Zusammenleben gestalten

2. Theologische Vergewisserungen

  1. Wenn sich die Kirchen in Deutschland zu diesen Fragen äußern, tun sie dies erstens in dem Bewusstsein, dass sie selbst in ihrer historisch gewachsenen Gestalt von diesen Veränderungen nachhaltig betroffen sind. Zweitens richtet sich das Evangelium an alle Menschen ungeachtet ihrer nationalen, ethnischen, sprachlichen oder kulturellen Herkunft. Die Kirche existiert deshalb als weltweite Gemeinschaft in Vielgestaltigkeit. Drittens sind Migration und Fremdheit grundlegende, wenn auch manchmal in Vergessenheit geratene Themen der Bibel und Grunderfahrungen des Glaubens.
  2. Die Zahl der Christen aus anderen Ländern in Deutschland hat erheblich zugenommen. Die Zusammenarbeit mit Gemeinden und Kirchen anderer Sprache bedeutet eine neue Dimension von Ökumene und eine bislang in dieser Form nicht gekannte Gestaltungsaufgabe. Zudem hat die gewachsene Zahl von Menschen anderer Religionszugehörigkeit, vor allem Muslimen, eine veränderte Situation geschaffen und fordert die Kirchen heraus, ihre bisherige gesellschaftliche Rolle wie auch ihr Verhältnis zu anderen Religionen, besonders zum Islam, neu zu bestimmen.
  3. Die christlichen Kirchen existieren in konfessioneller und kultureller Vielgestaltigkeit. Es bedurfte eines langen Lernprozesses, der auch geschichtliche Irrwege und Katastrophen hervorgebracht hat, um zu verstehen, dass konfessionelle Verschiedenheit kein Mangel an Einheit ist, sondern eine Form der Beheimatung des Evangeliums zu unterschiedlichen Zeiten und in verschiedenen Umwelten. Die Spannung zwischen Einheit und Vielfalt, zwischen der Gemeinschaft des Zeugnisses und der Vielzahl der Kirchen ist und bleibt eine grundlegende ökumenische Herausforderung.
  4. Die in konfessioneller und kultureller Verschiedenheit existierenden Kirchen bleiben aufgrund des gemeinsamen Bekenntnisses und des gemeinsamen Auftrages, das Evangelium allen Menschen zu verkündigen, der Einheit der Kirche verpflichtet. In der Überwindung trennender Grenzen zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft und Prägung, in dem geschwisterlichen Umgang miteinander und in der Überwindung der Trennung der Kirchen haben sie eine Leit- und Vorbildfunktion. Die Kirchen haben die Erfahrung gemacht, dass ökumenische Offenheit und Dialogbereitschaft Bereicherung bedeuten können. Sie haben große Kompetenzen und Erfahrungen in interkulturellem Lernen erworben.
  5. Zum ökumenischen Erfahrungsschatz der Kirchen gehört nicht nur die Vorstellung von der „Einheit in versöhnter Verschiedenheit“, sondern auch die leidvolle Geschichte von Intoleranz, Konflikten und wechselseitigen Verurteilungen. Die Kirchen verkennen deshalb nicht, dass durch die Verschiedenheit auch weiterhin theologische, soziokulturelle, mentale, rechtliche und politische Spannungen bestehen. Die Anerkennung des anderen enthebt nicht von der gemeinsamen Frage nach der Wahrheit. Verständigungs- und Integrationsprozesse verlaufen oft nicht ohne Konflikte.
  6. Die Bejahung der Vielfalt von Lebens- und Glaubensformen hat ihre Begründung im Neuen Testament und der dort begegnenden Vielfalt der Glaubenserfahrungen und Ausdrucksformen der einen Botschaft von Jesus Christus. Deshalb können die Kirchen „versöhnte Verschiedenheit“ als theologischen und ökumenischen Leitbegriff entfalten und als konkretes Modell gesellschaftlicher Integration vorleben. In der Perspektive des Evangeliums bekommen nationale und kulturelle Grenzen eine nachrangige Bedeutung.
  7. Christen glauben an die Erschaffung des Menschen als Ebenbild Gottes und damit an die grundlegende Gleichheit aller Menschen. Die Unantastbarkeit der Würde des Einzelnen ist in dieser Gottesebenbildlichkeit des Menschen begründet. Sie prägt die Verantwortung für das Zusammenleben. Die Kirchen werden sich daher in Solidarität, durch Beistand und Anwaltschaft immer einmischen, wenn Menschen wegen ihres Andersseins in ihrer Lebensentfaltung benachteiligt oder gar diskriminiert werden. Diese kritische Haltung gehört zu ihrem Wächteramt und ist zugleich ein Friedensbeitrag in einer zerrissenen Welt.
  8. Die an vielen Stellen der Bibel beschriebenen Erfahrungen von Vertreibungen, Wanderungen, Sesshaftwerden in einem fremden Land und die Regeln für den Umgang mit Fremden bestimmen wesensmäßig das Selbstverständnis der Kirchen. Daraus leitet sich eine besondere Verpflichtung zur Solidarität mit Migranten ab, mit Menschen anderer Sprache und Herkunft, die aus unterschiedlichen Gründen ihre Heimat verlassen haben.
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