Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit

Wort des Rates der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland, 1997

Hinführung

  1. Das vom Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland und von der Deutschen Bischofskonferenz vorgelegte Wort der Kirchen trägt den Titel: "Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit". Es bezieht sich auf die aktuelle Diskussion über Maßstäbe der Wirtschafts- und Sozialpolitik. In ihr sind zwei Begriffe in den Vordergrund getreten: Zukunftsfähigkeit und Nachhaltigkeit. Es genügt nicht, das Handeln an den Bedürfnissen von heute oder einer einzigen Legislaturperiode auszurichten, auch nicht allein an den Bedürfnissen der gegenwärtigen Generation. Zu kurzfristigem Krisenmanagement gibt es manchmal keine Alternative. Aber das individuelle und das politische Handeln dürfen sich darin nicht erschöpfen. Wer notwendige Reformen aufschiebt oder versäumt, steuert über kurz oder lang in eine existenzbedrohende Krise.
  2. Die Kirchen treten dafür ein, daß Solidarität und Gerechtigkeit als entscheidende Maßstäbe einer zukunftsfähigen und nachhaltigen Wirtschafts- und Sozialpolitik allgemeine Geltung erhalten. Sie sehen es als ihre Aufgabe an, in der gegenwärtigen Situation auf Perspektiven des christlichen Glaubens für ein humanes Gemeinwesen, auf das christliche Verständnis vom Menschen und auf unveräußerliche Grundwerte hinzuweisen. Solidarität und Gerechtigkeit sind notwendiger denn je. Tiefe Risse gehen durch unser Land: vor allem der von der Massenarbeitslosigkeit hervorgerufene Riß, aber auch der wachsende Riß zwischen Wohlstand und Armut oder der noch längst nicht geschlossene Riß zwischen Ost und West. Doch Solidarität und Gerechtigkeit genießen heute keine unangefochtene Wertschätzung. Dem Egoismus auf der individuellen Ebene entspricht die Neigung der gesellschaftlichen Gruppen, ihr partikulares Interesse dem Gemeinwohl rigoros vorzuordnen. Manche würden der regulativen Idee der Gerechtigkeit gern den Abschied geben. Sie glauben fälschlich, ein Ausgleich der Interessen stelle sich in der freien Marktwirtschaft von selbst ein. Für die Kirchen und Christen stellt dieser Befund eine große Herausforderung dar. Denn Solidarität und Gerechtigkeit gehören zum Herzstück jeder biblischen und christlichen Ethik.
  3. Diese Hinführung faßt die Hauptgedanken des Wortes zusammen. Sie tut das nicht in der Form einer Inhaltsangabe der einzelnen Kapitel, sondern durch eine systematische, in 10 Thesen entfaltete Darstellung:

1. Die Kirchen wollen nicht selbst Politik machen, sie wollen Politik möglich machen.

  1. Das Wort der Kirchen ist kein alternatives Sachverständigengutachten und kein weiterer Jahreswirtschaftsbericht. Die Kirchen sind nicht politische Partei. Sie streben keine politische Macht an, um ein bestimmtes Programm zu verwirklichen. Ihren Auftrag und ihre Kompetenz sehen sie auf dem Gebiet der Wirtschafts- und Sozialpolitik vor allem darin, für eine Wertorientierung einzutreten, die dem Wohlergehen aller dient. Sie betrachten es als ihre besondere Verpflichtung, dem Anliegen jener Gehör zu verschaffen, die im wirtschaftlichen und politischen Kalkül leicht vergessen werden, weil sie sich selbst nicht wirksam artikulieren können: der Armen, Benachteiligten und Machtlosen, auch der kommenden Generationen und der stummen Kreatur. Sie wollen auf diese Weise die Voraussetzungen für eine Politik schaffen, die sich an den Maßstäben der Solidarität und Gerechtigkeit orientiert.
  2. Der Konsultationsprozeß ist dafür ein vorzügliches Beispiel. In ihm vollzog sich ein intensiver Prozeß der Bewußtseinsbildung und des gemeinsamen Lernens. Das hat mit politischem Handeln viel mehr zu tun, als auf den ersten Blick erkennbar ist. Handlungsfähigkeit und Handlungsbereitschaft der Politik werden in der Demokratie entscheidend durch Einstellungen und Verhaltensweisen aller Bürgerinnen und Bürger bestimmt. Der kirchliche Beitrag, wie etwa im Konsultationsprozeß, ist um so erfolgreicher, je mehr es ihm gelingt, Einstellungen und Verhaltensweisen zu verändern und dadurch die politischen Handlungsspielräume zu erweitern, und umgekehrt um so erfolgloser, je weniger er in dieser Hinsicht auslöst und bewirkt. In einer Demokratie sind die Handlungsspielräume der Politik abhängig von den Einstellungen und Verhaltensweisen der Wählerinnen und Wähler. Aus der Verantwortung aber, die vorhandenen und die neu geschaffenen Handlungsspielräume mutig zu nutzen, kann die Politik nicht entlassen werden.

2. Die Qualität der sozialen Sicherung und das Leistungsvermögen der Volkswirtschaft bedingen einander.

  1. Die Diskussionsgrundlage, mit der die Kirchen im November 1994 den Konsultationsprozeß angestoßen haben, wurde häufig als "Sozialpapier" bezeichnet. Das ist eine Verkürzung, die weder der Intention der Kirchen noch der gestellten Aufgabe gerecht wird. Um beides soll es gehen: um die soziale und die wirtschaftliche Lage. Denn die Qualität und finanzielle Stabilität der sozialen Sicherung und das Leistungsvermögen der Volkswirtschaft bedingen einander. Verteilt werden kann nur das, was in einem bestimmten Zeitraum an Gütern und Dienstleistungen erbracht worden ist. Wird dieser Sachverhalt ignoriert und das gesamtwirtschaftliche Leistungsvermögen dauerhaft durch einen überproportionalen Anstieg der vom Staat vorgenommenen Umverteilung überfordert, dann werden die finanziellen Fundamente der sozialen Sicherung unterspült.
  2. Der dynamische Charakter des marktwirtschaftlichen Systems, der dem Westen Deutschlands vor allem in den 50er und 60er Jahren zugute gekommen ist, wirkt sich gegenwärtig zugunsten anderer Anbieter in der globalisierten Wirtschaft aus. Daraus entsteht ein Anpassungsdruck auf die deutsche Volkswirtschaft, der sich auch im Abbau von Arbeitsplätzen niederschlägt. Die Schaffung neuer Arbeitsplätze hält damit nicht Schritt. Die mit dieser Entwicklung verbundenen Gefahren dürfen nicht verniedlicht und kleingeredet werden. Es besteht dringlicher Handlungsbedarf.
  3. Die wirtschaftliche und soziale Situation in Deutschland darf aber auch nicht schlechtgeredet werden. Die anhaltenden Exportüberschüsse belegen die nach wie vor hohe Leistungsfähigkeit großer Teile der deutschen Volkswirtschaft. Die Lohnstückkosten sind ein wesentlicher, freilich nicht der alleinige ökonomische Faktor. Tarifpartnerschaft und soziale Sicherung haben zu einem sozialen Frieden geführt, der sich als bedeutsamer Standortvorteil erwiesen hat.

3. Die Soziale Marktwirtschaft braucht eine strukturelle und moralische Erneuerung.

  1. Eine Wirtschafts- und Sozialordnung kommt nicht ohne rahmengebende rechtliche Normierungen und Institutionen aus. Appelle genügen nicht. Dieser Einsicht hat das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft Rechnung getragen. Es wird in der Bundesrepublik Deutschland seit fünf Jahrzehnten erfolgreich praktiziert. Die Freiheit des Marktes und der soziale Ausgleich waren dabei die beiden tragenden Säulen. Die Kirchen sehen im Konzept der Sozialen Marktwirtschaft weiterhin - auch für die andauernde, mit großen Härten verbundene wirtschaftliche Konsolidierung der neuen Bundesländer und für die Vertiefung und Erweiterung der europäischen Einigung - den geeigneten Rahmen für eine zukunftsfähige Wirtschafts- und Sozialpolitik. Das Leistungsvermögen der Volkswirtschaft und die Qualität der sozialen Sicherung sind wie zwei Pfeiler einer Brücke. Die Brücke braucht beide Pfeiler. Heute ist die Gefahr groß, daß die Wettbewerbsfähigkeit auf Kosten der sozialen Sicherung gestärkt werden soll. Nicht nur als Anwalt der Schwachen, auch als Anwalt der Vernunft warnen die Kirchen davor, den Pfeiler der sozialen Sicherung zu untergraben.
  2. Eine wesentliche Bedingung für den Erfolg der Sozialen Marktwirtschaft war ihre beständige Verbesserung. Das setzt Reformfähigkeit voraus. Heute dagegen sind Besitzstandswahrung und Strukturkonservatismus weit verbreitet, und zwar auf allen Seiten. Besitzstandswahrung darf nicht zu einem Kampfbegriff in der Diskussion um den Umbau des Sozialstaats werden. Auch die Verteidigung von Besitzständen an Subventionen und steuerlichen Vorteilen verhindert Reformen.
  3. Grundlegend muß die Erneuerung der wirtschaftlichen Ordnung auf ihre Weiterentwicklung zu einer sozial, ökologisch und global verpflichteten Marktwirtschaft zielen. Wer die natürlichen Grundlagen des Lebens nicht bewahrt, zieht aller wirtschaftlichen Aktivität den Boden unter den Füßen weg. Solidarität und Gerechtigkeit können ihrem Wesen nach nicht auf das eigene Gemeinwesen eingeschränkt, sie müssen weltweit verstanden werden. Darum müssen zur sozialen die ökologische und globale Verpflichtung hinzutreten. Die Erwartung, eine Marktwirtschaft ohne solche Verpflichtungen, eine gewissermaßen adjektivlose, reine Marktwirtschaft könne den Herausforderungen besser gerecht werden, ist ein Irrglaube.
  4. Die Strukturen allein reichen allerdings nicht. Eine sozial, ökologisch und global verpflichtete Marktwirtschaft ist moralisch viel anspruchsvoller, als im allgemeinen bewußt ist. Die Strukturen müssen, um dauerhaften Bestand zu haben, eingebettet sein in eine sie tragende und stützende Kultur. Der individuelle Eigennutz, ein entscheidendes Strukturelement der Marktwirtschaft, kann verkommen zum zerstörerischen Egoismus. Die offenkundigste Folge sind Bestechung, Steuerhinterziehung oder der Mißbrauch von Subventionen und Sozialleistungen. Es ist eine kulturelle Aufgabe, dem Eigennutz eine gemeinwohlverträgliche Gestalt zu geben.
  5. Die Kirchen haben in der biblischen und christlichen Tradition einen reichen Schatz, der wie in der Vergangenheit so auch in der Zukunft kulturprägend wirksam gemacht werden kann. Sie stehen für eine Kultur des Erbarmens. Die Erfahrung des Erbarmens Gottes, von der Befreiung Israels aus Ägypten an, ist in der Bibel die Grundlage für das Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe. Den Blick für das fremde Leid zu bewahren ist Bedingung aller Kultur. Erbarmen im Sinne der Bibel stellt dabei kein zufälliges, flüchtig-befristetes Gefühl dar. Die Armen sollen mit Verläßlichkeit Erbarmen erfahren. Dieses Erbarmen drängt auf Gerechtigkeit.

4. In der sozialen Sicherung spricht nichts für einen Systemwechsel, Reformen aber sind unerläßlich.

  1. Die verschiedenen Säulen der sozialen Sicherung sind in Deutschland über einen Zeitraum von mehr als hundert Jahren als ein anpassungsfähiges System solidarischer Risikogemeinschaft aufgebaut worden. Dieses System verdient es, in seiner Grundidee und seinen Grundelementen erhalten und verteidigt zu werden. Nach wie vor ist Deutschland eines der reichsten Länder der Erde. Das Bruttosozialprodukt war noch nie so hoch wie zur Zeit. Die derzeit diskutierten Alternativ-Modelle stellen keine zukunftsweisenden Lösungen dar, die langwierige und risikobeladene Umstellungsverfahren rechtfertigen könnten. Die Hinweise auf die Verhältnisse in den USA verkennen die unterschiedliche soziokulturelle Tradition und werfen Fragen der sozialen Gerechtigkeit auf.
  2. Im Rahmen des gegenwärtigen Systems sozialer Sicherung sind allerdings, um die finanzielle Stabilität zu gewährleisten, spürbare Änderungen nötig. Dazu gehören auch strukturelle Änderungen, durch die die einzelnen an Verhaltensweisen zu Lasten der Versichertengemeinschaft gehindert werden. Anspruchsberechtigung und Leistungsverpflichtung müssen spürbarer aneinander gekoppelt werden. Das nötigt auch zu Einschnitten bei den sozialen Leistungen. Sie werden nur im Streit zustande kommen. Dieser Streit hat - neben den nötigen gesetzgeberischen Entscheidungen - vor allem in der Auseinandersetzung der Tarifpartner seinen sinnvollen Ort.
  3. Eine beträchtliche Schwäche des gegenwärtigen Systems sozialer Sicherung liegt in der vorrangigen Bindung an das Erwerbseinkommen. Das hat schwerwiegende Auswirkungen vor allem auf die Situation von Frauen, und es steht der Orientierung an einem umfassenderen Arbeitsverständnis, das nicht auf Erwerbsarbeit fixiert ist, im Wege. Aber auch in dieser Hinsicht sind langsame Schritte der Anpassung erfolgversprechender als der große Wurf einer radikalen Umstellung.
  4. Erhebliche Probleme ergeben sich aus dem Altersaufbau der Bevölkerung. Deutschland gehört zu den Ländern Europas mit der geringsten Geburtenziffer. Unter den jüngeren Generationen hat die Kinderlosigkeit stark zugenommen, die Gesellschaft polarisiert sich in private Lebensformen mit und ohne Kinder und gefährdet damit ihre Zukunftsfähigkeit.
  5. Quantitative und qualitative Veränderungen im Gefüge des Sozialstaats sind sorgfältig zu unterscheiden. Auch in den 60er und 70er Jahren verdienten die Strukturen in der Bundesrepublik Deutschland den Namen Sozialstaat. Es ist nicht ausgemacht, daß unter veränderten Bedingungen alle Errungenschaften der Vergangenheit in ungeschmälerter Höhe festgehalten werden können.

5. Die vordringlichste Aufgabe der Wirtschafts- und Sozialpolitik ist in den nächsten Jahren der Abbau der Massenarbeitslosigkeit.

  1. Die anhaltende Massenarbeitslosigkeit ist ein gefährlicher Sprengstoff: im Leben der betroffenen Menschen und Familien, für die besonders belasteten Regionen, vor allem weite Teile Ostdeutschlands, für den sozialen Frieden. Ohne Überwindung der Massenarbeitslosigkeit gibt es auch keine zuverlässige Konsolidierung des Sozialstaats. Die anhaltend hohe Arbeitslosigkeit führt zu Einnahmeausfällen bei der Sozialversicherung und verursacht hohe Kosten vor allem im Rahmen der Arbeitslosenversicherung und der Sozialhilfe. Insofern ist nicht der Sozialstaat zu teuer, sondern die Arbeitslosigkeit.
  2. Diese Einsicht darf jedoch nicht davon abhalten, die unter den Bedingungen fortdauernder Arbeitslosigkeit möglichen Schritte zu einer Entlastung und Stabilisierung des Systems der sozialen Sicherung zu tun. Dazu gehört die schrittweise Herausnahme versicherungsfremder Leistungen aus der Sozialversicherung. Diese Leistungen können zwar nicht alle wegfallen und müssen über Steuern finanziert werden. Aber es geht bei einer solchen Verschiebung darum, die Lohnnebenkosten spürbar zu senken, alle leistungsfähigen Bürgerinnen und Bürger an den Aufwendungen für die versicherungsfremden Leistungen zu beteiligen und nicht länger einseitig die Arbeitsplätze zu belasten.
  3. Energische und dauerhafte Anstrengungen zum Abbau der Massenarbeitslosigkeit sind in den nächsten Jahren eine vorrangige Gemeinschaftsaufgabe. Sie dienen auch einer gleichberechtigten Teilnahme der Frauen am Erwerbsleben. Bund, Länder und Kommunen, Unternehmen und Gewerkschaften sowie die verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen müssen hier zusammenwirken. Patentrezepte gibt es nicht. Es kommt darauf an, verschiedene Wege zu nutzen. Priorität hat nach wie vor die Schaffung wettbewerbsfähiger Arbeitsplätze. Dem dient es, wenn die Arbeitskosten gesenkt werden. Hier tragen die Tarifpartner eine hohe Verantwortung. Mehr wirtschaftliches Wachstum allein wird aber auf absehbare Zeit nicht eine hinreichende Zahl an Arbeitsplätzen schaffen. Deshalb müssen ergänzende Mittel hinzukommen: vor allem die Teilung von Erwerbsarbeit, wie sie von vielen Frauen, aber auch von Männern zur besseren Vereinbarkeit von Beruf und Familie gewünscht wird, die Umwandlung jedenfalls eines Teils der geleisteten Überstunden in reguläre Voll- und Teilzeitarbeitsplätze und das Instrument der öffentlich geförderten Arbeit, mit dem Arbeit statt Arbeitslosigkeit finanziert werden kann.

6. Der Sozialstaat dient dem sozialen Ausgleich. Darum belastet er die Stärkeren zugunsten der Schwächeren.

  1. Der soziale Ausgleich ist ein integraler Bestandteil des Konzepts der Sozialen Marktwirtschaft. Wer das Prinzip einer begrenzten Korrektur der Einkommensverteilung in Frage stellt, stellt den Sozialstaat in Frage. Nur ein finanziell leistungsfähiger Staat kann als Sozialstaat funktionieren. Er braucht die Mittel, um der Verpflichtung zum sozialen Ausgleich nachkommen zu können. Bei den sinnvollen Schritten zur "Verschlankung" des Staates darf er nicht "ausgehungert" werden und am Ende so sehr "abmagern", daß er seine Aufgabe als Sozialstaat nur noch unzureichend erfüllen kann.
  2. Der zutreffende Grundsatz, daß Leistung sich im wirtschaftlichen Bereich lohnen muß, darf nicht dazu führen, daß die Bezieher hoher Einkommen einseitig von ihren Beiträgen zum sozialen Ausgleich entlastet werden. Leistungsfähigkeit für die solidarische Finanzierung des sozialen Ausgleichs bestimmt sich im übrigen nicht nur nach dem laufenden Einkommen, sondern auch nach dem Vermögen. Wird im Blick auf das Vermögen die Substanz- und Besitzstandswahrung für unantastbar erklärt, dann ist die Sozialpflichtigkeit des Eigentums in einer wichtigen Beziehung drastisch eingeschränkt oder sogar aufgehoben. Mehr und mehr breitet sich das Argument aus, viele Bürgerinnen und Bürger fänden die Abgabenbelastung zu hoch und darum müsse sie gesenkt werden. Oder: Wegen der hohen steuerlichen Belastung breite sich Schwarzarbeit aus, und darum müsse die steuerliche Belastung reduziert werden. Solche Argumente und Stimmungen müssen von der Politik ernst genommen werden, doch dürfen sie nicht vorrangiger Bezugspunkt von Entscheidungen werden. Vielmehr muß das Gemeinwohl Vorrang haben. Es gebietet angesichts der Unerträglichkeit der Massenarbeitslosigkeit, die Möglichkeiten zur Schaffung neuer Arbeitsplätze zu verbessern. In dem Maße, in dem sie dazu beiträgt, ist die Senkung der Steuer- und Abgabenlasten richtig und notwendig.
  3. Nicht nur Armut, auch Reichtum muß ein Thema der politischen Debatte sein. Umverteilung ist gegenwärtig häufig Umverteilung des Mangels, weil der Überfluß auf der anderen Seite geschont wird. Ohnehin tendiert die wirtschaftliche Entwicklung dazu, den Anteil der Kapitaleinkommen gegenüber dem Anteil der Lohneinkommen zu vergrößern. Um so wichtiger wird das von den Kirchen seit langem vertretene Postulat einer breiteren Vermögensstreuung. Dafür wurde eine Reihe von Investivlohnmodellen entwickelt.
  4. Sozialer Ausgleich und soziale Balance sind auch dann gefordert, wenn die Lasten neu verteilt werden. Veränderungen und Anpassungen des Sozialstaats dürfen nicht nur und auch nicht in erster Linie den Geringerverdienenden, den Arbeitslosen und den Sozialhilfeempfängern zugemutet werden. Das Gerechtigkeitsempfinden wird empfindlich gestört, wenn nicht zur gleichen Zeit bei denen Abstriche gemacht werden, die sie ohne Not verkraften können, und entschiedene Anstrengungen zur Bekämpfung von Steuerhinterziehung und Steuerflucht unternommen werden.

7. Der Sozialstaat muß so weiterentwickelt werden, daß die staatlich gewährleistete Versorgung durch mehr Eigenverantwortung und Verantwortung der kleinen sozialen Einheiten gestützt wird. Er bedarf einer ihn tragenden und ergänzenden Sozialkultur.

  1. (Der Sozialstaat bedarf gerade angesichts der Finanzierungsprobleme der Weiterentwicklung: Eigenverantwortung und Verantwortung der kleinen sozialen Einheiten müssen gestärkt werden. Die traditionelle Sozialkultur befindet sich im Zuge der Industrialisierung und Urbanisierung in einem starken Wandel und hat sich an vielen Stellen aufgelöst. Ansätze zu einer neuen Sozialkultur zeichnen sich ab. Sie müssen gefördert werden. Darum spielen die Familien und neue Formen und Chancen der Solidarität, etwa in den Netzwerken assoziativer Selbsthilfe, in den Bürgerbewegungen und Ehrenämtern oder in der wechselseitigen Nachbarschaftshilfe, im Wort der Kirchen eine hervorgehobene Rolle. Eine neue Sozialkultur kann und soll nicht das staatliche System sozialer Sicherung ersetzen, aber sie kann Leistungen hervorbringen, die man bisher allzu schnell vom Staat erwartete. Eine entwickelte Sozialkultur trägt auch dazu bei, Vereinsamung und soziale Kälte zu überwinden, und schafft so Voraussetzungen für eine menschenwürdigere Gesellschaft.
  2. (Um eben diese Sachverhalte geht es im Begriff der Subsidiarität. Treffend ist Subsidiarität mit Vorfahrt für Eigenverantwortung übersetzt worden. Dazu zählt auch mehr betrieblicher Gestaltungsspielraum bei der Arbeitszeitregelung und beim Lohnabschluß. Es darf nicht zu viel verbindlich für alle vereinbart werden. Die unteren Ebenen sind den betroffenen Menschen näher und können zu sachgerechteren und menschengerechteren Lösungen kommen. Subsidiarität ist nach seinem ursprünglichen Sinn ein Prinzip, das die Einzelperson und die kleinen und mittleren Einheiten davor schützt, daß ihnen entzogen wird, was sie aus eigener Initiative und mit eigenen Kräften leisten können. Ein anderer Akzent wird hingegen dort gesetzt, wo unter Berufung auf das Subsidiaritätsprinzip Aufgaben nach unten abgegeben und dann ehrenamtliche Leistungen eingefordert und Risiken sowie Kosten auf den einzelnen übertragen werden. Bei der Subsidiarität geht es darum, die Einzelpersonen und die untergeordneten gesellschaftlichen Ebenen zu schützen und zu unterstützen, nicht jedoch, ihnen wachsende Risiken zuzuschieben. Subsidiarität und Solidarität, Subsidiarität und Sozialstaat gehören insofern zusammen. Subsidiarität heißt: zur Eigenverantwortung befähigen, Subsidiarität heißt nicht: den einzelnen mit seiner sozialen Sicherung allein lassen.

8. Die Ungleichheit der Lebensverhältnisse im Westen und im Osten Deutschlands wird noch für lange Zeit spürbar bleiben. Das Geschenk der Einheit muß wirtschaftlich und sozial mit Leben erfüllt werden.

  1. Die wirtschaftliche Lage im Osten Deutschlands hat sich nach dem tiefen Einbruch von 1990/91 bemerkenswert verbessert. Dennoch ist die unterschiedliche ökonomische Situation in den neuen Bundesländern gegenüber der Situation in den alten Bundesländern alltäglich erfahrbar. Den Menschen im Osten Deutschlands, insbesondere vielen Frauen, die die Hauptlast der Beschäftigungskrise zu tragen haben, sind durch die Vereinigung schmerzliche Anpassungsprozesse abverlangt worden. Sie halten weiter an.
  2. Für Westdeutsche ist es eine jahrzehntelange Erfahrung: Freiheit hat ihren Preis; sie kann mißbraucht werden. Für viele Ostdeutsche mischte sich in die Freude über die neugewonnene Freiheit das Erschrecken über die Auflösung sozialer Bindungen und die Rücksichtslosigkeit in der Verfolgung eigensüchtiger Interessen. Der Preis für den Auszug aus der beherrschenden, aber auch betreuenden Diktatur der DDR war insbesondere ein Verlust an Sicherheitsgefühl und staatlich geplanter Fürsorge.
  3. Die ökonomischen Leistungen, die den Westdeutschen für den Aufbau der wirtschaftlichen Verhältnisse in den neuen Bundesländern für längere Zeit abverlangt werden, sind unübersehbar. Es handelt sich um einen Teil der Kriegsfolgelast Deutschlands. Die Opfer der Solidarität, die im übrigen auch von den Menschen in den neuen Bundesländern erbracht werden, sind vollauf gerechtfertigt. Die Bereitschaft, die erforderlichen Lasten zu tragen, ist auch Grund zum Dank. Stimmen, die auf einen raschen Abbau dieser Leistungen drängen, sollte nicht nachgegeben werden.
  4. Die Unterschiede der realen Lebensverhältnisse sind eine Folge der getrennten Entwicklung in unterschiedlichen Systemen. Ihre Überwindung gehört zu den Aufgaben der erneuerten Einheit der Deutschen. Sollte es in dem reichen Deutschland nicht gelingen, das West-Ost-Gefälle auszugleichen und die Lebensverhältnisse einander anzunähern - wie sollte man noch die Hoffnung bewahren, daß im Blick auf die weit auseinanderklaffenden Lebensverhältnisse in Europa und darüber hinaus ein größeres Maß an sozialer Gerechtigkeit geschaffen werden kann? Dabei geht es nicht einfach darum, den Osten im Produktions-, Konsum- und Infrastrukturniveau auf "Weststandard" zu bringen. Um den Erfordernissen einer zukunftsfähigen Gesellschaft zu entsprechen, müssen sich im Prozeß des weiteren Zusammenwachsens beide Teile Deutschlands verändern.

9. Die Menschen teilen die Welt mit den anderen Geschöpfen Gottes. Deutschland lebt in der Welt zusammen mit anderen Ländern. Solidarität und Gerechtigkeit sind unteilbar.

  1. Grundbedingung für eine zukunftsfähige Entwicklung ist die Erhaltung der natürlichen Grundlagen des Lebens. Kein Land der Erde wird auf lange Sicht dadurch reicher, daß es diese Grundlagen zerstört. Als Verteilungsregel sollte daher gelten: Recht und Billigkeit der Ressourcennutzung müssen sowohl unter der jetzt lebenden Weltbevölkerung als auch im Ablauf der Generationen gewährleistet sein. Um die Tragekapazität der ökologischen Systeme nicht zu überschreiten, können der Natur nicht unbegrenzt Rohstoffe entnommen und nur so viele Rest- und Schadstoffe in sie eingebracht werden, wie sie ohne Schaden aufzunehmen vermag. Diese Kriterien der Nachhaltigkeit nötigen dazu, den ökologischen Strukturwandel voranzubringen. Er setzt Änderungen des Lebensstils voraus, und er zieht solche Änderungen nach sich. Die Kirchen tragen dazu bei, eine Politik des ökologischen Strukturwandels möglich zu machen, wenn sie den biblischen Gedanken der Umkehr auf Änderungen des Lebensstils hin auslegen und an der Gleichsetzung von "gut leben" und "viel haben" Kritik üben.
  2. Die Kirche hat eine Botschaft an alle Menschen. Für sie kann der Horizont von Solidarität und Gerechtigkeit über Deutschland und Europa hinaus nur ein weltweiter sein. Das ist von besonderer Aktualität zu einem Zeitpunkt, an dem die Weltwirtschaft von Globalisierungsschüben erfaßt ist. Diese Globalisierung ereignet sich jedoch nicht wie eine Naturgewalt, sondern muß im Rahmen der Wirtschafts- und Finanzpolitik gestaltet werden. Sie kann zahlreichen wirtschaftlich wenig entwickelten Ländern neue Chancen geben. Die Chancen bestehen freilich nur so lange, wie die reichen Länder bereit sind, ihre Märkte offenzuhalten und weiter zu öffnen. Das verlangt den Menschen in Deutschland Umstellungen ab und ist für manche Wirtschaftszweige mit Einbußen verbunden. Die Kirchen treten in dieser Situation dafür ein, auch eine solche Entwicklung zu bejahen und zu fördern. Man kann nicht zuerst nach Chancen wirtschaftlicher Entwicklung für die ärmeren Länder rufen, aber dann zurückzucken, wenn es einen selbst etwas kostet. Die wirtschaftliche und soziale Entwicklung der ärmeren Länder zu fördern, ist zudem nicht nur ein Gebot weltweiter Solidarität und Gerechtigkeit, es ist auch ein Gebot des Selbstinteresses: Es ist unerläßlich, um die Fluchtursachen zu bekämpfen. Es ist Teil einer vorausschauenden Friedenspolitik.

10. Das Wort der Kirchen zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland ist kein letztes Wort.

  1. Der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland und die Deutsche Bischofskonferenz verantworten das vorgelegte Wort. Sie haben in der Vorbereitung die Beiträge des Konsultationsprozesses sorgfältig ausgewertet, auf unterschiedliche Stimmen aufmerksam gehört und die dabei geltend gemachten Argumente abgewogen. Das Wort, das daraus entstanden ist, kann der Natur der Sache nach keine abschließende Stellungnahme sein. Rat der EKD und Deutsche Bischofskonferenz laden zur kritischen Auseinandersetzung ein. Das Wort ist Teil in dem weitergehenden öffentlichen Gespräch, welchen vorrangigen Zielen das wirtschaftliche und soziale Handeln verpflichtet sein muß und auf welchen Wegen diese Ziele am besten zu erreichen sind.
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