Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit

Wort des Rates der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland, 1997

4. Grundkonsens einer zukunftsfähigen Gesellschaft

  1. Die im vorausgegangenen Abschnitt aus biblischer Botschaft und christlichem Glauben entwickelten ethischen Perspektiven sind die Grundlage für den Beitrag der Kirchen zur Fortentwicklung einer menschenwürdigen, freien, gerechten und solidarischen Ordnung von Gesellschaft und Staat. Diese Perspektiven und Maßstäbe sind nicht wirklichkeitsferne Postulate, sondern Ausdruck einer langfristig denkenden Vernunft, die sich nicht durch vermeintliche Sachzwänge oder durch kurzfristige Interessen irre machen läßt. Sie können in der christlich geprägten europäischen Kultur auch von Nichtchristen akzeptiert werden und tragen damit zur Wiedergewinnung des ethischen Grundkonsenses bei, auf den Politik, Wirtschaft und Gesellschaft angewiesen sind. Er droht gegenwärtig verloren zu gehen und muß unter veränderten gesellschaftlichen Bedingungen neu gefunden werden. Erst ein solcher Grundkonsens ermöglicht eine Verständigung unter den Bürgerinnen und Bürgern über die wichtigsten Perspektiven einer zukunftsfähigen Gesellschaft und eröffnet Wege zur Bewältigung der bedrängenden wirtschaftlichen und sozialen Probleme.
  2. Grundkonsens meint nicht Harmonie, sondern ein ausreichendes Maß an Übereinstimmung trotz verbleibender Gegensätze. Je komplexer die gesellschaftlichen Verhältnisse werden, desto breiter wird das Feld offener Entscheidungen, wo die Meinungen aufeinanderprallen und schließlich Mehrheiten oder oberste Gerichte entscheiden. Zu vielen Fragen gibt es keinen wirklichen Konsens in der Bevölkerung, sondern nur ein Hinnehmen von Kompromissen. Um so wichtiger wird jedoch eine Übereinstimmung über bestimmte Grundelemente der sozialen Ordnung, auf deren Grundlage dann geregelte Verfahren entwickelt werden können, um die unterschiedlichen Überzeugungen und Lagebeurteilungen miteinander zu einem Ausgleich zu bringen und Entscheidungen zu ermöglichen, mit denen alle Beteiligten leben können.
  3. Während früher Gesellschaftsformen nach außen abgegrenzt und aus kleinen Einheiten übersichtlich zusammengesetzt waren, sind moderne Gesellschaften durch das komplexe Zusammenwirken einer Vielzahl institutioneller Teilordnungen unterschiedlicher Reichweite gekennzeichnet, welche verschiedene Leistungen hervorbringen und unterschiedliche Anforderungen an die Handelnden stellen. Hier genügt es nicht mehr, allein das Handeln von Personen einer ethischen Beurteilung zu unterziehen. Zu bedenken sind ebenso die Regeln und Bedingungen, unter denen das Handeln der Individuen sich vollzieht und bestimmte Wirkungen zeitigt. Inwieweit die Würde aller Menschen respektiert wird, wie groß die sozialen Ungleichheiten sind und inwieweit die natürlichen Lebensgrundlagen bewahrt oder ausgebeutet werden, ist nicht nur eine Frage des individuellen guten Willens, sondern vor allem der rechtlichen, ökonomischen und sozialen Verhältnisse, unter denen Menschen ihr Leben führen. Sie bilden daher den primären Gegenstand einer Besinnung über die Grundlagen einer zukunftsfähigen Gesellschaft.
  4. Die neuzeitlichen Ideen über das menschliche Zusammenleben haben die Möglichkeit eröffnet, daß Menschen mit unterschiedlichen Bekenntnissen, Absichten und Bedürfnissen zum friedlichen Miteinander in Freiheit und Toleranz finden. Auf diesen Ideen beruhen die Leitbilder der offenen, pluralistischen Gesellschaft, des demokratischen Rechts- und Sozialstaates und der auf Freiheit, Wettbewerb und sozialer Verantwortung aufgebauten Sozialen Marktwirtschaft. Sie prägen seit langem die westliche Gesellschaft, werden indes zunehmend auch weltweit bestimmend. So historisch wirkmächtig diese Ideen auch sind, ihre Verwirklichung beruht doch auf ethischen Voraussetzungen, die sie selbst nicht gewährleisten können. Die Demokratie kann ohne den moralischen Grundkonsens allgemeiner Menschenrechte und ohne Anerkennung der Rechtsordnung nicht gedeihen, und die Marktwirtschaft bleibt auf die Zuverlässigkeit und Rechtschaffenheit der Wirtschaftssubjekte ebenso angewiesen wie auf die nicht ökonomisch zu organisierende Erziehung der Kinder und Jugendlichen. Zudem bedürfen auch freie Menschen nicht nur politischer Rechte und wirtschaftlicher Güter, sondern vor allem der Möglichkeiten, ihr Leben eigenverantwortlich und sinnvoll zu gestalten, Mitmenschlichkeit zu gewähren und zu erfahren sowie in ihren persönlichen Qualitäten anerkannt zu werden. Das ökonomische Denken tendiert dazu, das menschliche Leben auf die ökonomische Dimension einzuengen und so die kulturellen und sozialen Zusammenhänge menschlichen Lebens zu vernachlässigen. Die sozialethischen Traditionen der christlichen Kirchen betonen demgegenüber das Ganze, die unverrechenbare Einheit menschlicher Lebenshoffnungen und die Vielfältigkeit der menschlichen Rechte und Pflichten.

4.1 Menschenrechte

  1. Nach christlichem Verständnis sind die Menschenrechte Ausdruck der Würde, die allen Menschen auf Grund ihrer Gottebenbildlichkeit zukommt. Die Anerkennung von Menschenrechten bedeutet gleichzeitig die Anerkennung der Pflicht, auch für das Recht der Mitmenschen einzutreten und deren Rechte als Grenze der eigenen Handlungsfreiheit anzuerkennen. Von der Verwirklichung der Menschenrechte kann nur dann gesprochen werden, wenn die staatliche Rechtsordnung die elementaren Rechte jedes Menschen unabhängig von seinem Geschlecht, seiner Herkunft oder seinen individuellen Merkmalen schützt und diese Ordnung von allen Beteiligten anerkannt wird. Die Pflicht zur Anerkennung und zum Einsatz für die Menschenrechte endet jedoch nicht an den Staatsgrenzen. Eine die Idee der Menschenrechte verwirklichende Gesellschaftsordnung wird erst erreicht sein, wenn diese Rechte weltweit anerkannt und geschützt werden. Davon sind wir noch weit entfernt.
  2. Die "Entdeckungsgeschichte" der Menschenrechte zeigt, daß sie stets in Reaktion auf elementare Unrechts- und Leiderfahrungen formuliert worden sind. Wo Menschen für die Leiden ihrer Mitmenschen wahrnehmungsfähig werden, beginnen sie zu fragen, auf welchen strukturellen Voraussetzungen solches Leid beruht und ob man ihm durch die Umgestaltung derjenigen sozialen und politischen Verhältnisse, die dieses Leid erzeugen oder begünstigen, abhelfen kann. Weil die Bedeutung menschenrechtlicher Sicherungen erst dann voll erfaßbar wird, wenn man die Konsequenzen ihrer Beeinträchtigung erfährt, sind menschenrechtliche Mindestanforderungen stets verbesserungsbedürftig. Der geschichtliche Entwicklungsprozeß macht eine kontinuierliche Fortentwicklung des Menschenrechtsschutzes notwendig.
  3. Dabei haben sich vor allem drei Arten von Menschenrechten herauskristallisiert:<
    • zum einen individuelle Freiheitsrechte, die den Schutz gegen Eingriffe Dritter oder des Staates in den Bereich persönlicher Freiheit gewährleisten: Religions-, Gewissens- und Meinungsfreiheit; Recht auf faire Gerichtsverfahren; Schutz der Privatsphäre und von Ehe und Familie; Freiheit der Berufstätigkeit und Freizügigkeit;
    • zum anderen politische Mitwirkungsrechte, die Möglichkeiten eröffnen, selbst auf das öffentliche Leben Einfluß zu nehmen: Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, aktives und passives Wahlrecht, Pressefreiheit;
    • schließlich wirtschaftlich-soziale und kulturelle Grundrechte, die den Anspruch auf Teilhabe an den Lebensmöglichkeiten der Gesellschaft begründen und Chancen menschlicher Entfaltung sichern: Recht auf Bildung und Teilnahme am kulturellen Leben, Recht auf Arbeit und auf faire Arbeitsbedingungen, Recht auf Eigentum, Recht auf soziale Sicherung und Gesundheitsversorgung, auf Wohnung, Erholung und Freizeit.
  4. Die Gewährleistung dieser drei Arten von Rechten ist von unterschiedlichen Bedingungen abhängig. Umstritten ist insbesondere, inwieweit die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Anspruchsrechte durch staatliche Maßnahmen gewährleistet werden können und sollen. Auf jeden Fall haben die Staaten die Verpflichtung, sich für die Realisierung dieser Rechte einzusetzen.
  5. Die Wahrnehmung der individuellen Grundrechte (z. B. Freiheit der Berufswahl) wird in vielen Fällen erst möglich durch soziale Teilhabechancen (z. B. öffentliche Bildung). Die für eine dynamische Wirtschaft und Gesellschaft nötige individuelle Lern-, Anpassungs-, Mobilitäts- und Wagnisbereitschaft wird durch eine Absicherung gegen elementare Lebensrisiken gefördert. Die Einrichtungen des Sozialstaates, die soziale Sicherung und das öffentliche Bildungs-, Gesundheits- und Sozialwesen haben sich daher zu einem konstitutiven Element der westlichen Gesellschaftsordnung entwickelt. Ihnen wird ein eigenständiger moralischer Wert zugesprochen, da sie das solidarische Eintreten für sozial gerechte Teilhabe aller an den Lebensmöglichkeiten verkörpern. Der Sozialstaat darf deshalb nicht als ein nachgeordnetes und je nach Zweckmäßigkeit beliebig zu "verschlankendes" Anhängsel der Marktwirtschaft betrachtet werden. Er hat vielmehr einen eigenständigen moralischen Wert und verkörpert Ansprüche der verantwortlichen Gesellschaft und ihrer zu gemeinsamer Solidarität bereiten Bürgerinnen und Bürger an die Gestaltung des ökonomischen Systems. Dessen dauerhafte Leistungsfähigkeit und wachsender Ertrag sind wiederum Voraussetzungen dafür, daß die Einrichtungen des Sozialstaats finanzierbar bleiben.
  6. Die Verwirklichung der Grundsätze von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit gelingt in der Praxis meist nur mit Einschränkungen. Nicht alle Bevölkerungsgruppen vermögen sich gleichermaßen zu organisieren und ihre Anliegen in die politischen Prozesse einzubringen. Nicht alle haben den gleichen Zugang zu Informationen. Dadurch entstehen dauerhafte Unterschiede der politischen und wirtschaftlichen Machtverteilung. Es sind vor allem Arbeitslose, Arme, Familien, Ausländer und Jugendliche sowie die mehrfach Benachteiligten, die es schwerer haben als andere, ihre Rechte im Rahmen eines immer komplizierter werdenden Rechtssystems einzufordern. Ohne kompetente Rechtsberatung und -vertretung vor Behörden und Gerichten, oft aber auch schon im Verhältnis zu anderen Privatpersonen lassen sich die durch die Rechtsordnung eingeräumten Chancen nicht wahrnehmen. Selbst im Bereich der sozialen Einrichtungen ist keineswegs gewährleistet, daß deren Leistungen in erster Linie den Bedürftigsten zukommen. Auch hier erreichen diejenigen mehr, die ihre Interessen wirksam zur Geltung zu bringen vermögen.
  7. Die christliche Option für die Armen, Schwachen und Benachteiligten besteht gegenüber diesen Tendenzen auf der Pflicht der Starken, sich der Rechte der Schwachen anzunehmen. Dies liegt auch im langfristigen Interesse des Gemeinwesens und damit auch der Starken. Eine Gesellschaft, welche die nachwachsende Generation und deren Eltern vernachlässigt, stellt ihre eigene Zukunft aufs Spiel. Wer Arbeitslose und Ausländer ausgrenzt, verzichtet auf die Inanspruchnahme ihrer Fähigkeiten und Erfahrungen. Und wenn chronisch Kranken und Behinderten kein menschenwürdiges Leben ermöglicht wird, werden damit elementare Maßstäbe des Zusammenlebens in der Gesellschaft in Frage gestellt.

4.2 Freiheitlich-soziale Demokratie

  1. Aus den anerkannten und geschützten Menschenrechten folgen Leitbilder für die staatliche Ordnung, die sich das deutsche Volk "in Verantwortung vor Gott und den Menschen" (Präambel des Grundgesetzes) gegeben hat. Danach sind Demokratie, Rechtsstaat, Sozialstaat und Föderalismus die grundlegenden Staatsstrukturprinzipien. Sie finden im deutschen Grundgesetz ihren Ausdruck in den Artikeln 1 bis 20, die den Kern der Verfassung ausmachen. In Artikel 1 werden der Grundsatz der Menschenwürde und das Bekenntnis "zu den unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt" festgeschrieben.
  2. Das Verständnis der Bundesrepublik Deutschland als freiheitlich-soziale Demokratie bildet unverändert die Grundlage für einen dauerhaften Grundkonsens. Demokratie ist dabei als eine Form staatlicher Herrschaft und gesellschaftlicher Integration zu verstehen, in der soziale Konflikte in gewaltfrei geregelten, öffentlichen Prozessen der Meinungsbildung und Entscheidungsfindung ausgetragen werden. Wesentlich für die Demokratie ist daher die - zum Teil repräsentativ vermittelte - Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an der Regelung aller sie betreffenden Angelegenheiten. Die Kennzeichnung der Demokratie als "soziale" betont, daß diese Beteiligung aller Bürgerinnen und Bürger nicht nur formal durch den Rechtsstaat, sondern auch materiell durch den Sozialstaat gesichert werden muß. Als "freiheitlich" gilt die Demokratie auch dann, wenn sie um der Freiheit aller willen relative Ungleichheiten hinnimmt, solange diese nicht zur Basis für politische Unterdrückung und Ausbeutung werden.
  3. In der Demokratie ist die Öffentlichkeit das Forum der politischen Willensbildung. Das Streben nach Einmütigkeit und Eindeutigkeit und das menschliche Verlangen nach Harmonie stehen in Spannung zu Vielfalt, Freiheit und Wettbewerb der Meinungen und dem damit notwendig verbundenen politischen Streit. Ihm muß um der Freiheit willen Raum gegeben werden. Die Demokratie braucht das Forum einer breiten und informierten Öffentlichkeit, die den Einfluß der Parteien kritisch begleitet und begrenzt. Längst ist die Rolle der öffentlichen Medien wegen ihrer großen Bedeutung für die politische Willensbildung und Kultur umstritten und umkämpft. Sie können Institutionen wachsamer Kontrolle der Machtausübung, sie können aber auch einflußreiche Instrumente der Manipulation sein. Ihre innere und äußere Freiheit und Unabhängigkeit sowie ihre Vielfalt zu gewährleisten ist deshalb ein konkretes Gebot für die freiheitliche Demokratie. Auch in der öffentlichen Meinung ist Vielstimmigkeit und Pluralität eine Grundbedingung für den demokratischen Prozeß.
  4. Für den Staat bedeutet der Wert "Freiheit" nicht nur eine Begrenzung seiner Einflußmöglichkeiten und Eingriffsrechte. Die Verpflichtung aller Beteiligten, in den Arbeitsbeziehungen die Würde des anderen zu achten, erfordert staatliche Gesetze und tarifvertragliche Vereinbarungen zum Arbeitsschutz. Die unternehmerische Freiheit erfordert staatliche Regelungen zum Schutz des Wettbewerbs. Die Freiheit der Verbraucher ("Konsumentensouveränität") erfordert angesichts asymmetrischer Informationsverteilung und der Möglichkeit psychischer Beeinflussung durch Werbung staatliche Gesetze zum Verbraucherschutz und Maßnahmen zur Verbraucheraufklärung. Eine Gesellschaft, die Freiheit als "gebundene Freiheit" versteht und die Würde des anderen auch in den Marktbeziehungen achtet, wird dieses Freiheitsverständnis durch umfassende Rahmenbedingungen zum Ausdruck bringen.
  5. Gegenwärtig wird der Staat zunehmend mit der Erwartung konfrontiert, die Gesamtsteuerung der gesellschaftlichen Entwicklung zu übernehmen, wobei der hierzu erforderliche Sachverstand und die notwendige Unterstützung von Verfahren der öffentlichen Meinungsbildung und Konfliktaustragung erwartet werden. Dabei wird unterstellt, daß in diesen Verfahren alle zu berücksichtigenden Interessen zur Geltung kommen und sich die überzeugendsten Argumente durchsetzen. Diesem Ziel entspricht die politische Wirklichkeit ebensowenig wie die wirtschaftliche Wirklichkeit dem Ideal des vollkommenen Wettbewerbs. Die Schwerfälligkeit von Gesetzgebungsprozessen, das bürokratische Eigeninteresse von Verwaltungen, die ungleichen Chancen der Bürgerinnen und Bürger, sich politisch und rechtlich Gehör zu verschaffen, aber auch die oft ungenügende Absehbarkeit der Folgen bestimmter politischer Entscheidungen sind offensichtliche Grenzen demokratisch legitimierter Regierungen.
  6. Regionale und lokale Unterschiede können auf gesamtstaatlicher Ebene nur ungenügend berücksichtigt werden. Föderalismus und kommunale Selbstverwaltung sollen dem nach dem Willen des Grundgesetzes in Deutschland entgegenwirken. Dadurch entstehen jedoch zusätzliche Schwierigkeiten in politischen Verfahren, sobald die Interessen der verschiedenen Entscheidungsebenen miteinander verflochten sind. Nicht nur wegen dieser Schwierigkeiten, sondern mehr noch aus dem Verständnis der Subsidiarität staatlichen Handelns und angesichts der Gefahr einer bürokratischen Fehlentwicklung des Staates ist die Erwartung einer umfassenden staatlichen Steuerung gesellschaftlicher Prozesse kritisch zu befragen. Jedenfalls in der deutschen und der europäischen Perspektive kann es angesichts der bestehenden Regelungsdichte nicht darum gehen, diese noch zu steigern. Vielmehr ist es nötig, die Kräfte der gesellschaftlichen Selbststeuerung und Selbstverwaltung zu stärken.

4.3 Ökologisch-soziale Marktwirtschaft

  1. Marktwirtschaftliche Ordnungsprinzipien sind ein unverzichtbares Element bürgerlicher Freiheit und die Bedingung innovativen unternehmerischen Handelns. Ihnen verdanken moderne Gesellschaften eine effiziente Versorgung, ihren technischen Fortschritt und ihr Wirtschaftswachstum, aber auch einen Teil ihrer Probleme. Kein anderes gesellschaftliches Ordnungsprinzip vermag derzeit besser den ökonomischen Ressourceneinsatz und die Befriedigung der Konsumentenwünsche zu gewährleisten als ein funktionierender Wettbewerb. Unternehmer, die sich mit ihrem Kapitaleinsatz und ihrer Entscheidungsfreudigkeit den Risiken des Wettbewerbs aussetzen und dabei Arbeitsplätze und Güter schaffen, verdienen auch unter ethischen Gesichtspunkten hohe Anerkennung. Allerdings stellen sich optimale Wettbewerbsbedingungen nicht von selbst ein, sie sind vielmehr von staatlichen Rahmensetzungen abhängig. Unternehmen neigen dazu, sich dem Druck des Wettbewerbs durch Zusammenschlüsse oder andere Formen der Marktmacht, beispielsweise Kartellbildung, zu entziehen. Dem ist mit einer Wettbewerbsordnung entgegenzuwirken. Bedingung dafür, daß Wettbewerb zu leistungs- und bedarfsgerechten Ergebnissen führt, ist ein Marktgleichgewicht zwischen Anbietern und Nachfragern. Wo dieses strukturell fehlt, wie z. B. bei Arbeitsuchenden unter den Bedingungen eines Defizits an wettbewerbsfähigen Arbeitsplätzen oder bei Einzelkonsumenten im Verhältnis zu marktbeherrschenden Großunternehmen, läßt es sich durch den Markt selbst nicht herstellen. Hierzu bedarf es entweder staatlicher Rahmenbedingungen (Arbeitsschutz, Konsumentenschutz) oder solidarischer Selbstorganisation (Gewerkschaften, Konsumentenverbände). Zudem vermag die Marktwirtschaft das Problem des Lebensunterhalts derjenigen nicht zu lösen, die keine Erwerbsarbeit übernehmen können.
  2. Das Grundgesetz hat die Frage nach der Wirtschaftsordnung zwar offen gelassen. Jedoch wurde ein Grundkonsens darüber erzielt, daß nur eine "bewußt sozial gesteuerte Marktwirtschaft" (A. Müller-Armack), deren Konzept wesentlich von der Sozialethik der Kirchen beeinflußt wurde, in Betracht kommen kann. Hierunter wird eine staatlich gewährleistete Wirtschaftsordnung verstanden, die auf den Prinzipien eines in seinem Gebrauch dem Wohle der Allgemeinheit verpflichteten Privateigentums (Art. 14 Abs. 2 GG), eines funktionierenden Wettbewerbs und der sozialstaatlichen Absicherung der Einkommen der Nicht-Erwerbstätigen beruht. Zu den Institutionen, die diese Prinzipien gewährleisten sollen, gehören u. a. die Betriebs- und Unternehmensverfassung einschließlich der Mitbestimmung der Arbeitnehmer, das System der Tarifautonomie, die Arbeitsschutzgesetzgebung, ein System sozialer Sicherung, freie Berufs- und Arbeitsplatzwahl, das Recht auf Eigentum und seine Sozialpflichtigkeit, Wettbewerbsschutz, Arbeits- und Wohnungsmarktpolitik. Das Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft stellt einen produktiven Kompromiß zwischen wirtschaftlicher Freiheit und sozialem Ausgleich dar. Als "sozial" gilt sie, weil sie auf Dauer einen sozial gerechten Ausgleich und die Beteiligung und Teilhabe eines jeden Menschen - auch des Nicht-Erwerbstätigen - nach seinem Vermögen an dem gesellschaftlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Leben zum Ziel hat. Gleichzeitig wird die Gewährleistung fairer Arbeitsbedingungen in die gemeinsame Verantwortung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern gestellt. Wesentlich für das Verständnis der Sozialen Marktwirtschaft ist, daß wirtschaftlicher Erfolg und sozialer Ausgleich als gleichrangige Ziele und jeweils der eine Aspekt als Voraussetzung für die Verwirklichung des anderen begriffen werden. In Westdeutschland war die marktwirtschaftliche Effizienz gemeinsam mit dem sozialen Ausgleich zwischen den sozialen Gruppen und Schichten bisher Grundlage des wirtschaftlichen Erfolges, der einen Ausbau der sozialstaatlichen Einrichtungen auf einem im internationalen Vergleich hohen Niveau ermöglichte. Die Verteilung der Zuwächse des Sozialprodukts wurde - auch wenn im Streit errungen - allgemein als gerecht empfunden, ebenso das sich einspielende Kräftegleichgewicht zwischen den Tarifparteien und die Schaffung von Wirtschaftsbürgerrechten (Mitbestimmungsrechten) in der Betriebs- und Unternehmensverfassung.
  3. In den neuen Bundesländern gingen mit der schockartigen Umstellung von einer Zentralverwaltungswirtschaft, die eine zerrüttete Infrastruktur, einen Berg von Altschulden und international nicht wettbewerbsfähige Betriebe hinterlassen hatte, auf marktwirtschaftliche Bedingungen eine extrem hohe Arbeitslosigkeit und eine schnelle, bis dahin unbekannte Einkommens- und Vermögensdifferenzierung einher. Aufgrund dieser Entwicklung, der oft schmerzlichen Rückgabe von Häusern, Grundstücken und Unternehmen an die früheren Eigentümer und oft auch unlauterer Geschäftspraktiken empfinden viele Bürgerinnen und Bürger der neuen Bundesländer die neue Wirtschaftsordnung als sozial nicht gerecht. Das Konzept Soziale Marktwirtschaft hat dadurch für viele an Vertrauen verloren.
  4. Es ist aber kein Wirtschaftssystem in Sicht, das die komplexe Aufgabe, die Menschen materiell zu versorgen und sie sozial abzusichern, ebenso effizient organisieren könnte wie die Soziale Marktwirtschaft. Gleichwohl ist eine unvoreingenommene Auseinandersetzung mit den gegen sie vorgebrachten kritischen Einwendungen unerläßlich. Die Verwirklichung der Sozialen Marktwirtschaft im Westen Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg beruhte auf mindestens vier Voraussetzungen, die heute in dieser Form nicht mehr gegeben sind:
    • Der die Vollbeschäftigung gewährleistende Kreislauf von wachsenden Unternehmenserträgen, produktivitätssteigernden Investitionen, steigenden Löhnen und wachsender Massenkaufkraft funktioniert nicht mehr wie in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik Deutschland. Weil damit zugleich die Konvergenz von wirtschaftlichem Erfolg und sozialem Ausgleich problematisch zu werden droht, wird die Gleichrangigkeit dieser beiden Ziele mittlerweile häufig bestritten. Das Verhältnis von Kapital und Arbeit hat sich zu Lasten des Faktors Arbeit verschoben; das Gewicht der Kapitaleinkommen nimmt gegenüber den Arbeitseinkommen zu.
    • Die Sozialordnung zu Beginn der Bundesrepublik Deutschland ging noch von einer Familienstruktur aus, in der nur ein Partner erwerbstätig ist. Dementsprechend wurde dauerhafte Vollzeiterwerbstätigkeit nur für das männliche Geschlecht vorausgesetzt, wobei der Lohn zum Unterhalt einer Familie mit zwei Kindern ausreichen sollte. Die wachsende Nachfrage nach Arbeitskräften seit den 60er Jahren hat in Verbindung mit der zunehmenden Qualifizierung der Frauen zu einem tiefgreifenden Einstellungswandel geführt, welcher für die meisten jungen Frauen die Verbindung von Familien- und Erwerbstätigkeit zu einem neuen Leitbild hat werden lassen.
    • Die Soziale Marktwirtschaft im Westen Deutschlands war in starkem Maße nationalstaatlich geprägt. Der Prozeß der Globalisierung erschwert nun jedoch solche nationalstaatlich geprägten Marktwirtschaften, die auf eine starke Kooperation und Integration von Ökonomie, Sozialsystem und Kultur abheben. Je größer die Räume des freien Handels und je ungebundener die Handlungsmöglichkeiten der transnationalen Unternehmen werden, desto stärker wird das Ordnungsmodell Soziale Marktwirtschaft gefährdet. Die stabilisierenden Möglichkeiten des Staates nehmen dabei deutlich ab.
    • Das extensive Wachstum der Volkswirtschaft hat zu einer Erhöhung des Energieverbrauchs und der Umweltbelastungen geführt, welche gerade in einem dicht besiedelten Land wie Deutschland die Lebensqualität zu verschlechtern drohen. Erst in den 70er Jahren wurde allgemein bewußt, daß das allseits erwünschte Wirtschaftswachstum mit einer zu hohen Inanspruchnahme natürlicher Ressourcen und einer überhöhten Belastung der Umwelt durch Schadstoffe erkauft worden ist.
  5. Für diese neuen Herausforderungen vermag ein Modell "Marktwirtschaft pur" keine zureichenden Antworten zu bieten. Mit einer Herauslösung der Marktwirtschaft aus ihrer gesellschaftlichen Einbettung würden die demokratische Entwicklung, die soziale Stabilität, der innere Friede und das im Grundgesetz verankerte Ziel der sozialen Gerechtigkeit gefährdet werden. Zudem wäre es gesamtwirtschaftlich fatal, wenn vernachlässigt würde, daß einzelwirtschaftliche Aktivitäten auf unentgeltlich erbrachte gesamtgesellschaftliche "Vorleistungen" (z. B. Lernbereitschaft, Anpassungsfähigkeit, Bereitschaft zur Betriebsloyalität) sowie auf kaufkräftige Nachfrage und langfristige Sparbereitschaft angewiesen sind. Deshalb ist die Vorstellung, die anstehenden Probleme ließen sich durch eine bloße Anpassung an internationale Wettbewerbsbedingungen und allein schon durch eine Senkung der Lohnkosten lösen, realitätsfern. Ebensowenig freilich reicht es aus, an allem Bestehenden festzuhalten und jeden sozialen Besitzstand zu verteidigen.
  6. In der Zukunft kann der soziale Ausgleich nicht mehr in gleicher Weise wie bisher aus den Zuwächsen des Volkseinkommens bestritten werden. Die Flexibilisierung der Produktionsbedingungen und die Notwendigkeit der sozialen Absicherung derer, die durch die wirtschaftlichen Veränderungen aus dem Arbeitsleben gedrängt werden, haben Folgen für die sozialen Besitzstände. Zu den veränderten Bedingungen gehören außerdem die Pluralisierung der Lebensstile sowie der berechtigte Anspruch der Frauen, Erwerbsarbeit und Familienarbeit gerechter zwischen den Geschlechtern zu verteilen. Die regionalen Folgen der weltwirtschaftlichen Vernetzungen fordern überdies eine den Globalisierungstendenzen Rechnung tragende Ausdehnung der wirtschaftspolitischen Verantwortung.
  7. Schließlich machen die wachsenden Umweltbelastungen eine ökologische Umgestaltung der Sozialen Marktwirtschaft erforderlich. Jenseits der tagespolitischen Auseinandersetzung um Tempo und Wege einer solchen ökologischen Erneuerung besteht über deren Notwendigkeit überwiegend Einigkeit. Die deutsche Gesellschaft kann nur dann den Erfordernissen nachhaltiger Entwicklung gerecht werden, wenn es ihr gelingt, sich in ihrem natürlichen Handlungsrahmen so einzurichten, daß die berechtigten Interessen der kommenden Generationen und der Menschen auf anderen Kontinenten nicht verletzt werden. So wie die historische Erfahrung gezeigt hat, daß sich eine gerechte soziale Verteilung nicht von alleine aus der Dynamik des Marktes ergibt, dieser vielmehr durch eine soziale Rahmenordnung ergänzt werden muß, so ist auch die Bewältigung der ökologischen Problemfelder nicht aus der inhärenten Dynamik der Sozialen Marktwirtschaft zu leisten. Ging es in der "sozialen Frage" letztlich um ein Verteilungsproblem, so weist die "ökologische Frage" auf den Gesamtrahmen des zu Verteilenden hin. Die bisherigen Ziele der Marktwirtschaft müssen sich in Zukunft vor allem daran messen lassen, ob sie auch den nächsten Generationen eine lebenswerte Zukunft ermöglichen. Dies erfordert, daß Umweltqualitätsziele, also die ökologische Komponente, als ein eigenständiger Zielfaktor der wirtschaftlichen Entwicklung beachtet werden. Mit einer ökologischen Nachbesserung des Modells der Sozialen Marktwirtschaft ist es nicht getan. Notwendig ist vielmehr eine Strukturreform zu einer ökologisch-sozialen Marktwirtschaft insgesamt.
  8. Für die Gestaltung der Ordnung einer modernen Gesellschaft sind die folgenden Elemente in gleicher Weise unverzichtbar und von eigenständiger Bedeutung:
    • persönliche Verantwortung und unternehmerische Initiative,
    • der Markt als ein effektives Mittel, um durch leistungsgerechte Entgelte und Gewinne Wohlstand zu schaffen,
    • eine soziale Rahmenordnung, die unter Beachtung der Prinzipien der Solidarität und Subsidiarität die Bevölkerung im Blick auf die elementaren Lebensrisiken sichert und für sozialen Ausgleich sowie Chancengerechtigkeit sorgt,
    • ein Steuersystem, das der Finanzierung der erforderlichen Infrastruktur und Staatsaufgaben, der Förderung von Wachstum und Beschäftigung und einer sozial gerechten und ausgewogenen Verteilung dient,
    • die Erhaltung der Stabilität der Währung,
    • die Beachtung neuer internationaler Herausforderungen und ihre verantwortliche Gestaltung,
    • die Rückbindung des sozioökonomischen Systems an die Regenerationsraten und Zeitrhythmen der ökologischen Systeme und schließlich
    • solidarisches Verhalten als Voraussetzung von Wertbindung, Vertrauen und Loyalität.
  9. (150) Aus dieser Perspektive zeigt sich auch das weithin akzeptierte Ziel einer Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost- und Westdeutschland in einem anderen Licht. Häufig wird darunter eine Anhebung des Produktions-, Konsum- und Infrastrukturniveaus in den neuen Bundesländern auf "Weststandard" verstanden. Das Grundgesetz aber meint mit dem Ziel der "Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse" die Überwindung von Benachteiligungen von Regionen und die Herstellung von Chancengerechtigkeit. In Deutschland soll es keine benachteiligten Gebiete geben. Es geht darum, daß sich beide Teile Deutschlands im Prozeß des Zusammenwachsens deutlich umorientieren müssen, um den Erfordernissen einer zukunftsfähigen Gesellschaft zu entsprechen.

4.4 Menschenrecht auf Arbeit und neues Arbeitsverständnis

  1. Auch in Zukunft wird die Gesellschaft dadurch geprägt sein, daß die Erwerbsarbeit für die meisten Menschen den bei weitem wichtigsten Zugang zu eigener Lebensvorsorge und zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben schafft. In einer solchen Gesellschaft wird der Anspruch der Menschen auf Lebens-, Entfaltungs- und Beteiligungschancen zu einem Menschenrecht auf Arbeit. Wenngleich dieses ethisch begründete Anrecht auf Erwerbsarbeit nicht zu einem individuell einklagbaren Anspruch werden kann, verpflichtet es die Träger der Wirtschafts-, Arbeitsmarkt-, Tarif- und Sozialpolitik, größtmögliche Anstrengungen zu unternehmen, um die Beteiligung an der Erwerbsarbeit zu gewährleisten. Dabei geht es um mehr als entlohnte Beschäftigung. Vielmehr muß die Entlohnung in Verbindung mit den staatlichen Steuern, Abgaben und Transfers auch ein den kulturellen Standards gemäßes Leben ermöglichen. Zudem müssen Mitbestimmungsregelungen und humane Arbeitsbedingungen den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern persönliche Entfaltungs- und Beteiligungschancen einräumen.
  2. Aus christlicher Sicht ist das Menschenrecht auf Arbeit unmittelbarer Ausdruck der Menschenwürde. Der Mensch ist für ein tätiges Leben geschaffen und erfährt dessen Sinnhaftigkeit im Austausch mit seinen Mitmenschen. Menschliche Arbeit ist nicht notwendigerweise Erwerbsarbeit. Unter dem Einfluß der Industrialisierung hat sich das Leitbild von Arbeit allerdings auf Erwerbsarbeit verengt. Je mehr jedoch die mit dem technischen Fortschritt einhergehende Steigerung der Arbeitsproduktivität ein Wirtschaftswachstum bei gleichzeitiger Verringerung der Arbeitsplätze ermöglicht, desto fragwürdiger wird die Verengung des Arbeitsbegriffs auf Erwerbsarbeit. Deshalb kann die Gesellschaft dadurch humaner und zukunftsfähiger werden, daß auch unabhängig von der Erwerbsarbeit die Chancen für einen gesicherten Lebensunterhalt, für soziale Kontakte und persönliche Entfaltung erhöht werden. Insbesondere muß das System der sozialen Sicherheit darauf eingestellt werden, daß der Anteil kontinuierlicher Erwerbsbiographien abnimmt und daß mit der Pluralisierung der Lebensstile immer mehr Menschen zwischen Phasen der ganztägigen Erwerbsarbeit, des Teilzeiterwerbs und der Haus- und Familienarbeit wechseln.
  3. Eine Soziale Marktwirtschaft ist heute nicht mehr durch "Normalarbeitsverhältnisse" der Männer und eine nur indirekte materielle Versorgung und Absicherung der Frauen und Kinder zu verwirklichen. Jenseits konkreter Verteilungskonflikte zwischen den Geschlechtern steht die Gleichstellung von Frauen und Männern in der Bevölkerung heute nicht mehr in Frage. Wesentlich für die Gleichstellung ist, daß in Zukunft die Frauen einen gerechten Anteil an der Erwerbsarbeit erhalten und die Männer einen gerechten Anteil an der Haus-, Erziehungs- und Pflegearbeit übernehmen. Dieses Ziel wird nur schrittweise zu erreichen sein. Um so notwendiger ist es, die Haus-, Erziehungs- und Pflegearbeit und den ehrenamtlichen Dienst gesellschaftlich aufzuwerten und Benachteiligungen, z. B. bei den sozialen Sicherungssystemen, im Maße des finanziell Machbaren abzubauen.
  4. Leistungsansprüche, Zeitdruck und kurzfristiges Effizienzdenken sind in den letzten Jahren enorm gestiegen. Das hat Folgen für die Arbeitsbedingungen in zahlreichen Tätigkeitsfeldern. Zugleich steigen die Ansprüche an das Privatleben als Gegenwelt und flexible Ergänzung der Erwerbsarbeit. Die Lebensqualität vieler Beschäftigter wird beeinträchtigt. Stärker noch werden die Lebens- und Entfaltungsmöglichkeiten derer eingeschränkt, die in der schnellebigen Gesellschaft nicht mithalten können. Um so wichtiger erscheint angesichts dieser Entwicklung das Ziel, die Arbeitswelt und die Gesellschaft insgesamt kinder- und familienfreundlicher zu gestalten. Neben einer Verbesserung der Einkommen von Familien geht es hier u. a. um eine Erhöhung der Zeitsouveränität der Beschäftigten und um die kindergerechte Gestaltung städtischer und ländlicher Lebensräume sowie um die Bereitstellung bedarfsgerechten und bezahlbaren Wohnraums für Familien mit Kindern durch wohnungspolitische Maßnahmen.
  5. Wenn die Volkswirtschaft unter den gegenwärtigen Bedingungen nicht mehr in der Lage ist, alle erwerbsbereiten Menschen zu beschäftigen, und gleichzeitig eine Auszehrung der unentgeltlichen und im Gemeinwohlinteresse unerläßlichen Tätigkeiten droht, so stellt sich der Politik einschließlich der Tarifpolitik die Aufgabe, hier entschieden gegenzusteuern. Sonst führt dies zu einer Vergeudung menschlicher Fähigkeiten und zu einem Verlust an Humanität in der Gesellschaft. Es geht einerseits um eine stärkere politische und soziale Anerkennung der Tätigkeiten außerhalb der Erwerbsarbeit als einem unersetzlichen Beitrag für die Gesellschaft. Und es geht andererseits um eine Hilfe beim Tragen der Lasten, welche Menschen unter den gegenwärtigen Bedingungen mit der Übernahme familialer Verantwortung auf sich nehmen. Es gibt nicht nur eine Sozialpflichtigkeit des Eigentums, sondern auch eine Sozialpflicht des einzelnen.

4.5 Chancen und Formen der Solidarität in einer erneuerten Sozialkultur

  1. Die bisherigen öffentlichen Diskussionen orientieren sich fast ausschließlich am Spannungsverhältnis von Marktwirtschaft und Sozialstaat. Vielfach schwingt dabei auch noch der ordnungspolitische Antagonismus "Planwirtschaft" versus "Marktwirtschaft" aus der Zeit des Kalten Krieges nach. Wenn Märkte an ihre Grenzen stoßen, sucht man das Heil beim Staat. Versagt der Staat, so fordert man mehr Markt, Privatisierungen und Deregulierungen. Über diesem Dualismus droht in Vergessenheit zu geraten, daß gesellschaftliche Gruppen und Institutionen, die weder dem Staat noch dem Bereich des Marktes zuzuordnen sind, einen eigenständigen Beitrag zur Erhöhung der gesellschaftlichen Wohlfahrt leisten. Hierzu gehören in erster Linie die Familien (Haushalte und Verwandtennetze), aber auch die gemeinnützigen Einrichtungen, Formen assoziativer Selbsthilfe - beispielsweise in Kirchen, Gewerkschaften oder Vereinen - und Formen wechselseitiger Hilfe - etwa im Bereich von Nachbarschaften oder sonstigen Bekanntschaftsbeziehungen. Das gemeinsame Moment dieser unterschiedlichen Formen der Förderung des Gemeinwohls besteht in der ihnen zugrundeliegenden Solidarität der Beteiligten.
  2. In den letzten 30 Jahren hat die allgemeine Erhöhung des Wohlstands, des Bildungsniveaus und der sozialen Sicherheit den Prozeß der Individualisierung beschleunigt: Das Leben des einzelnen wurde optionsreicher, traditionelle Milieubindungen lockerten sich, durch eigene Wahl eingegangene Verpflichtungen traten z. T. an die Stelle vorgegebener Normen. Auch wenn dadurch das Bewußtsein, solidarisch miteinander verbunden zu sein, weniger selbstverständlich geworden ist, kann diese Entwicklung nicht von vornherein mit Vereinzelung und Entsolidarisierung gleichgesetzt werden. Vielmehr wandelt sich die Art und Weise, in der Solidarität eingeübt und gelebt wird. An die Stelle herkömmlicher Formen der Solidarität tritt zunehmend die freiwillige solidarische Einbindung in Gruppen, die häufig durch gemeinsames Engagement für eine gemeinsame Sache neu entstehen.
  3. Diese gemeinsame Sache bezieht sich auch auf neue Wertvorstellungen. Frauen und Männer suchen heute vielfach Lebensziele gleichzeitig zu verwirklichen, die sich früher auszuschließen schienen. Sie möchten Erwerbsarbeit und Ehrenamt, Familie und Beruf, persönlichen Freiraum und politisches Engagement miteinander verbinden. Ihnen geht es darum, sich als kreative und unkonventionelle Persönlichkeiten selbst zu entfalten und in einer Gemeinschaft Verantwortung zu übernehmen. Sie wollen global denken und lokal handeln. Zudem haben sich auch neue Wertorientierungen gesellschaftlich verbreitet - z. B. für das Umwelt- und das Geschlechterverhältnis. Gemeinsam ist vielen dieser neuen Wertorientierungen eine Ausweitung des Solidaritätsverständnisses. Gefährdungen und Risiken, die in Reichweite und Wirkungsgrad grenzenlos geworden sind, betreffen prinzipiell alle und fordern daher auch ein Bewußtsein globaler Verbundenheit. Diese Universalisierung der Solidarität unterscheidet sich von älteren und eingeschränkteren Formen der Solidarität. Christen vermögen darin durchaus das Erbe des christlichen Universalitätsanspruchs von Menschenwürde und Menschenrechten zu erkennen. In der öffentlichen Diskussion werden diese neuen Solidaritäten häufig übersehen und nur die Entsolidarisierung und der Abbau des Gemeinsinns beklagt. Der Rückgang überlieferter Formen der Solidarität ist nicht zuletzt unter den Jüngeren mit höherer Bildung häufig durch eine Zunahme von sozialem, politischem und kulturellem Engagement ersetzt worden, das stärker als früher unter dem Gesichtspunkt der Bereicherung an Lebenserfahrung und inhaltlicher Befriedigung durch soziale Kommunikation betrachtet wird.
  4. So haben im Westen Deutschlands in den letzten 25 Jahren Bürgerinitiativen, neue soziale Bewegungen, Wohlfahrtsverbände und andere Nichtregierungsorganisationen die Debatten in der politischen Öffentlichkeit belebt und damit Wege zu einer Neuorientierung staatlichen Handelns geöffnet. In Ostdeutschland war die friedliche Revolution nur möglich, weil gesellschaftliche, vielfach kirchlich gebundene Gruppen gegen den totalitären Staat aufbegehrten und an den Runden Tischen der Wendezeit eine demokratische Kultur entwickelten, in der die Beteiligten solidarisch und kooperativ nach neuen Wegen suchten. In Ost und West klagen entwicklungspolitische Gruppen mit einer erstaunlichen Beharrlichkeit ein, daß solidarische Verantwortung universell und nicht teilbar ist. Arbeitsloseninitiativen spüren gesellschaftlich sinnvolle Arbeiten auf, die sonst ungetan blieben. Kirchengemeinden, kirchliche Gruppen und Verbände führen Solidaritätsaktionen durch. Ad hoc gebildete Bürgerkomitees organisieren Lichterketten, in denen sich die Solidarität der deutschen Bevölkerungsmehrheit mit bedrohten Ausländern ausdrückt. Gruppen der Umwelt- und Frauenbewegung haben über ihr politisches Engagement hinaus auch neue Lebensstile und exemplarische Formen solidarischer Gemeinschaft erprobt. Zudem sind Tausende neuer Selbsthilfegruppen entstanden. Kirchengemeinden, kirchliche Einrichtungen, Organisationen und Initiativen haben sich an diesen Suchprozessen beteiligt und neue Formen des ehren- und hauptamtlichen Engagements entwickelt. In den beiden kirchlichen Wohlfahrtsverbänden engagieren sich mehr als eine Million Frauen und Männer ehrenamtlich.
  5. Wie die beschriebenen Potentiale einer erneuerten Sozialkultur werden häufig auch die vielfältigen Leistungen, die im Haushalt und in den Familien erbracht werden, übersehen. Doch indem sich die Familienmitglieder wechselseitig unterstützen, insbesondere die Pflege und Versorgung von Kindern, älteren Menschen und Behinderten übernehmen, dienen sie der Allgemeinheit und leisten einen unverzichtbaren Beitrag zur Entwicklung, Aufrechterhaltung und Einübung sozialen Verhaltens.

4.6 Internationale Verantwortung

  1. Die vorangehenden Überlegungen haben sich auf die inneren Verhältnisse entwickelter Industriegesellschaften und der Bundesrepublik Deutschland im besonderen bezogen. Weniger denn je kann jedoch heute ein einzelnes Land allein über seine Zukunft bestimmen. Zukunftsfähigkeit kann die deutsche Gesellschaft niemals im Alleingang erreichen. Ihre internationale Vernetzung bedingt gleichzeitig Schranken und Chancen ihrer weiteren Entwicklung.
  2. Durch die schrittweise Liberalisierung der Güter- und Finanzmärkte nach dem Zweiten Weltkrieg ohne gleichzeitige Herausbildung eines sozial verpflichteten Ordnungsrahmens ist es zur Ausbildung weitgehend autonomer, weder politisch noch sozial eingebundener Wirtschaftsbeziehungen gekommen. Das gilt insbesondere für die transnationalen Unternehmen sowie für den Bereich der Finanzmärkte. Wie sich in jüngster Zeit mehrfach gezeigt hat, können von den internationalen Finanz- und Kapitalmärkten nicht nur stabilisierende, sondern auch destabilisierende Wirkungen auf nationale Volkswirtschaften ausgehen. Die hohen und ständig steigenden Summen, die fortlaufend auf den internationalen Finanzmärkten umgesetzt werden, verweisen auf die Aufgabe, diese Prozesse zu gestalten und der Entwicklung weltweiter Wohlfahrt dienlich zu machen. Eigentum ist stets sozialpflichtig, auch das international mobile Kapital.
  3. Angesichts der ungehinderten Dominanz privatwirtschaftlicher Interessen auf Weltebene und der daraus resultierenden Beschränkung des politischen Handlungsspielraums einzelner Staaten wird eine verbindliche weltweite Rahmenordnung für wirtschaftliches und soziales Handeln dringlich. Erste Ansätze dazu gibt es in der Tätigkeit der Vereinten Nationen, der Weltbank, des Weltwährungsfonds und vor allem der Welthandelsorganisation (WTO). Sie müssen ausgebaut werden, vor allem durch Regeln für einen fairen wirtschaftlichen Wettbewerb und durch soziale Mindeststandards. Diese Regeln und Standards durchzusetzen wird nur möglich sein, wenn die weltweit tätigen staatsähnlichen Institutionen mit ordnungspolitischer Kompetenz ausgestattet werden.
  4. Die Europäische Union gewinnt in diesem Licht zusätzlich an Bedeutung. Die Aufwertung gemeinsamer geld- und finanzpolitischer Instanzen und die wirtschafts- und sozialpolitische Kooperation zwischen den Mitgliedsländern erweisen sich nicht nur als wünschenswert, sondern als unumgänglich. Tatsächlich ist die Europäisierung der Wirtschaftspolitik viel rascher und entschiedener fortgeschritten als eine entsprechende Entwicklung der Sozialpolitik. Hierfür sind mehrere Gründe maßgeblich. In Europa treffen unterschiedliche Sozialmodelle aufeinander. Eine Harmonisierung ist wegen der unterschiedlichen Leistungsfähigkeit dieser Systeme und der erheblichen Kosten für die einzelnen Mitgliedstaaten bislang nie ernsthaft in Betracht gezogen worden. Außerdem haben die Mitgliedstaaten sich nur in einigen wenigen im wesentlichen wettbewerbsrelevanten Bereichen der beschäftigungsbezogenen Sozialpolitik darauf verständigen können, der Europäischen Union entsprechende Kompetenzen zu übertragen: so etwa beim Arbeitsschutz sowie bei Einzelfragen des Arbeitsrechtes einschließlich der Chancengleichheit von Frauen und Männern am Arbeitsmarkt. Mit Rücksicht auf das Prinzip der Subsidiarität wurde auf eine weitergehende Ausgestaltung der Sozialpolitik auf europäischer Ebene verzichtet. In der Europäischen Union werden die Aufgaben der Sozialpolitik weitgehend auf nationaler Ebene wahrgenommen. Erforderlich ist jedoch eine bessere gegenseitige Abstimmung nationaler Sozialpolitiken und die Schaffung von Mindeststandards im Bereich des Sozial- und Arbeitsrechts. Hierzu bedarf es auch einer stärkeren Repräsentanz von Gewerkschaften und Sozial- und Wohlfahrtsverbänden auf europäischer Ebene.
  5. Zum Grundkonsens einer zukunftsfähigen Gesellschaft gehört auch ein Leitbild für die Wahrnehmung internationaler Verantwortung. Deutschland hat infolge der Vereinigung in jüngster Zeit zweifellos an internationalem Einfluß gewonnen. Damit wächst die Verantwortung, in der praktischen Politik zu den notwendigen Fortschritten bei der Förderung der Rechte und Entwicklungsmöglichkeiten armer Länder, der Beseitigung der Massenarmut, der Bewältigung der Migrationsproblematik, der Verbesserung des internationalen Umweltschutzes, der Annäherung sozialpolitischer Standards und der verantwortlichen Gestaltung der internationalen Finanzmärkte beizutragen. Dies sind Anliegen, ohne die eine weltweite Verwirklichung der Menschenrechte und ein friedliches Zusammenleben der Völker nicht zu erwarten sind. Die Bundesrepublik Deutschland ist aufgrund ihrer sozial- und umweltpolitischen Erfahrungen, ihrer im Grundgesetz verankerten politischen Überzeugungen und der eingegangenen europäischen Bindungen in besonderer Weise verpflichtet, alles, was in ihrer Macht steht, zu tun, um diesen Grundsätzen auch international zum Durchbruch zu verhelfen.
Nächstes Kapitel