„Es ist die Pflicht der Kirche“

Interview mit Dr. Alena Höfer über Formen kirchlicher Macht und die Unterstützung gefährdeter Gruppen

Dr. Alena Höfer ist Referentin für Frauenpolitik und intersektionalen Feminismus am Institut für Kirche und Gesellschaft der Evangelischen Kirche von Westfalen. Zum Schwerpunktthema „Kirche und Macht“  der 6. Tagung der 13. Synode der EKD gibt sie am 8. November in Dresden einen Impuls aus intersektional-theologischer Perspektive. Im Interview spricht sie u.a. darüber, wie Diversität, Gendergerechtigkeit und Machtkritik zusammenhängen, warum Transparenz allein nicht genügt und wieso die Zukunft der Kirche von einer machtsensiblen Haltung und der Einbeziehung marginalisierter Stimmen abhängt.

Alena Höfer

Dr. Alena Höfer

Frau Höfer, welche speziellen Formen von Machtausübung gibt es in der Kirche?

Alena Höfer: Macht ist zunächst ein neutraler Begriff. Er besagt, dass Menschen die Möglichkeit haben, etwas Wirklichkeit werden zu lassen oder nicht. Damit gehen unterschiedliche Machtpositionen einher, in denen mit Macht kritisch und sensibel umgegangen werden kann oder aus denen heraus Machtmissbrauch betrieben werden kann. Das Spezifische in Kirche ist aus meiner Sicht, dass Macht in der Kirche immer auch mit Religion, d.h. mit Theologien, Traditionen, Ämterverständnissen und Praktiken verbunden ist. Das unterscheidet Machtverhältnisse in Kirche von Machtverhältnissen in politischen oder gesellschaftlichen Zusammenhängen. Ansonsten finden sich in kirchlichen und außerkirchlichen Zusammenhängen diesbezüglich sehr viele Gemeinsamkeiten.

Kirche tritt als eine Institution auf, die auch eine spirituelle, religiöse Gemeinschaft ist und moralische Werte vermitteln möchte. Entsteht dadurch eine Spannung zur Machtausübung auf der anderen Seite?

Höfer: Genau darin liegt der Grund, warum es in Kirche so schwerfällt, über Machtmissbrauch und Machtkritik zu sprechen. Das christliche Ideal der Kirche impliziert eine Gemeinschaft, in der alle willkommen sein sollen und in der es keine Ausgrenzung gibt. Dieses Ideal ist so wirkmächtig, dass es oft schwerfällt, über bestehende Machthierarchien und Exklusionsmechanismen ins Gespräch zu kommen. Denn manchmal entsteht durch die Inklusion der einen, eine Exklusion der anderen. Vor allem in diesen Zeiten ist es aus meiner Sicht die Pflicht der Kirche, an der Seite der derzeit in unserer Gesellschaft angefeindeten und gefährdeten Gruppen zu stehen.

Sie beschäftigen sich in Ihrer Forschung auch mit Diversität und Gendergerechtigkeit. Wie begegnet Ihnen das Thema Macht und Machtausübung dort?

Höfer: Diversitäts- und Genderforschungen sind immer auch Machtkritik. Sie fragen nach den Strukturen, die Machtungleichheiten hervorgebracht haben, wie diese wirken und durch welche Mechanismen sie erhalten werden. Denken wir zum Beispiel an die Realität von Frauen of Color. Ihre intersektionalen Erfahrungen von Sexismus und Rassismus basieren nicht auf ihrer individuellen Identität, sondern auch strukturellen Machtasymmetrien. Das heißt, es liegt nicht an dem Verhalten der einzelnen Person, sondern aufgrund des Systems machen Menschen mit bestimmten Merkmalen diskriminierende und rassistische Erfahrungen. Das ist strukturelle Macht.

Um besser zu begreifen, was das für Kirche bedeutet, müssen wir diese Strukturen verstehen. Wir leben schon längst in einer heterogenen, superdiversen Gesellschaft, aber die Mehrzahl unserer kirchlichen Gremien bildet das nicht ab. Es gibt durch den unermüdlichen Aktivismus von Frauen eine Verbesserung der binären geschlechtlichen Zusammensetzung. Zugleich zeigt der vor Kurzem erschiene Gleichstellungsatlas der EKD, dass dies noch nicht auf die mittlere und obere Leitungsebene zutrifft. Gleichzeitig sind queere Menschen, BIPoC oder Menschen mit Be/hinderungen i.A. noch signifikant unterrepräsentiert.

Wie könnte die Kirche zu einem adäquaten Umgang mit Machtstrukturen finden, welche Schritte sind notwendig?

Höfer: Das ist ein Prozess, der schon begonnen hat. So haben etwa die feministische Theologie und die Frauenbewegung wichtige Impulse gegeben. Nun geraten viele weitere Gruppen in den Blick, wenn wir über Behinderung, Rassismus und andere Formen von Diskriminierung nachdenken. Sie machen zunehmend ihre Perspektiven deutlich. Die Ermöglichung, dass sie ihre Stimmen erheben können, hat übrigens auch etwas mit Macht zu tun. Es ist klar: Es gibt nicht die eine, schnelle Lösung, sondern Machtsensibilität ist ein langer Weg. Da ist viel Zuhören nötig, ein Haltungswechsel und auch radikale Selbstkritik. Aber es braucht auch finanzielle Mittel, um Veränderungen umzusetzen.

Die Frauenbewegung wäre ohne entsprechende finanzielle Ressourcen so nicht möglich gewesen, auch wenn diese in der Regel knapp bemessen waren und in Zeiten des Überflusses bewilligt worden sind. Gegenwärtig besteht die Gefahr, dass genau an dieser Stelle Einsparungen beschlossen werden und es zu Rückschritten kommt. Die anderen Bewegungen und Gruppen, die jetzt zunehmend in den Blick kommen, brauchen aber auch entsprechende Unterstützung. Dabei dürfen wir die Gruppen besonders in Zeiten der Knappheit nicht gegeneinander ausspielen. Nach dem Motto: die Frauenbewegung hatte ihre Zeit, jetzt fokussieren wir uns mal auf andere Gruppen und investieren darein. Die Diskriminierungen hängen ja zusammen. All diese Formen gipfeln letztendlich in der Machtfrage und das ist eine dauerhafte Querschnittsaufgabe.

Läge eine Chance darin, Machtstrukturen transparent und die Kirche zu einem Lernort für den Umgang mit Macht zu machen?

Höfer: Auf struktureller Ebene ist Transparenz immer ein guter erster Schritt. Wenn Kirche ihre derzeitigen Machtstrukturen transparent darstellt, werden darin auch die bestehenden destruktiven Machthierarchien deutlich werden. Das bedeutet nicht, dass es in Institutionen nicht immer auch funktionale Hierarchien braucht. In einem zweiten Schritt braucht es Haltungen und Handlungen. Wichtig ist dabei auch, einen sensiblen Blick zu entwickeln, wer in der Kirche Macht bekommt und wer nicht. Wenn wir dann Macht diverser verteilen, bedeutet das immer auch, dass es zu mehr Konflikten kommt, weil es eine diversere Gruppe Entscheidungen trifft. Hier braucht es eine gute Diskussions- und Konfliktkultur. Transparenz allein reicht aus meiner Sicht also nicht. Wir brauchen weitere Skills, um Diversität auch auf der allen Ebenen in Kirche Wirklichkeit werden zu lassen.

Viele Menschen nehmen Kirche in letzter Zeit vor allem im Zusammenhang mit sexualisierter Gewalt, also eklatantem Machtmissbrauch wahr. Was müsste passieren, um verlorenes Vertrauen zurückzugewinnen?

Höfer: Jetzt schwenken wir um zu einem anderen wichtigen Themenbereich, dem Machtmissbrauch mit Bezug auf sexualisierte Gewalt. Mein erster Blick richtet sich auf die individuelle Ebene der Betroffenen. Ich bin mir nicht sicher, ob sich jeder Vertrauensverlust wieder gutmachen lässt. Da sind Verletzungen geschehen, die sich nicht einfach wieder heilen lassen. Das berichten einige Betroffene. Andere Betroffene haben den Kontakt zu Kirche weiterhin gehalten. Die Vertrauensfrage wird von Betroffenen also unterschiedlich beantwortet. Dessen muss sich Kirche bewusst sein. Die Betroffenen und ihre Bedürfnisse müssen immer im Zentrum stehen. Die Vertrauensfrage wird darüber hinaus auch auf einer institutionellen Ebene gestellt: Kann der Institution Kirche vertraut werden? Ich würde infrage stellen, ob es angemessen ist, angesichts der Ergebnisse der ForuM-Studie zu diesem Zeitpunkt über Rehabilitation nachzudenken. Der Fokus muss auf der Aufarbeitung all dessen liegen, was etwa die ForuM-Studie an den Tag gebracht hat. Kirche muss sich so transformieren, dass es den Täter*innen in Kirche möglichst schwer gemacht wird und dass klare, transparente Verfahren im Falle eines Übergriffs etabliert werden. Wenn die Aufarbeitung und Transformation überzeugend gelingt, entsteht die Rehabilitation von ganz alleine.

Trotzdem noch einmal konkret gefragt: Wie könnte ein Weg aussehen, sich aus diesen diffusen Machtstrukturen, den Rollenverschiebungen zwischen Seelsorger und Autoritätsperson zu lösen?

Höfer: An dieser Stelle muss ich doch noch betonen, dass ich keine explizite Fachperson im Bereich sexualisierter Gewalt bin, wenngleich ich mich natürlich mit dem Thema intensiv auseinandergesetzt habe. Klarheit ist aus meiner Sicht ein wichtiger Faktor. Es braucht eine klare machtkritische Haltung. Amtspersonen müssen besonders für diese Sensibilität von Machtmissbrauch der eigenen Rolle geschult werden. Das allein wird sexualisierte Übergriffe nicht verhindern. Darum braucht es auch klare Verfahren und Konsequenzen bei Fällen sexualisierter Gewalt, die allen Personen in Kirche bekannt sind. Damit sage ich Ihnen wohl nichts neues. An dieser Stelle gibt es aus meiner Sicht eine Gemeinsamkeit zur Antidiskriminierungsarbeit: Machtsensibilität bedeutet Klarheit in der eigenen Haltung und den daraus folgenden Verfahren.

Kirche ist Akteurin und Kritikerin von Macht zugleich. Wie kann es ihr gelingen, den eigenen Umgang mit Macht zu reflektieren und doch handlungsfähig zu bleiben?

Höfer: Ich sage es mal so, Kirche bleibt in der Zukunft in unserer Gesellschaft nur dann handlungsfähig gemäß ihren christlichen Überzeugungen, wenn sie sich selbst als Kirche und Gesellschaft machtkritisch reflektiert. In jeder Organisation, in jeder Gruppe braucht es Menschen, die Verantwortung übernehmen. Damit geht Macht einher und die Notwendigkeit ihrer permanenten Reflexion und eines lernenden Umgangs mit ihr. Ich halte es an dieser Stelle für entscheidend, zwischen Person, Amt und Struktur sowie den unterschiedlichen Ebenen von Gemeinde und lokalen Gruppen bis hin zur obersten Leitungsebene zu entscheiden. Personen in einem Amt tragen eine andere Verantwortung im Umgang mit Macht, weil sie Entscheidungen mit weitreichenden Konsequenzen für viele treffen. Grundsätzlicher sind ein erster Einstieg Fragen, wie diese: Welche Perspektive habe ich und wo brauche ich als Entscheidungsträger*in noch andere Expertise? Wie kommen meine Entscheidungen zustande, wen habe ich einbezogen und – noch viel wichtiger – wen nicht?

Zwischen Kirche und Staat bestehen ja enge Beziehungen. Auch dabei geht es um Machtfragen. Wie sollte sich Kirche gegenüber der Politik positionieren?

Höfer: Kirche ist nicht Politik, aber Kirche ist nach meinem Verständnis immer politisch. Die Frage ist natürlich, wozu äußert sie sich? Sich auf Basis des christlichen Glaubens einzumischen, bringt einen gesellschaftlichen Mehrwert. Aus meiner Sicht könnte sich die Kirche manchmal noch stärker positionieren. Zum Beispiel im Umgang mit rechten Tendenzen. Ich nehme einen starken Fokus auf den Umgang mit AfD Wähler*innen und moderaten rechtskonservativen Positionen wahr. Ein Ziel ist es, den Kontakt nicht vollständig abzubrechen bei einer klaren Haltung. Gleichzeitig sind vulnerable Gruppen, die von rechten Tendenzen in ihrer eigenen Existenz angegriffen werden, in den Überlegungen jenseits der Haltungsfrage wenig im Blick. Wo gibt es für sie in Kirche Schutzräume und Beistand? Wie oft werden ihre Perspektiven wirklich berücksichtigt, wenn es um Fragen des Umgangs mit dem vulnerable Gruppen insbesondere gefährdende rechtsradikale, fundamentalistische, antiliberalen, rassistischen und antifeministischen Einstellungen. Da sehe ich in politischen Aussagen von Kirche ein Ungleichgewicht und würde mir einen stärkeren Einbezug der Stimmen marginalisierter Gruppen wünschen, weil das dem entspricht, was ich in der Bibel und den befreiungstheologischen Schriften lese.

Wenn Sie der Synode eine Empfehlung geben möchten: Was sollte die Kirche in Bezug auf das Thema Macht unbedingt bedenken?

Höfer: Die Zukunft der Kirche ist nur als machtkritische, diskriminierungssensible und diversitätsliebende Kirche zu verstehen.

Interview: Jörg Echtler