Beteiligung auf Zeit

Individuelle Zugehörigkeit am Beispiel der Tourismuskirchenarbeit, EKD-Texte 132, Juli 2019

Typ A: Bewegung als Begegnung

Die Konzeption Tourismuskirche in konkreten Beispielen

  • Wanderungen

    Dienstagmorgen 7 : 30 Uhr: Der Bus des evangelischen Tourismuspfarramtes auf Gran Canaria setzt sich in Bewegung, um die 15 Haltestellen in Maspalomas ab- zufahren und eine bunte Schar an Wanderfreudigen einzusammeln.

    Die Schwelle wird bewusst niedrig gehalten, anmelden muss man sich nicht. Wenn man mitwandern möchte, stellt man sich einfach zur angegebenen Uhrzeit an die Haltestelle, die der eigenen Ferienunterkunft am nächsten ist. Abfahrzeiten und Orte erfährt man aus dem in den Tourismusinformationen ausliegenden Flyern, in den Schaukästen oder im Internet.

    7 : 40 Uhr: Im Sonnenland wollen an diesem Dienstag fünf Leute einsteigen. Alle werden von der Pfarrerin persönlich begrüßt. Sobald die Rucksäcke verstaut sind und alle ihre Plätze eingenommen haben, geht es weiter.

    8 : 20 Uhr: Der Bus ruckt an der letzten Haltestelle an. Für heute sind alle Mann und natürlich auch alle Frauen an Bord! Mit bis zu drei großen Bussen geht es weiter in die Berge.

    In San Bartolomé – einem kleinen Bergdorf – stößt der örtliche Bergführer zur Gruppe.

    Während sich die Wanderer mit Kaffee und Bocadillos stärken, bespricht die Pfar- rerin mit ihm und anderen ehrenamtlichen Wanderführern die heutige Route.

    30 Minuten später sitzen alle wieder im Bus in Richtung Ausgangspunkt des ge- planten Weges. Dort angekommen werden die Wanderstöcke ausgegeben, die Rucksäcke geschultert und die Gruppe setzt sich in Bewegung. Auf alten Pfaden, die zum Teil noch aus der Guanchenzeit stammen, geht es durch dunkle Kiefern- wälder, rosa Mandelbäume, gelbe Ginsterhänge und wilde Barrancos – mal steil bergauf, dann wieder bergab, mal über sanfte grüne Wiesen und ein anderes Mal über steinige Geröllfelder. Die Landschaft wird zum Sinnbild des eigenen Lebens. Während des Laufens kommt man ins Nachdenken. Durch die körperliche An- strengung geraten auch die Gedanken in Bewegung. Die Pfarrerin wandert mitten in der Gruppe. Man kommt ins Gespräch. Es wird zugehört, Sorgen werden ernst- genommen und Gedanken sortiert.

    Der Blick vom höchsten Gipfel, dem Roque Nublo über das Meer bis zum Teide auf Teneriffa lässt alles aus einer anderen Perspektive betrachten. Die Weite schafft Klarheit und oft auch Lösungen.

    Vor dem Abstieg gibt es während einer kleinen Rast das »Wort zum Dienstag«. Eine kleine Geschichte, ein Gebet, ein Lied geben neue Gedankenimpulse und können für das eigene Leben neue Wege aufzeigen.

    Leichten Fußes geht die Gruppe weiter. Am Ziel angekommen warten schon die Busse, um alle zum Mittagessen in ein Restaurant zu bringen. Das gemeinsame Sit- zen und Essen an Tischen in einer großen Gruppe, mit der man eine Tour bewältigt hat, und der Austausch untereinander schaffen eine Atmosphäre, in der sich jeder einzelne aufgehoben und angenommen fühlt.

    16:00 Uhr: Nach einem ereignisreichen Tag fahren die Busse zurück nach Maspalo- mas, um alle wieder zu ihren Einstiegshaltestellen zurückzubringen, an denen die Pfarrerin die Aussteigenden wiederum persönlich verabschiedet.

    Die Menschen haben Kirche ganz neu erfahren: locker, begleitend, in Bewegung und ganz dicht am einzelnen. Jede Wanderung kann auf diese Weise zu einem kleinen Pilgerweg werden. Hasta la proxima auf Gran Canaria!

    Dr. Bernhard Seyderhelm und Ramona Thiede-Seyderhelm  www.kirche-gc.de

  • Stadtführungen

    Ich stehe vor der Zionskirche und warte auf eine Gruppe. Das Portal habe ich einadend geöffnet. Ein anderer Stadtführer kommt vorbei und die Teilnehmenden lugen neugierig. »Da brauchen wir gar nicht reinzugehen. Die Kirche ist nicht mehr in Betrieb«, tönt es aus dem Mund des Guides.

    Ich würde am liebsten einschreiten, die Gruppe ist aber schon vorbei. So beschreibt ein »normaler« Berliner Stadtführer also eine Kirche, die mit dem Namen Dietrich Bonhoeffer verbunden ist, sich durch die Unterbringung der Umweltbibliothek in den Gemeinderäumen in der DDR-Zeit einen besonderen Platz in der Geschichte der Friedlichen Revolution verdient hat und heute eine wachsende, unglaublich aktive Gemeinde ist?

    Da kommt meine Gruppe, 12. Jahrgangsstufe eines Gymnasiums aus Sachsen-Anhalt, Leistungskurs Politik. Die Lehrerin hat sich gewünscht, dass die Schüler*innen etwas zur Rolle der evangelischen Kirche in der NS- und der DDR-Zeit erfahren und da ist die Zionskirche der perfekte Ort.

    Ich begrüße sie, gehe dann mit den Jugendlichen in die Kirche und lade sie ein, Platz zu nehmen und den Raum auf sich wirken zu lassen. Dann frage ich, wie sie den Raum empfinden und wie immer kommen Kommentare wie »ganz schön runtergekommen« und »hat die Gemeinde kein Geld, das Gebäude in Schuss zu bringen?«. Ich erkläre, dass es ein Entschluss der Gemeinde ist, diese Kirche nicht glatt zu sanieren, sondern dass sie die Spuren ihrer Geschichte zeigen soll und lese einen Eintrag aus dem Gästebuch vor: »Diese Kirche ist wie mein Leben. Es hat Risse und Brüche. Hier kann ich sein, wie ich bin.«

    Dann erzähle ich von Bonhoeffer, wie er 1931 seine erste Pfarrstelle hier angetreten hat, entsetzt war über die Umstände, unter denen Menschen in dieser Gegend leben mussten. Wie er sich um seine Konfirmanden gekümmert hat. Was Konfirmanden sind, will ein Junge aus der Gruppe wissen. Nach einer kurzen Erklärung fahre ich mit Bonhoeffers Zeit im Widerstand gegen den Nationalsozialismus fort.

    Noch aufmerksamer werden die Jugendlichen bei den Geschichten um die Umweltbibliothek, den Bespitzelungen durch die Stasi, den Überfall von Rechtsradikalen auf ein Punkkonzert in der Kirche. Ich lasse sie mit einem alten Überwachungsfoto den Standort des Gemeindehauses finden. Rege diskutieren die Schüler*innen, wie man sich selbst in einer Diktatur verhalten hätte. Warum die Kirche fast der einzige Raum war, wo man sich treffen, diskutieren und engagieren konnte. Die Augen der Lehrerin glänzen vor Stolz über ihre engagierten Schüler*innen.

    Mit dieser Art Stadt- und Kirchenführungen, die Politik-, Kultur- und Kirchengeschichte ganz eng miteinander verknüpfen, besetzen wir eine Nische, die auf dem breiten Stadtführungsmarkt Berlins einmalig ist. Auf diese Weise gelingt es uns, Jugendliche und Erwachsene zu erreichen, die von kirchlichen Angeboten kaum mehr angesprochen werden und/oder aus einem sehr säkularen Umfeld kommen. Auch Bildungsträger wie das Goethe-Institut, die Stiftung Deutsche Klassenlotterie, Vereine und Verbände, Firmen und Jugendeinrichtungen nutzen unser Angebot.

    CROSS ROADS bietet über 50 verschiedene Stadtführungen an, auf Wunsch auch individuell maßgeschneidert. Wir arbeiten mit 42 teilweise ehrenamtlichen, hauptsächlich aber freiberuflichen Stadt- und Kirchenführer*innen zusammen. Diese er- halten von uns regelmäßig Schulungen.

    Antje Zimmermann    www.crossroads-berlin.de

  • Bergspiritualität

    In einer Kirche war er schon lange nicht mehr – Peter, 32, Informatiker. Aber ihn treibt es immer wieder hinaus, genauer gesagt: bergauf. Was ihn treibt? Das Naturerlebnis? Ein Freiheitsgefühl? Der sportliche Kick? Wahrscheinlich von allem etwas – und sogar noch mehr; denn immer wieder kam er erfüllt von seinen Touren zurück – manchmal sogar irgendwie verwandelt. Wie stand auf dem Gipfelkreuz neulich: »Viele Wege führen zu Gott, einer davon über die Berge.« Das machte ihn neugierig; und deshalb fand er es interessant, als er auf der Seite www.berg- spiritualitaet.de von spirituellen Bergtagen las, die die Evangelische Kirche in Bayern unter der Überschrift »Berge erleben – Gott nahe sein« anbot. »Angebote zur Bergspiritualität verstehen sich als Möglichkeit für die Teilnehmenden, die Berge als Orte spiritueller Erfahrungen zu erleben und die Frage nach Gott neu zu stellen – auf erfrischende Weise und in herrlicher Natur.« Das reizte ihn. Und nun war er unterwegs, mit zehn anderen, ganz unterschiedlichen Menschen, die doch alle eines verband: die Liebe zu den Bergen und die Sehnsucht nach dem MEHR.

    Spirituelle Impulse wechselten sich ab mit Phasen schweigenden Gehens oder dem Austausch auf dem Weg zu zweit. Der gleichmäßige Rhythmus beim Steigen, das bewusste Atmen, ein Bibelvers im Murmelmodus auf den Lippen: »Ich hebe meine Augen auf zu den Bergen. Woher kommt mir Hilfe?« Irgendwie öffnete sich bei ihm die Verbindungstür zwischen körperlichen und geistigen Bergerfahrungen. Er spürte, wie der Weg auf den Berg ein Sinnbild für sein eigenes Leben wurde und wie ihm die Impulse aus der Bibel und die Gespräche mit den anderen neue Perspektiven eröffneten und ihm neue Kräfte zuwuchsen. Ja, irgendwie kam ihm das Raufsteigen wie ein Raussteigen in eine andere, eine transzendente, spirituelle Sphäre vor.

    Nach drei Tagen mit zwei Hüttenübernachtungen kam er wieder ins Tal zurück; und er hatte eine Ahnung davon, wie viel Wahrheit in diesem Satz steckt: »Viele Wege führen zu Gott, einer davon über die Berge.«

    Thomas Roßmerkel    www.bergspiritualitaet.de

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