Beteiligung auf Zeit

Individuelle Zugehörigkeit am Beispiel der Tourismuskirchenarbeit, EKD-Texte 132, Juli 2019

5. Perspektiven: Individualisierung von Zugehörigkeiten

Tritt man nun einen Schritt zurück und betrachtet »den ganzen Wald« dieser Überlegungen und nicht einzelne Bäume, dann bestätigt sich der Eindruck, dass mit der Tourismuskirchenarbeit Erfahrungen angesprochen werden, die nicht nur den vielfach gemachten Einsichten aus dem Reformationsjubiläum 2017 entsprechen, sondern auch der langjährigen Konzeption von Citykirche: Die konzeptionelle Seite sowohl dieser als auch der kirchlichen Arbeit im In- und Auslandstourismus kann man als eine angemessene Antwort auf die Individualisierung der Zugänge zu institutionalisierter Religion verstehen. Denn es geht dabei nicht allein um eine attraktive Angebotsstruktur der Gemeinden und kirchlichen Orte, die das je eigene Profil, das Alleinstellungsmerkmal einer Kirche, eines Ortes oder eines kirchlichen Angebotes hervorhebt. So wichtig diese Profilierung ist, entscheidend ist ein Mentalitätswandel derer, die sich diese Konzeption zu eigen machen. Gemeinden können mit ihrer touristischen Konzeptionsarbeit gastfreundlich und einladend sein, Neugierige ansprechen und situativ willkommen heißen. Eine Gemeindeatmosphäre, die sich gleichsam umwendet und ihre Sensoren nach außen »zu den Türen und Fenstern« ausrichtet, wird eine gelegentliche, situative Zugehörigkeit nicht als Defizit oder gar als Kränkung verstehen, sondern als Chance, das Evangelium auch an jene heranzutragen, die bisher wenig Erfahrungen mit dem Evangelium gemacht haben. Dass dazu auch die Erfahrungen des Reformationsjubiläums hilfreich gewesen sind, insofern viele aktive Partner außerhalb der Kirchenwelt gesucht wurden und gerade so Interesse bei vielen geweckt werden konnte, ist oftmals beschrieben worden. Aber diese Einsichten sollten verstetigt werden mit dem Blick auf viele andere Felder der Kirchenentwicklung, von den Akademien und anderen kirchlichen Bildungseinrichtungen über die Citykirchenarbeit bis zur Tourismuskirchenarbeit.

Dabei sollte auch der Frage nachgegangen werden, wie mit den hier ins Auge gefassten situativen Beteiligungsformaten eine angemessene Refinanzierung der jeweiligen Angebote gestärkt werden kann. So sehr der Grundsatz stimmt, dass geistliche Angebote und spirituelle Besinnung freien Zugang erfordern, so wichtig ist es, dass andere Angebote der Gemeinden auch als »Dienstleistungen« erkannt und definiert werden, die ihre Wertschätzung auch dadurch erfahren, dass sie von jenen mitfinanziert werden, die sie in Anspruch nehmen. Hinter dieser Frage steht natürlich auch die Einsicht, dass perspektivisch die Kirchensteuern lediglich eine, mittelfristig schrumpfende Einnahmenquelle kirchlicher Aktivität sein werden. Insofern gilt auch in einem noch weiteren Horizont die hier vertretende Grundthese, dass die Tourismuskirchenarbeit im In- und Ausland einen substantiellen Beitrag leistet, die Zukunft einer kleiner, ärmer und älter werdenden Kirche vorzubereiten.

Auch in Zukunft werden natürlich weiterhin viele Gemeinden lokal und sozialraumorientiert arbeiten, oftmals wohl mit einer kleineren Zahl von Engagierten und mit geringeren Ressourcen, sodass sich Koordinationen und Aufgabenverteilung in größeren Regionen anbieten. Aber zugleich ist absehbar, dass Zugehörigkeiten wachsen werden, die eine noch stärkere Individualisierung von Zugängen zur und Identifikationen mit der Kirche bedeuten. Menschen werden ihr Verhältnis zur Kirche nicht allein über ihren Wohnsitz definieren, sondern zunehmend über eine besondere Kirche, über einen spezifischen Arbeitszweig, über eine prägende Erfahrung oder sogar über eine besondere Person. Dass es diese Bindungstypiken in hoher Intensität gibt, ist ein Potential, dass bei aller Sorge um die zahlenmäßig rückläufigen Anfragen an kirchliche Amtshandlungen (Taufen, Konfirmationen, Trauungen und Bestattungen) nicht vergessen  werden  sollte. Jenseits von Landeskirchen,  von  Bekenntnistraditionen und Wohn- und Lebensorten werden Zugehörigkeiten individualisiert, die sich die Sache eines besonderen kirchlichen Ortes zu eigen machen. Die über Jahrhunderte etablierte parochiale Wohnortorientierung kirchlichen Arbeitens wird zweifellos eine wichtige Form der Zugehörigkeit bleiben, aber sie wird eine unter vielen sein: Menschen werden auch noch Jahre nach ihrer Hochzeit allein ihre Hochzeitskirche fördern wollen; andere werden sich auch noch im Alter mit Dankbarkeit an die Begleitung der sterbenden Mutter durch Pfarrerin X oder Pfarrer Y erinnern. Wieder andere werden Kirche nur am Urlaubsort erleben und dort ihre »Heimatkirche« haben, und wieder andere finden Geistliches nur in den großen Musikangeboten der Citykirchen. Diese Individualität der Zugehörigkeiten wird durch die digitale Kommunikation eher stärker ermöglicht, auch wenn das analoge Begegnen die Grundform kirchlichen Arbeitens bleibt: Menschen werden sich zugehörig fühlen, weil sie einen biographisch wichtigen, geistlich relevanten Ort als ihre spirituelle Heimat ansehen, obwohl sie dort weder wohnen noch ständig hinkommen. Einmalige, aber relevante Begegnungen, die individuell diesen oder jenen Ort, dieses oder jenes Erlebnis, diese oder jene Begegnung jenseits von Orts-, Landes- oder Regionsgrenzen zur prägenden geistlichen Heimat machen, werden in Zukunft wohl gerade junge Menschen in ihrem Verhältnis zur Kirche prägen. Und die digitale Kommunikation wird es erleichtern, Kontakt zu diesen jeweiligen Personen zu halten – das jedenfalls ist die Hoffnung, die mit diesen Überlegungen verbunden wird.

Die folgenden Beispiele sollen daher nicht nur Anregung geben für konkrete Ideen in der Tourismuskirchenarbeit, sondern auch Überlegungen freisetzen, wie solch individualisierte Zugehörigkeit stärker noch als bisher zum selbstverständlichen Teil geistlicher Arbeit in anderen kirchlichen Arbeitsfeldern werden kann.

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