Zusammenleben gestalten

3. Schlüsselbegriff „Integration“

  1. Die zunehmende Globalisierung, die vielschichtigen und weltweiten Modernisierungsprozesse und die sich daraus ergebenden Migrationsbewegungen stellen neue Anforderungen an die kulturelle Offenheit und Pluralität unserer Gesellschaft. Nicht nur die zugewanderten Minderheiten, sondern auch die Mehrheit unterliegen geschichtlichem Wandel, Veränderungen und vielschichtigen Ausgleichsprozessen. Eine demokratische Gesellschaft wird sich vor allem daran messen lassen müssen, wie die Mehrheit mit Minderheiten umgeht.

„Integration“ als kontinuierlicher Prozess

  1. Dem Begriff „Integration“ kommt deshalb in der gegenwärtigen Diskussion eine Schlüsselrolle zu. Integration ist ein kontinuierlicher Prozess. Sein Ziel ist gleichberechtigte gesellschaftliche Teilhabe. Dieser Prozess schließt für die Hinzukommenden die Übernahme von Rechten und Pflichten der aufnehmenden Gesellschaft ein. Für die aufnehmende Gesellschaft ergibt sich die Verpflichtung, Partizipation zu ermöglichen und deren Wahrnehmung aktiv zu fördern. Für beide Seiten geht es um eine wechselseitige Offenheit im Dialog und im Austausch.

    Dieser Integrationsprozess darf nicht in der Weise verstanden werden, dass sich die Zugewanderten weitgehend assimilieren, zumindest aber das ablegen sollen, was die bereits Ansässigen als zu fremdartig ablehnen. Das liefe auf eine einseitige Herrschaft der Ansässigen, eine Unterordnung der Zugewanderten und auf eine Abwehr alles Neuen hinaus.

  2. Die lange übliche Unterscheidung zwischen Deutschen und Ausländern muss überdacht werden. Immerhin bilden Deutsche und deren Nachkommen aus östlichen Nachbarländern, Kinder und Enkel von Arbeitsmigranten, binationale Familien und andere einen nennenswerten Anteil der zugewanderten Bevölkerung in Deutschland. Dies erfordert eine differenzierte Sicht und eine zutreffende Begrifflichkeit. Es ist nicht angemessen, die Enkel und Großenkel von Zugewanderten weiterhin „Ausländer“ zu nennen und auf Dauer als solche zu behandeln.
  3. Die Zahl der Menschen, die in mehreren Kulturen aufwachsen, leben und arbeiten, steigt deutlich an. Das trifft sowohl auf Deutsche zu wie auch auf Menschen anderer Nationalität. Auch die Zahl binationaler Familien ist gestiegen. Diese Entwicklung sollte vor allem in den darin liegenden Chancen und Kompetenzen wahrgenommen werden, Kulturen zu verbinden und Sprachbarrieren zu überbrücken, und nicht nur in ihren möglichen Belastungen für den Einzelnen.

Verbindlichkeit der Grundwerte der Verfassung

  1. Integration setzt das Einverständnis in notwendige Grundlagen des Zusammenlebens voraus. Diese sind durch die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland vorgegeben. Das Grundgesetz ist für alle ohne Einschränkung verbindlich.
  2. Die Grundwerte der Verfassung, die durch den Grundrechtskatalog bestimmt werden, sind unveräußerbare Grundlagen unserer Gesellschaft. Dazu gehören vorrangig der Schutz der Menschenwürde (Artikel 1 GG), die Freiheit der persönlichen Entfaltung, der Schutz des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit (Artikel 2), die Freiheit des Glaubens und der weltanschaulichen Überzeugung, die Gewissensfreiheit (Artikel 4) und die Meinungsfreiheit (Artikel 5). Das Grundgesetz geht von der Gleichwertigkeit aller Menschen aus und verlangt insbesondere die Gleichberechtigung von Mann und Frau (Artikel 3) und den Schutz von Ehe und Familie (Artikel 6)
  3. Die Grundwerte sind für hiesige Bürgerinnen und Bürger genauso verbindlich und verpflichtend wie für Zugewanderte. Von beiden wird verlangt, dass sie diese Verfassungsgrundsätze als Basis des Zusammenlebens anerkennen. Respekt, Akzeptanz und die Freiheit zu pluralen Lebensformen sind Ausdruck einer offenen und vom Grundsatz her vielfältigen Gesellschaft.
  4. Es gehört zu den Ordnungsaufgaben des Staates, das Zusammenleben der Menschen auf seinem Staatsgebiet zu gewährleisten. Die staatliche Schutzpflicht soll ein friedliches Nebeneinander von Menschen unterschiedlicher Herkunft und Weltanschauung garantieren.
  5. Ein friedliches und gleichberechtigtes Zusammenleben ist in einer Gesellschaft nur möglich, wenn Zugewanderte wie Einheimische Rücksicht auf die Rechte anderer nehmen. Die Selbstentfaltung findet ihre Grenze in den „Rechten anderer“ (vgl. Artikel 2 GG). Aber auch das Recht, die eigene Weltanschauung nicht nur zu haben, sondern auch zu bekennen, ist Einschränkungen unterworfen, soweit es an das gleichwertige Recht von Menschen anderen Glaubens oder anderer Überzeugungen stößt. Niemand darf seine eigene Weltanschauung anderen gegen deren Willen aufdrängen; der Einzelne ist zu friedlicher weltanschaulicher Koexistenz und damit zur Achtung anderer Bekenntnisse verpflichtet. Auf die zahlenmäßige Stärke oder die soziale Relevanz kommt es dabei nicht an, wie das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 19. Oktober 1971 (NJW 1972, 327) festgestellt hat. Der Staat ist gehalten, die verschiedenen Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften neutral zu behandeln und dabei den Grundsatz von Gleichheit und Parität zu beachten.
  6. Ein moderner Rechtsstaat basiert von seinem Grundverständnis her auf der Gleichheit aller im Hinblick auf ihre Rechte und Pflichten. Zugewanderte haben in der Regel nicht durchweg die gleichen Rechte wie deutsche Staatsangehörige. Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen auf Dauer in einem Gemeinwesen leben, brauchen aber die Perspektive, den vollen Bürgerstatus in einem absehbaren Zeitraum erlangen zu können. Staatsvolk und Wohnbevölkerung müssen auf Dauer zusammengeführt werden, da ansonsten Rechtsgleichheit, Rechtssicherheit und sozialer Friede Schaden nehmen. Zudem nötigt der Grundsatz der Menschenwürde dazu, Zugewanderten eine selbstverantwortete Planung ihres Lebens zu ermöglichen.
  7. Es müssen ausreichende gesetzliche Grundlagen vorhanden sein, um Diskriminierungen zu unterbinden und ihnen vorzubeugen. Erfahrungen von Diskriminierung, Rassismus oder Fremdenfeindlichkeit können auch integrationsbereite Menschen zu Außenseitern machen.
  8. Das Ziel einer neuen, umfassenden und nachhaltigen Integrationspolitik muss darin bestehen, dass Migranten, ungeachtet ihrer Herkunft, gleichberechtigt am gesellschaftlichen Leben teilhaben und teilnehmen können. Mit „umfassend“ ist gemeint, dass alle Integrationsbereiche - also Arbeitsmarkt, Bildung, Kultur, Religion, soziale, rechtliche und politische Integration - einzeln und in ihrer Wechselwirkung bedacht und konzeptionell entwickelt und gefördert werden (vgl. unten Teil 4). Eine solche Integrationspolitik muss „nachhaltig“ im Sinne von gesellschaftlicher Integration als einer andauernden gesellschaftspolitischen Aufgabe sein. Damit wird den in Deutschland lebenden Zugewanderten eindeutig signalisiert, dass sie ein Teil unserer Gesellschaft sind und dass sie bei einem dauerhaften Aufenthalt über kurz oder lang Bürger dieser Republik mit gleichen Rechten und Pflichten werden sollen.

Grundelemente einer umfassenden und nachhaltigen Integration

  1. Die Sicherung der materiellen und sozialen Grundbedürfnisse ist der wichtigste gesellschaftliche Integrationsfaktor - unabhängig von der ethnischen oder religiösen Zugehörigkeit einer Person. Soziale Chancengleichheit, insbesondere die Teilhabe an Ausbildung, Zugang zum Arbeitsmarkt, Einbindung in die sozialen Sicherungssysteme, angemessene Wohnverhältnisse fördern Integration und bauen soziale Spannungen und Vorurteile ab.
  2. Die Integration von Menschen anderer Herkunft kann sich vor allem dann als schwierig erweisen, wenn der Migrationsprozess für die Zuwanderer mit strukturellen sozialen Problemen und Benachteiligungen verbunden ist. Soziale Integration zu fördern ist deshalb neben einer Sicherung der Grundbedürfnisse auch ein zentraler Faktor zur Vermeidung und Überwindung von Fremdenfeindlichkeit.
  3. Die Teilnahme am Alltagsleben in Deutschland ist nur möglich, wenn eine ausreichende Kenntnis der deutschen Sprache vorhanden ist. Deutsch verstehen und sprechen können sind Grundbedingungen für gelingende Integration.
  4. Ebenso ist Bildung eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Teilhabe an einer modernen Gesellschaft. Deshalb sind Bildungsangebote von zentraler Bedeutung für erfolgreiche Integration und zur Vermeidung von gesellschaftlicher Desintegration. Alle Bürgerinnen und Bürger sind aufgerufen, sich auf den Umgang mit Pluralität einzustellen.
  5. Frühzeitig sollte den Zugewanderten von Seiten des Staates die Teilnahme an integrationsfördernden Maßnahmen angeboten werden, die wechselseitig verpflichtenden Charakter haben. Mit solchen Modellen gibt es bereits gute Erfahrungen. Sie haben sich vor allem bewährt, wenn sie mit positiven Anreizen verbunden sind und Beratungsangebote einschließen.
  6. Integration ist ein Prozess, der auf Gegenseitigkeit und Vertrauensbildung angewiesen ist. Das verlangt auf Seiten der Zugewanderten wie auch auf Seiten der Ansässigen die grundsätzliche Bereitschaft, die jeweils andere kulturelle Prägung kennen und verstehen zu lernen. Bisherige Entwicklungen - beispielsweise in der Städtebau- und Wohnungspolitik - haben mit dazu beigetragen, dass geschlossene Wohnsiedlungen entstanden, in denen Zugewanderte ohne nennenswerten sprachlichen und sozialen Kontakt zum deutschen Alltagsleben unter sich geblieben sind. Andererseits ist in der deutschen Bevölkerung etwa das Wissen über türkische Kultur trotz der großen Zahl von Menschen türkischer Abstammung in unserem Lande überaus gering.
  7. Zusammen mit den Bürgerinnen und Bürgern aus den anderen Mitgliedstaaten sind wir gemeinsam Inländer der Europäischen Union. Dies erfordert ein neues Denken; denn zwischen diesen Staaten gibt es keine Grenzzäune mehr. Künftig wird sich aufgrund der fortschreitenden Freizügigkeit innerhalb der Mitgliedstaaten der Europäischen Union und deren Erweiterung nach Osteuropa die Zahl der Menschen erhöhen, die nur eine begrenzte Zeit in einem anderen Land studieren, arbeiten oder dort aus anderen Gründen leben. Auch den damit verbundenen Anforderungen und Bedürfnissen eines absehbar befristeten Aufenthaltes muss angemessen Rechnung getragen werden.
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