Zusammenleben gestalten

1. Ethnische, kulturelle und religiöse Pluralität als Herausforderung

  1. Unsere Gesellschaft ist ethnisch, kulturell und religiös vielfältiger geworden. Vor allem die wirtschaftliche Globalisierung, der europäische Integrationsprozess und die damit verbundene grenzüberschreitende Freizügigkeit, die gewachsene Mobilität, der rapide Ausbau von Telekommunikationssystemen und die demographische Entwicklung lassen erwarten, dass sich dieser Prozess auch in überschaubarer Zukunft fortsetzen wird. Deutschland steht damit nicht allein. Migration ist auch weltweit gesehen der Normalfall gegenwärtiger geschichtlicher Entwicklungen, wenngleich in regional unterschiedlichen Ausprägungen. Wir brauchen deshalb ein Gesellschafts- und Staatsverständnis, das dieser Realität, den damit verbundenen Herausforderungen wie den darin liegenden Chancen gerecht wird.
  2. Diese Entwicklung ist vor allem das Ergebnis der Zuwanderung in den zurückliegenden Jahrzehnten. Ein differenzierter Prozess verschiedener Wanderungsbewegungen umfasste Flüchtlinge und Vertriebene in Folge des Zweiten Weltkrieges, Aussiedler und Spätaussiedler, ausländische Arbeitskräfte der unterschiedlichen Phasen, Zuwanderer aufgrund der Freizügigkeit im Rahmen der Europäischen Union, Asylsuchende, Kriegs- und Bürgerkriegsflüchtlinge, nachziehende Familienangehörige und weitere Personenkreise wie z.B. Studierende.
  3. Die Ursachen für diese Entwicklung liegen in politischen Konstellationen, der geographischen Lage Deutschlands und den wirtschaftlichen, menschenrechtlichen, demokratischen und humanitären Gefällestrukturen. Unterschiedliche push- und pull-Effekte werden auch in absehbarer Zukunft anhalten. Die Kirchen in Deutschland haben in ihrem gemeinsamen Wort zu den Herausforderungen durch Migration und Flucht unter dem Titel „... und der Fremdling, der in deinen Toren ist“ (1997) die Ursachen der Wanderungsbewegungen ausführlich dargestellt und bewertet. Sie haben dabei unterstrichen, dass es nicht angeht, „Ausländer maßgeblich aus der Perspektive der Gefährdung von öffentlicher Sicherheit und Ordnung zu betrachten, ihre persönlichen Bedürfnisse dem staatlichen Interesse an der Gefahrenabwehr unterzuordnen und damit den Schutz ihrer personalen Würde hintanzustellen“ [2]. Vielmehr besteht die Aufgabe, Zuwanderung politisch und rechtlich konstruktiv zu gestalten.

Statistische Angaben

1. Zu- und Abwanderungen nach und aus Deutschland

Jahr Zuzüge (davon Deutsche/Ausländer) Fortzüge (davon Deutsche/Ausl.) Wanderungssaldo
1991 1.182.927 (262.436/920.491) 497.540 (84.764/497.478) +600.687
1992 1.489.449 (281.847/1.207.602) 701.424 (86.677/614.747) +788.025
1993 1.268.004 (281.132/986.872) 796.859 (86.619/710.240 +471.145
1994 1.070.000 (296.100/773.900) 740.500 (119.100/621.400) +329.500
1995 1.096.000 (303.300/792.700 698.100 (130.700/ 567.400) +397.900
1996 960.000 (252.000/708.000) 677.000 (118.000/559.000) +283.000
1997 840.000 (225.000/615.000) 747.000 (110.000/637.000 +93.000
1998 802.456 (196.956/605.500) 755.358 (116.403/638.955) +47.098
1999 874.000 (200.000/674.000) 672.000 (116.000/526.000) +202.000
2000 840.800 (192.000/648.800) 673.300 (110.900/562.000) +167.500

Quelle: Statistisches Bundesamt (Stand: 31.1.2002)

Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes sind 1998 103 080 Aussiedler und deren Angehörige nach Deutschland gekommen, 1999 104.916, 2000 95.615 und im Jahr 2001 98.484.

2. Ausländische Wohnbevölkerung in Deutschland nach den häufigsten Staatsangehörigkeiten (in 1000)

Türkei 1.947,9 26,6%
BR Jugoslawien 627,5 8,6%
Italien 616,3 8,4%
Griechenland 362,7 4.9%
Polen 310,4 4,2%
Kroatien 223,8 3,1%
Österreich 189,0 2,6%
Bosnien-Herzegowina 159,0 2,2%
Portugal 133,7 1,8%
Spanien 129,4 1,8%
Ausländer insgesamt 7.318,6 100%

Der Anteil der EU-Ausländer ist von 1995 bis Ende 2000 weitgehend konstant (25,7%) geblieben.
Stichtag: 31. Dezember 2001; Quelle: Statistisches Bundesamt (Stand: 29.4.2002)

3. Aufenthaltsdauer ausländische Wohnbevölkerung in Deutschland

10 Jahre und mehr 4.125.577 56,4 %
8 bis unter 10 Jahre 681.839 9,3 %
6 bis unter 8 Jahre 561.677 7,7 %
4 bis unter 6 Jahre 580.528 7,9 %
1 bis unter 4 Jahre 979.819 13,4 %
unter einem Jahr 389.188 5,3 %

Stichtag: 31. Dezember 2001; Quelle: Statistisches Bundesamt (Stand: 19.7.2002)

  1. Nach einem durchschnittlichen Zuwanderungsüberschuss von jährlich 280 000 Menschen seit Mitte der 60er bis etwa Mitte der 90er Jahre hat sich dieser Überschuss verringert. Diese Entwicklung hat eine breite Debatte über die Integration der in Deutschland auf Dauer lebenden Migranten erleichtert. Die Zahl der Asylanträge erreichte in Deutschland im Jahr 2001 einen neuen Tiefstand. Die derzeitige geringere Zahl von Zuwanderungen bietet die Möglichkeit zu einer differenzierten Meinungsbildung und sachgerechten Lösungen.
  2. Die Kirchen haben wiederholt in der Vergangenheit darauf hingewiesen, dass es - von der Integrationsförderung für Aussiedler bis Anfang der 90er Jahre abgesehen - zu keiner Zeit in Deutschland ein umfassendes und langfristiges Konzept für dauerhafte Eingliederung gab, da die jeweiligen Lösungen zu sehr von aktuellen, nicht aber von langfristigen Perspektiven bestimmt waren. In ihrem „Gemeinsamen Wort zu den Herausforderungen durch Migration und Flucht“ haben die Kirchen 1997 Elemente für ein umfassendes Konzept benannt und eingefordert, das den Herausforderungen gerecht werden und die unterschiedlichen, teilweise konträren Probleme zukunftsorientiert lösen bzw. zu einem Ausgleich bringen kann.
  3. Neben der Frage der Zuwanderung ist die gewachsene ethnische und kulturelle Pluralität in Deutschland eine gesellschaftliche Herausforderung, die einer dringenden Klärung und Verständigung in allen Kreisen der Bevölkerung bedarf. „Integration“ ist ein sehr wesentlicher, jedoch nicht unumstrittener Aspekt dieses notwendigen neuen Gesellschaftsverständnisses und zugleich eine überfällige Antwort von Gesellschaft, Politik und Rechtsordnung auf die Realität der Zuwanderung. Dabei geht es sowohl um die politische Gestaltung des rechtlichen und sozialen Rahmens als auch um Gestaltungsmöglichkeiten als Aufgaben für alle Bürgerinnen und Bürger. Die Evangelische Kirche in Deutschland möchte mit den hier vorliegenden Überlegungen einen Beitrag dazu leisten.
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