Syrien: Gesichter von Angst und Hoffnung

„Steck dein Handy weg“, rief der Taxifahrer. „Mach keine Fotos von ihnen. Sie bringen uns um.“ In diesem Moment wurde mir klar, dass ich in Gefahr war. Angst lähmte mich. Er sagte mir: „Das sind Milizen.“ Es war der 29. April 2025 in Jaramana, einem Vorort von Damaskus, wo eine bunte Mischung von Syrern lebt. Die größte Gruppe dort sind die Drusen. Am Tag zuvor hatte es eine Schießerei zwischen Anwohnern und einigen Männern von außerhalb gegeben, die angeblich zu den Milizen gehörten.
Ich bin in Syrien aufgewachsen. 2014 bin ich mit meiner Familie nach Deutschland gekommen. Jetzt wollte ich zurück. Sehen, was aus meinem Land geworden ist. Als Journalistin. Und als Syrerin.
Viele Männer aus der Gegend waren bewaffnet. Sie versuchten, sich zu organisieren. An einem Kontrollpunkt, der von Anwohnern bewacht wurde, nannte ich den Namen der Person, die ich kurz zuvor im Kloster Deir Ibrahim al-Khalil getroffen hatte. Man ließ mich passieren. Doch nur wenige Meter weiter befand sich ein Sammelpunkt von Milizgruppen, von denen einige mit Maschinengewehren bewaffnet waren. Als ich sie filmen wollte, hielt mich der Taxifahrer zurück. Wir fuhren schnell los. Nach einer Weile sah mich der Fahrer an und sagte: „Sie können jetzt Fotos machen.“
Zwischen Glück und Furcht
Als ich ins Taxi stieg, das mich aus Jaramana rausbringen sollte, wusste ich nicht, wohin ich fahren sollte. Ich wollte einfach weg, der Belagerung entkommen. Der Fahrer fragte mich, wohin er mich bringen sollte. Ich antwortete, ohne weiter darüber nachzudenken: „Zum Busbahnhof.“ Ich fahre an die Küste, wo die Familie meines Freundes lebt. Die Familie erschien mir wie ein sicherer Hafen, genau das, was ich in diesem Moment brauchte.
Wäre ich nicht so verwirrt gewesen, hätte ich mich anders entschieden, denn dort an der Küste hatte es kurz zuvor, am 7. März, ein Massaker gegeben: Milizen, die früher der neuen syrischen Regierung nahestanden, hatten in Latakia gezielt Angehörige der alawitischen Minderheit getötet.
Ich hatte die Familie meines Freundes seit über elf Jahren nicht gesehen. Ich rief sie an und sagte ihnen, dass ich bald ankommen würde. Und fragte mich gleichzeitig, ob meine Entscheidung richtig war? Denn auch ich würde dort in Gefahr sein. Angriffe passieren immer noch – auch wenn es heißt, es handele sich um Einzelfälle. Mit der Familie meines Freundes würde ich stärker sein.
Die Kinder erwarteten mich. Die Jüngste ist in der achten Klasse, und ich hatte sie noch nie zuvor getroffen. Ich war überglücklich, sie zu sehen. Und ich freute mich riesig über den Blumenstrauß, mit dem sie mich begrüßten. Wir unterhielten uns, als würden wir uns schon lange kennen. Ich war voller Glück und vergaß meine Ängste.
Angst vor der Dunkelheit
Am nächsten Tag lud ich die Kinder zum Eis in ein Café ein. Es war fast 17 Uhr. Sie sahen mich überrascht an. „Das können wir nicht machen“, sagte der sechzehnjährige Rami . „Wir haben Angst, nach Sonnenuntergang auszugehen. Abends gehen wir nie raus.“ Ich lachte und sagte: „Keine Sorge, wir können ein Eis essen und dann schnell zurückkommen. Es dauert nicht lange.“
Trotz der Sorge der Mütter gingen wir also alle aus. Es wurde viel gelacht und gescherzt, sie waren glücklich machten Fotos am Strand. Die Augen strahlten. Auf dem Rückweg war ich überrascht, dass die Beleuchtung erloschen war. In der Gegend, in der unser Haus lag, war alles dunkel. Die Atmosphäre war ruhig, aber es war die eine Ruhe, die mir Angst machte. Als wäre die Gegend nur von Geistern bewohnt, in Dunkelheit gehüllt – und ich hasse schwarze Dunkelheit.
Am nächsten Tag beschloss ich, der Angst ins Gesicht zu sehen und einen der Orte zu besuchen, wo das Massaker stattgefunden hatte. Er lag nur eine halbe Stunde von meinem Wohnort entfernt, hieß Al-Sanobar und gehört zur Stadt Dschabla. Ich wollte die Menschen kennenlernen, ihnen mein Beileid aussprechen und ihnen zuhören. Ihre Zeugenaussagen mit denen teilen, die sie noch nie zuvor gehört hatten. Ich wollte nicht auf die europäischen Ausschüsse oder die von der neuen Regierung eingesetzten Untersuchungskommission warten, ich war hier, vor Ort.
Das Dorf der Trauer
Am Dorfeingang spürte man die Last des Todes, der den Ort heimgesucht hatte. Das Massaker begann am 7. März. Die Bewohner erzählten mir, dass hier an zwei Tagen 377 Menschen getötet wurden. Ganze Familien wurden getötet. Einige wurden in einem Massengrab begraben, andere in den Gärten ihrer Häuser. Ich fragte einen Passanten nach dem Dorfvorsteher. „Er wurde mit seinen Kindern getötet“, war die Antwort. Aber der Mann wollte nicht weiter reden und ging langsam weg.
„Das Haus, das einst voller Leben und Lachen war, ist zu einem Friedhof geworden.“
Auf dem Dorfplatz traf ich eine kleine Gruppe junger Mädchen, schwarz gekleidet. Ich fragte sie, was passiert sei. Sie antworteten: „Sie haben unsere Verwandten getötet.“ Eine von ihnen sagte mir: „Sie können mit einer Frau sprechen, deren Haus am Ende dieser Straße liegt. Sie wird Ihnen erzählen, was passiert ist.“
Die große Tragödie einer Mutter
Ich fand sie, eine Frau in den Vierzigern, unter einem riesigen Baum, ihre Augen vom Weinen geschwollen. Ihr Name ist Umm Nour (*Name von der Redaktion geändert), übersetzt heißt das: Mutter von Nour. Sie rief: „Wo bist du, Nour!“ Sie rief ihren Sohn, der getötet wurde. Ich erstarrte. Hatte sie nach dem Geschehenen den Verstand verloren?
Frauen kamen, um sie zu trösten. Alle trauerten, doch Umm Nours große Tragödie wartete noch darauf, erzählt zu werden. Ich setze mich zu ihnen. Sie fragten mich, wer ich sei und warum ich hier sei, zumal auf den Straßen immer noch Gefahr lauerte. Die Angst war in ihren Gesichtern und ihren Worten deutlich zu erkennen. Meine Angst wuchs angesichts des Ausmaßes dessen, was ich gesehen hatte. Sie wurde noch größer, als ich darüber nachdachte, was als Nächstes passieren würde und was Syrien erwartet, solange es diese Milizen gibt, die gnadenlos töten.
Sie haben Nours Mutter, drei Brüder, ihren Mann und zwei ihrer Söhne getötet. Der erste studierte im zweiten Jahr Jura, der zweite war dabei, sein Abitur zu machen.
„Es gab heftiges Gewehrfeuer. Wir wussten nicht, woher das Geräusch kam oder wer auf uns schoss. Bewaffnete Gruppen drangen ein. Wir hatten unsere Autoschlüssel und Handys bereitgelegt. Wir dachten, ihr Ziel sei es, zu stehlen. In manchen Dörfern passiert das. Wir hatten nicht damit gerechnet, dass sie auch Leben stehlen würden. Ich flehte sie an: Nehmt, was ihr wollt, aber lasst meine Kinder und meinen Mann hier, lasst meine Brüder hier.‘“
Das Haus, dass zum Grab wurde
Sie hielt einen Moment inne, blickte auf die Straße in der Nähe ihres Hauses, und sagte dann: „Mein geliebter Sohn wurde dort getötet. Wissen Sie, was das Schlimmste war? Als die Nachbarn mir erzählten, dass der erste Tote mein Sohn Nader war. Es ist grausam, dass sie alle durch die Hand von Syrern starben.“ Ich fragte sie: „Woher wusstest du, dass er Syrer war? War er nicht maskiert?“ Sie antwortete: „Ja, aber als ich versuchte, seinen Fuß zu küssen, damit er mir meine Kinder nicht wegnahm, sagte einer von ihnen zu mir: „Geh weg, fass mich nicht an, du beschmutzt mich…“
„Niemand in meiner Familie trug eine Waffe, und niemand hatte irgendeine Verbindung zum Militär oder einer Kaserne“, fuhr sie fort. „Nour, Muhannad, Nader, Imad, Saeed, Basem … aber sie alle wurden mit vorgehaltener Waffe verhaftet. Ich durfte nicht einmal mehr ihre Gesichter sehen oder sie begraben. Drei Tage lang blieben sie auf der Straße vor meinem Haus liegen, und wir durften nicht zu ihnen. Draußen wurde ständig geschossen.“
Sie zeigte auf die Stelle im Garten, wo ihre Kinder, ihr Mann und ihre Brüder schließlich begraben wurden. „Das Haus, das einst voller Leben und Lachen war, ist zu einem Friedhof geworden.“
Ein Land für alle?
Ein paar Tage später kehrte ich nach Damaskus zurück. Dort pulsierte das Leben. Ich traf Freunde, die voller Hoffnung auf die Zukunft waren. Sie sagten: „Veränderung braucht Zeit, aber wir können zusammen daran arbeiten, dass der Neuanfang gelingt.“ Sie nahmen mich mit in Konzerte und Ausstellungen, organisierten Diskussionen.
Ich frage mich: Wird die neue Regierung alles dafür tun, dass Syrien ein Land für alle seine Bewohner wird, egal zu welcher ethnischen oder religiösen Gruppe sie gehören? Mit diesen vielen Gesichtern Syriens bin ich nach Berlin zurückgekommen, aber die Stimme, die immer wieder rief: „Wo bist Du, Nour“, verlässt mich nicht.
Amloud Alamir (Amal Berlin!)