Diskussion im Damaskus-Format in der syrischen Hauptstadt

Syrien will reden

Nach dem Fall des Assad-Regimes gibt es eine neue Diskussionskultur

Auch wenn der Neuanfang in Syrien in vielem noch auf sich warten lässt –immerhin kann man endlich sagen, was man will. Es gibt Redefreiheit. Das trifft sich gut, denn es gibt auch viel zu besprechen. Es wird überall diskutiert in Damaskus, und man hört einander sogar zu – zumindest meistens.

Die eiserne Pforte ächzt beim Öffnen und der Garten mit seinen alten Bäumen wirkt verschlafen, als wäre er erst vor kurzen wachgerüttelt worden. Fußspuren im Kies und Gemurmel aus dem Inneren des Gebäudes deuten darauf hin, dass wir hier richtig sind. Eine Frau, Mitte fünfzig, kommt auf uns zu, lächelt und begrüßt uns herzlich: „Ah, Besuch aus Berlin! Davon haben wir im Moment viel und wir freuen uns!“, sagt sie. Sahar al Hayek ist die Leiterin des „Interaktiven Centers“ – einer kleinen, lokalen Organisation im Stadtteil Sachnaya von Damaskus. „Wir kümmern uns hier um die Frauen im Viertel. In vielen Familien wurden ja in den letzten Jahren Mitglieder verhaftet oder sind verschwunden. Wir haben ihnen geholfen, über die Runden zu kommen.“

Nebenbei habe sie mit einigen anderen in diesem Garten einen informellen Filmclub betrieben, berichtet al Hayek.  „Wir haben uns nur manchmal getroffen. Oft war es zu gefährlich.“ Mit dem Sturz des Regimes von Baschar Al-Assad hat sich alles geändert: „Jetzt können wir Veranstaltungen machen, wir können sagen, was wir wollen und endlich mit allen zusammen diskutieren“, sagt al Hayek. Sie bergüßt eine weitere Gruppe von Gästen. Wieder sind unter den Ankommenden einige, die vor dem Terror des Regimes nach Europa geflohen und andere, die trotz allem in Syrien geblieben sind.

Natürlich ist die Beziehung zwischen den beiden Gruppen nicht ohne Konflikt: Allzu lange haben die Menschen im Exil den in Syrien Verbliebenen vorgeworfen, sich mit dem Regime zu arrangieren und zu viele Kompromisse zu machen. Nun wiederum werfen die Dagebliebenen den Rückkehrern aus dem Exil – manche kommen als Besucher, andere, um beim Wiederaufbau des zerstörten Landes zu helfen – vor, dass sie es sich zu einfach gemacht haben. Nach dem Motto: Jahrelang haben sie gemütlich in Deutschland oder Frankreich gelebt und jetzt kommen sie zurück und wissen alles besser. Die Differenzen zwischen Exil und Syrien ist nur eine von vielen Konfliktlinien, die Syrien derzeit zerreißt.

Viele Konfliktlinien

Immer wieder kam es in den Monaten seit dem Sturz des Assad-Regimes im Dezember 2024 zu Gewaltausbrüchen. Allzu oft stehen sich dabei verschiedene konfessionelle und gesellschaftliche Gruppen gegenüber. Auch wenn viele Syrer:innen davon überzeugt sind, dass es eigentlich nicht um religiöse oder ethnische Differenzen geht, dass die Einteilung in diese Gruppen und das Schüren des Hasses zwischen ihnen ein Werk des gestürzten Regimes war, das nach dem Prinzip „teile und herrsche“ die eigene Macht sicherte, knallt es immer wieder: Erst kürzlich eskalierte es zwischen Angehörigen der drusischen Minderheit und sunnitischen Milizen, die mit der Regierung assoziiert werden. Zuvor kam es Ende März zu einem blutigen Massaker, das ebensolche Milizen an der alawitischen Minderheit in der Küstenregion begingen. Mehr als 1000 Menschen wurden ermordet und noch laufen die Ermittlungen, wie es zu der Gewalt kommen konnte.

„Uns allen ist klar, dass wir in einer sehr heiklen Situation sind“, sagt Jalal Nofal. Der Psychologe ist Redner bei einer Diskussionsveranstaltung im Interaktiven Zentrum stattfindet. „Wir beobachten, dass es oft Hassrede und falsche Informationen sind, die zu solchen Gewaltausbrüchen führen. Wir wollen uns heute deswegen genauer damit beschäftigen und auch diskutieren, was wir tun können, um uns und unser Land zu schützen“, sagt er und stellt die verschiedenen Formen von Hassrede vor.

Das Publikum hört gespannt zu. Rund 150 Menschen sind zusammengekommen und sitzen dicht an dicht auf den alten Stühlen. „Es ist etwas ganz Besonderes für uns, dass wir hier so zusammensitzen können“, flüstert eine Frau mit hennaroten Locken: „Als Assad gestürzt wurde, haben wir uns gefreut. Wir hatten aber anfangs auch Angst und Bedenken. Es hat eine Weile gebraucht, bis wir uns getraut haben, wirklich offen zu reden. Jetzt tun wir es. Es tut so gut!“, sagt sie. Da es so neu und besonders ist und es in der Hauptstadt derzeit fast jeden Tag eine öffentliche Diskussion gibt, hat sich eine eigene Form herausgebildet. Man kann von einem „Damaskus-Format“ sprechen.

Jeder soll gehört werden

Es beginnt mit einem Input. Oft sitzen dort Referent:innen aus dem Exil neben Daheimgebliebenen und führen in das Thema ein. Anschließend wird diskutiert – sehr lange diskutiert. „Es geht uns darum, dass alle zu Wort kommen, und wir wollen alle hören“, sagt Jalal Nofal und öffnet die Veranstaltung für Fragen und Bemerkungen aus dem Publikum. „Wir fangen mit Wortmeldungen hier vorne in der ersten Reihe an und gehen erst nach Hause, wenn alle, die wollen gesprochen haben“, sagt er und reicht das Mikrophon einem älteren Herrn mit Schirmmütze.

„Unsere neue Freiheit braucht Sicherheit“, sagt der. „Diese Sicherheit kann es nur geben, wenn wir Gerechtigkeit haben. Solange die Verbrecher des alten Regimes frei herumlaufen, wird es zu Selbstjustiz kommen. Die Regierung muss endlich handeln. Sie muss für Sicherheit und für Gerechtigkeit sorgen. Sonst kann der Neuanfang nicht gelingen.“ Einige klatschen Beifall. Die nächste Rednerin zitiert Beispiele aus verschiedenen europäischen Ländern, die Hassrede gesetzlich verfolgen: „Solche Gesetze sind nicht die alleinige Lösung, aber sie sind ein wichtiger Schritt. Im Neuen Syrien sollten wir von den Erfahrungen anderer Länder lernen“, sagt sie.

Ein Mann um die vierzig erzählt von seiner Cousine, deren Mann und Sohn bei dem Angriff der Milizen in der Küstenregion im März getötet wurden: „Einfach so, weil sie Alawiten sind“, sagt er. „Es ist wichtig, dass die Verbrechen der Vergangenheit und die Vertreter des alten Regimes bestraft werden. Es ist aber auch wichtig, dass neue Verbrechen verfolgt werden.“ Zwar hätten die Alawiten unter dem Regime von Baschar al Assad viele Privilegien gehabt, aber längst nicht alle hätten das Regime unterstützt. Vor allem sei die Gewalt gegen sie damit auch nicht zu rechtfertigen. Wieder gibt es Beifall, allerdings nicht von allen. Die Diskussion geht in die nächste Runde und erst nach Stunden werden die Besucher unruhig. Manche von ihnen haben einen weiten Weg vor sich. Angesichts der Sicherheitslage wollen sie lieber nicht zu spät noch unterwegs sein.

Minibus als Kommunikations-Plattform

Redebedarf gibt es nicht nur in intellektuellen Kreisen, die sich die Zeit für Diskussionsveranstaltungen nehmen. Besonders der öffentliche Nahverkehr in Damaskus ist Ort der Begegnung und des Austausches: Kaum fällt die Tür des Minibusses ins Schloss und der Fahrer tritt aufs Gas, folgt auf das freundliche Hallo die unvermeidliche Frage: „Wo kommst Du her?“ Dabei geht es nicht so sehr darum, wo das Gegenüber derzeit wohnt. Eigentlich ist es die gesellschaftlich akzeptierte Art, nach der Religions- beziehungsweise Konfessionszugehörigkeit zu fragen.

In einem Taxi auf der Fahrt durch Damaskus
Nicht nur auf Diskussionsveranstaltungen, auch im Taxi wird geredet.

„Ich komme aus Daraa“, sagt der Fahrer des Minibusses. Wir konnten die beiden begehrten Plätze neben ihm in der Fahrerkabine ergattern und brausen nun mit ihm durch den Verkehr von Damaskus. Daraa ist eine Stadt, in der es auch Christen gibt, aber die meisten Menschen dort sind Sunniten. Also führt seine Aussage dazu, dass wir ihn für einen Sunniten halten. Diese Konfessionsgruppe stellt die Mehrheit der Bevölkerung in Syrien. Zugleich waren es unter Baschar al Assad vor allem die Sunniten, die Verfolgung und Repression zu spüren bekamen.

Viele Sunniten schlossen sich dem Aufstand gegen das Regime an, das machte sie umso mehr zur Zielscheibe der Verfolgung. Mehrheitlich sunnitische Städte wie Daraa und Homs wurden im Krieg stark zerstört. Nicht alle, aber viele derer, die verfolgt, eingesperrt und verschleppt wurden, sind Sunniten. Andererseits waren es aber auch überwiegend Sunniten, die sich den radikal islamistischen Terrorgruppen des IS und anderen anschlossen. Mit dem Sturz von Assad hat sich das Blatt gewendet: Mit den neuen Machthabern um Ahmad al Scharaa geben nun Sunniten den Ton an.

Sich endlich aussprechen

Wir schauen den Fahrer von der Seite an und erwarten, dass er uns seine Geschichte erzählt. In den letzten Tagen haben wir viele solcher Berichte von sunnitischen Fahrern und Fahrgästen gehört. Sie handelten von Verhaftung, der Verschleppung von Verwandten und Zerstörung von Stadtvierteln. Es sind viele einzelne Schicksale, geprägt von Leid, Unrecht und Not.

Die meisten haben diese schrecklichen Erlebnisse bislang für sich behalten. Nun ist das Regime weg und – wenn auch viele Errungenschaften der neuen Zeit noch auf sich warten lassen – immerhin, die Redefreiheit ist da und so wird geredet. Ein Taxifahrer berichtet, wie er als 15-jähriger den Beschuss seines Stadtviertels Yarmuk erlebt hat, als dort die Regierungstruppen gegen die Freie Armee und rivalisierende islamistische Kämpfer vorgingen. Er erzählt, wie seine Familie in letzter Minute mit ein paar Habseligkeiten das Viertel verließ. Regierungstruppen riegelten Yarmuk schließlich vollständig ab und Scharfschützen sorgten dafür, dass niemand mehr hinaus und kaum Versorgungsgüter hineinkamen.

Aus Yarmuk stammen die Bilder von langen Schlangen ausgehungerter Menschen, die sich an den Ausgabestellen von Hilfsgütern versammeln. Yarmuk ist heute ein großer Trümmerhaufen. Erst langsam kehren die Menschen zurück: „Als das Regime noch da war, hatten wir Angst, aber jetzt waren wir dort, haben unser Haus wiedergefunden und begonnen, es wieder aufzubauen“, erzählt er und lächelt: „Es ist noch unendlich viel Arbeit, aber endlich bin ich wieder zu Hause und glücklich“.

Redefluss und Redehemmniss

Manche Geschichten, die wir im Taxi oder Minibus hören, nehmen eine erstaunliche Wendung. So auch diese. Der Fahrer spürt unseren neugierigen Blick, seufzt und schaut noch einmal schnell zu uns herüber: Kann er uns wohl trauen? Dann bricht es aus ihm heraus. Er erzählt, dass er und seine Familie zwar aus Daraa kommen, aber eben doch keine Sunniten sind, sondern zur schiitischen Minderheit gehören. Kein Wunder, dass er vorsichtig ist, das allzu laut zu sagen, denn die Schiiten galten als treueste Unterstützer des Assad-Regimes.

„Ich war nie für den Diktator, aber das konnten wir ja unter dem alten Regime nicht immer klar formulieren“, sagt er. Viele hätten sie für Kollaborateure gehalten – „einfach, weil wir Schiiten sind“. Vor ungefähr 5 Jahren wurde es ihm zu gefährlich. Er zog mit seiner Familie in den Schutz und die Anonymität der Großstadt. Hier kommt er gut durch, solange er nicht zu viele Fragen nach seiner Konfession beantworten muss. „Ich habe noch immer Angst, aber es gibt Hoffnung, dass es besser wird und dass Syrien wieder zusammenwächst,“ sagt er.

Irgendwann, so die Hoffnung, ist in den vielen Diskussionen an Orten wie dem interaktiven Club, in Familien oder im Minibus auch Raum für die verschlungeneren Leidensgeschichten der Menschen in Syrien. Wer ist Opfer, wer Täter? Was ist Gerechtigkeit? Antworten auf diese Fragen können nur gefunden werden, wenn die Menschen nach den Jahrzehnten des Schweigens endlich reden können und voneinander erfahren, was die Diktatur ihnen angetan hat. Wie gesagt: Es gibt Redebedarf.

Julia Gerlach (Amal Berlin!)