Beteiligung auf Zeit

Individuelle Zugehörigkeit am Beispiel der Tourismuskirchenarbeit, EKD-Texte 132, Juli 2019

2. Tourismuskirchenarbeit – ein Grundtypus kirchlichen Handelns

Stand in den 1960er und 1970er Jahren der Begriff »Citykirche« noch für eine Ortsangabe von Kirchen im Zentrum einer Stadt, die geringe Gemeindemitgliederzahlen und hohe Kosten hatten, so erkannte insbesondere in den 1980er und 1990er Jahren die sogenannte Citykirchenkonferenz die Chancen jener Citykirchen. Der Begriff »Citykirche« wandelte sich im Laufe dieser Zeit von einer Ortsangabe zu einem orts unabhängigen Konzeptionsbegriff, der sich durch ein spezifisches Verständnis von Gemeindearbeit als angebotsorientierte Projektarbeit auszeichnete. Diese Konzep tion war so erfolgreich, dass heute selbst kleinere Städte und Landkirchengemein den Citykirchenarbeit machen. Es wuchsen profilierte Angebote mit innovativen Formaten, die auf eine situative Beteiligung zielten, um den Glauben ins Gespräch zu bringen bei jenen, die zwar am rhythmisch-ritualisierten Gemeindeleben nicht regel mäßig teilnehmen, die sich aber zum Glauben und zur Kirche zugehörig fühlen und daher ansprechbar sind.

Neben dieser Citykirchenarbeit gibt es seit Jahren einen zweiten Ort kirchlichen Handelns, der ähnliche  Erfahrung und Einsichten gewinnen lässt: die Tourismuskirchenarbeit. Der Begriff ist mehrdeutig, weil er sowohl eine Konzeption als auch eine Zielgruppe anspricht; zugleich aber charakterisiert er zutreffend eine wachsende Dimension kirchlichen Engagements. Er gilt als Zuspitzung jener alten Einsicht, dass Religions- und Glaubensfragen in modernen Gesellschaften in den Freizeitbereich ausgewandert sind. Ähnlich wie in der Citykirchenarbeit muss sich Tourismuskirchen arbeit im In und Ausland auf eine befristete Anwesenheit von Menschen einlassen und sich von der klassischen Vorstellung von Gemeindearbeit verabschieden, nach der Menschen regelmäßig und dauerhaft an vereinsähnlichen Veranstaltungen teil nehmen. Tourismuskirche als Konzeption angebots- und situationsbezogener Arbeit gibt es von Gemeinden an Ferienorten im In und Ausland über Kreuzfahrtbegleitun gen bis hin zu Pilgerreisen, geistlichen Wanderungen und Klosteraufenthalten (siehe Abschnitt 6). Im Kern kann man diese Form kirchlicher Arbeit nicht mehr vom Absen der her definieren, also aus der Perspektive der Kirche, sondern muss sie konsequent von denjenigen Menschen her denken, die flexibel, mobil und ortsunabhängig leben und daher situativ, gelegentlich und anlassbezogen kirchliche Angebote annehmen oder wünschen. Entsprechend müssen jene situativen Angebote der Kirche eine innere Gestimmtheit haben, die eine Offenheit für Unterbrechung, Überraschung und Überzeugung ebenso enthält wie die Bereitschaft, die Menschen wieder »loszulassen« und geistliche Angebote nicht auf Dauerstrukturen anzulegen.

Das Verständnis von Kirchenbindung aber, das solchen situativen Zugehörigkeiten und Begegnungen entspricht, gerät leicht in eine defizitäre Bewertung: das seien ja nur die »Weihnachts- oder Kasualchristen«, die oftmals nicht einmal Kirchenmitglieder sind, aber nicht selten doch mit sehr hohen Dienstleistungserwartungen daherkommen – so heißt es nicht selten. Tatsächlich dürfte diese Gruppe mit ihren hohen Erwartungen nicht wenige Gemeinden herausfordern, weil ihre Anliegen als zusätzliche Aufgabe empfunden werden. Andererseits liegt es auf der Hand, dass die Zahl jener situativ Zugehörigen nicht nur stetig wächst, sondern dass heute immer noch sehr viele Strukturen und Angebote der Kirche auf Lebenssituationen ausgerichtet sind, die durch regelmäßige Beteiligung und Ortsgebundenheit geprägt sind. Hier muss innerkirchlich angesichts zurückgehender Ressourcen ein neuer Ausgleich gefunden werden. Denn eine Kirche mit Zukunft muss sich fragen, ob die Ressourcenverteilung zwischen situativen und regelmäßigen Formaten noch angemessen ist. Dabei soll es allerdings gerade nicht darum gehen, klassisch parochiale Gemeindearbeit gegen situative Konzeptionen auszuspielen; sondern es gilt deutlich zu machen, welche Chancen jene Formate für alle Arbeitsbereiche bereithalten, auch für Parochialgemeinden. Die Tourismuskirchenarbeit als »situative Kirche« sollte eine wichtige Dimension aller Gemeindearbeit werden.

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