt, wofür einige für ein Trinkgeld gerne bereit sind.

    Wir haben für unsere spirituellen Führungen einen anderen Ansatz gewählt. Wir haben die Teilnehmenden der Reise selbst für ein Wochenende in Höhlenwohnungen einquartiert. Am Freitag, dem Tag der Ankunft, erwartete die Reiseteilnehmer zunächst eine Andacht mit einem Leitmotiv, dem Lied »Du bist mein Zufluchtsort« und dann erfolgte ein erster Spaziergang in der hereinbrechenden Dunkelheit mit der Leitfrage: »Welche Höhlenerfahrungen bringe ich mit?« Dazu erhielten die Teilnehmer Impulskarten mit je einem Engel, der dem Stundengebet der entsprechenden Tageszeit zugeordnet war, zum Beispiel an diesem Abend dem Engel der Vigil: »Finsternis möge mich decken und Nacht statt Licht um mich sein – so wäre auch Finsternis nicht finster bei dir, und die Nacht leuchtete wie der Tag, Finsternis ist wie das Licht« (aus Psalm 139).

    Diese kleine Wanderung fand in der Stille statt, eine Erfahrung, an die sich einige Teilnehmer erst gewöhnen mussten, die aber im Lauf des Wochenendes immer mehr geschätzt wurde.

    Nach der ersten Nacht in der Höhlenwohnung waren nun die Teilnehmer der Reise sensibilisiert für weitere Höhlenerfahrungen, die wir am Samstag in Guadix und Umgebung auf ähnliche Weise durchführten. 

    Der Sonntag bündelte dann die gemachten Erfahrungen in einem Gottesdienst, der ebenfalls in einer Höhle stattfand. Das bot für mich als Prediger die Gelegenheit, das Höhlengleichnis des Platon »vor Ort« aus christlicher Perspektive zu beleuchten und Höhlengeschichten der Bibel hautnah erlebbar zu machen.

    Wir haben an diesem Wochenende nicht nur eine interessante andalusische Stadt intensiv kennengelernt. Wir haben uns als Reisegruppe der Erfahrung der Höhle ausgesetzt. Wir haben gespürt, dass eine Höhle gegensätzliche Erfahrungen mit sich bringen kann: die bergende Dunkelheit, die bedrohliche Dunkelheit. Der schützende Raum, der einengende Raum. Licht und Schatten. Trugbild und Sehnsucht nach echtem Erkennen, nach Wahrheit.

    Wir haben unseren Glauben vertieft und sind als Gruppe zusammengewachsen. Die WhatsApp-Gruppe der spirituellen Reise »Von der Höhle ins Licht« hat sich rege ausgetauscht und tut das noch jetzt, mehrere Wochen nach dem Ende der Reise.

    Die Sehnsucht nach Anderem kann den Reiz des Eigenen neu entdecken lassen. Das ist einer von vielen Gründen, dass sich Kirche in der Entwicklung von spirituellem Tourismus engagiert.
    Christof Meyer www.ekd-costadelsol.de

  • Die große Freiheit im Zeichen der Muschel – im Pilgern geschieht kirchliche Lebensbegleitung

    Im Mittelalter haben die Menschen vorher ihr Testament gemacht. Erst dann sind sie losgepilgert. Der  beschwerliche Weg war voller Gefahren. An manchen Stellen lauerten Räuber. Daher scheute man die Wege abseits der großen Handelsrouten. Heutige Pilger streben nach Einsamkeit und suchen die langsame Fortbewegung. Denn viele wollen dem zu schnell drehenden Hamsterrad ihres stressigen Alltags entkommen. Auch sind es die Fragen nach dem Sinn des Lebens und der eigenen Identität, die beim Pilgern durchdacht und im wahrsten Sinne des Wortes durchgangen werden.

    Die Motive, durch das Pilgern eine alte Ausdrucksmöglichkeit des christlichen Glaubens wieder zu pflegen, sind unterschiedlich. So gibt es die Pilger, die im fortgeschrittenen Alter ihr Leben bilanzieren. Die Pilger, die sich in einer Übergangszeit befinden, wie zum Beispiel die Abiturientin, die nach dem vielen Lernen erst einmal Pause und Orientierung sucht. Es gibt die Pilger, die einen Neuanfang suchen, so wie der Finanzmanager mit Burnout, der auf dem Camino entdeckt, was Freiheit von Terminen bedeuten kann. Manche stecken auch in einer ernsten Lebenskrise, wie die an Krebs erkrankte Frau, die aus Dankbarkeit über ihr wieder gewonnenes Leben zur Pilgerin wird und Kraft schöpfen will. All diese Menschen finden in den kirchlichen Pilgerangeboten Lebensbegleitung, Seelsorge, Gastfreundschaft und Segen.

    Das Erkennungsmerkmal der Jakobspilger ist die Muschel am Rucksack. Viele nehmen auch einen Pilgerstab mit auf den Weg. Doch was unterscheidet eigentlich Pilgern vom Wandern? »Beim Wandern kann man die Lebensfragen daheim lassen, beim Pilgern nicht!« So brachte es unlängst ein Pilger auf den Punkt. Beim Pilgern wird der äußere Weg und das Nachdenken über den Lebensweg miteinander verbunden. Und vielfach finden die Pilger in den biblischen Pilger- und Nachfolgegeschichten, im Aufbruch Abrahams oder in der Ostergeschichte der Emmausjünger eine tragfähige Antwort, die ihnen Halt für ihr Leben gibt.

    Dr. Oliver Gußmann www.pilgern-bayern.de
     

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