Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit

Wort des Rates der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland, 1997

2. Gesellschaft im Umbruch

  1. Die Entwicklung in den meisten westeuropäischen Ländern war nach dem Zweiten Weltkrieg durch den politischen Willen geprägt, den wirtschaftlichen Fortschritt mit einem sozialen Ausgleich zu verbinden. Diese sozialstaatliche Tradition, die ins 19. Jahrhundert zurückreicht, fand in der Bundesrepublik Deutschland ihre Ausprägung im Leitbild der Sozialen Marktwirtschaft. Inzwischen steht Deutschland mit vielen anderen Ländern vor neuen, zum Teil weltweiten Herausforderungen: Rationalisierungsprozesse, der europäische Integrationsprozeß und vor allem die Internationalisierung der Güter- und Kapitalmärkte gehen mit einem einschneidenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandel einher und wirken sich nicht zuletzt nachhaltig auf den Arbeitsmarkt aus. Die ökologischen Grenzen der wirtschaftlichen Entwicklung fordern Veränderungen, die nicht mehr länger aufgeschoben werden können. Die langanhaltende Massenarbeitslosigkeit und die mit ihr verbundenen Probleme des Sozialstaates gefährden den solidarischen Zusammenhalt und bedrohen den sozialen Frieden.

2.1 Lang anhaltende Massenarbeitslosigkeit

  1. In Deutschland und in den anderen Mitgliedsstaaten der EU stellt die anhaltende Massenarbeitslosigkeit die drängendste politische, wirtschaftliche und soziale Herausforderung dar. Die katastrophale Lage auf dem Arbeitsmarkt ist weder für die betroffenen Menschen noch für den sozialen Rechtsstaat hinnehmbar. Auch im Konsultationsprozeß gehörte die Arbeitslosigkeit zu den Themenbereichen, die in den Eingaben die größte Beachtung fanden. In den Stellungnahmen werden die Parteien und Gebietskörperschaften, die Tarifpartner und die Verantwortlichen der Finanzpolitik sowie alle Träger beschäftigungspolitischer Maßnahmen nachdrücklich aufgefordert, ihren Beitrag zu einem nachhaltigen Abbau der Arbeitslosigkeit zu leisten.

2.1.1 Belastungen durch Arbeitslosigkeit

  1. Bereits vor mehr als 20 Jahren überschritt die Zahl der in Westdeutschland registrierten Arbeitslosen erstmals wieder seit Anfang der 50er Jahre die Millionengrenze. Seitdem hat sich die Arbeitslosigkeit strukturell verfestigt und die Anzahl derer, die selbst zu Zeiten konjunktureller Belebung keine Stelle finden, ist stetig gewachsen. In West- und Ostdeutschland zusammen waren im Januar 1997 4,6 Millionen Frauen und Männer als arbeitslos gemeldet; in den Ländern der EU waren es Ende Dezember 1996 etwa 18,1 Millionen. Nicht eingerechnet sind dabei die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die an Umschulungs- und Fortbildungsmaßnahmen teilnehmen, in Kurzarbeit oder im Rahmen von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen beschäftigt sind, im vorgezogenen Ruhestand leben oder sich resignierend zurückgezogen haben. Eine besondere beschäftigungspolitische Herausforderung stellt die Jugendarbeitslosigkeit dar. Eine wachsende Zahl von Jugendlichen, insbesondere von jungen Frauen, läuft Gefahr, niemals in das Beschäftigungssystem integriert zu werden.
  2. Die westdeutsche Gesellschaft ist wohlhabend, ihre Wirtschaft gehört zu den erfolgreichsten der Welt; dennoch weist sie seit Jahrzehnten eine steigende Arbeitslosigkeit auf. Die Vorstellungen über Erwerbsarbeit sind zwar immer noch weitgehend an dem herkömmlichen Leitbild industrieller Arbeit orientiert. Dauerhafte Beschäftigungsverhältnisse im industriellen Bereich verlieren gegenüber dem Dienstleistungssektor jedoch an Gewicht und Bedeutung. Zugleich nehmen die sogenannte geringfügige Beschäftigung und die Scheinselbständigkeit zu. Diese Umbrüche in den Beschäftigungsverhältnissen rühren an Grundstrukturen einer Gesellschaft, in der die Erwerbsarbeit für das geregelte Einkommen, die soziale Integration und die Möglichkeiten der Persönlichkeitsentwicklung zentral ist.
  3. Obwohl die Arbeitslosigkeit ein gesamtwirtschaftliches Problem darstellt, ist das Vorurteil weit verbreitet, sie beruhe auf individuellem Versagen. Viele Arbeitslose beziehen solche Schuldzuweisungen auf sich, ziehen sich aus Scham zurück und fühlen sich vielfach ausgegrenzt. Sie vermissen die Chance, ihren Lebensunterhalt eigenständig zu sichern, Kontakte zu pflegen, sich weiter zu qualifizieren und am gesellschaftlichen Leben verantwortlich zu beteiligen.
  4. Die lang anhaltende Massenarbeitslosigkeit verschärft die Auswahl- und Verdrängungsprozesse des Arbeitsmarktes: Sind Personengruppen bestimmten Leistungsanforderungen nicht gewachsen, so finden sie, wenn sie einmal arbeitslos geworden sind, nur noch sehr schwer eine Anstellung. So fühlen sich Hunderttausende Langzeitarbeitslose nicht mehr gefragt. Arbeitslose, die längere Zeit keine Arbeit finden, werden schließlich in vielen Fällen unfähig, Arbeit zu suchen, und werden zu Menschen ohne Erwartungen. Verbitterung und Resignation zerstören das Vertrauen in die demokratische Gestaltbarkeit der Gesellschaft. Perspektivlosigkeit und Angst vor dem sozialen Abstieg sind ein Nährboden für Gewaltbereitschaft und Fremdenfeindlichkeit.
  5. Seit den 80er Jahren konzentriert sich die Langzeitarbeitslosigkeit zunehmend auf die Gruppe der Älteren. Etwa zwei Drittel der registrierten Langzeitarbeitslosen sind über 45 Jahre alt. In einer besonders schwierigen Situation sind alleinerziehende Frauen. Häufig haben sie aufgrund ihrer besonders belastenden Lebenssituation keine Chance, einen Arbeitsplatz zu bekommen und damit ein eigenes Einkommen zu erzielen. Sie werden von der Sozialhilfe abhängig und sind kaum in der Lage, soziale Kontakte außerhalb der Kindererziehung aufzunehmen.
  6. Aufgrund der traditionellen Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen sind es vor allem die Frauen, die Arbeit in Familie und Ehrenamt übernommen haben. Nimmt man ihren Anteil an der Erwerbsarbeit hinzu, so werden etwa zwei Drittel der gesellschaftlich anfallenden Arbeit von Frauen geleistet. Weil Frauen immer noch den größten Teil der familiären Arbeit leisten, werden sie häufig noch zusätzlich bei den Einstellungsentscheidungen benachteiligt. Deshalb haben sie an der Erwerbsarbeit nicht in dem Maße teil, wie es ihrer Ausbildung und Qualifikation entspräche.

2.1.2 Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern

  1. Besonders belastend ist die Massenarbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern. Sie ist hier in einem Tempo und Umfang gestiegen, wie es in den alten Bundesländern weithin ohne Beispiel ist. Durch den Zusammenbruch der sozialistischen Planwirtschaft, die abrupte Einführung marktwirtschaftlicher Verhältnisse ohne hinreichende strukturpolitische Begleitung, die mit der Währungsunion verbundene Aufwertung und den Verlust der bisherigen östlichen Märkte sind ganze Industriezweige weggebrochen. Mehr als zwei Drittel der Beschäftigten mußten ihre Betriebe verlassen und sich um neue Arbeitsplätze bemühen.
  2. In den ersten 4 Jahren nach 1989 sank die Zahl der Erwerbstätigen von 10 Millionen auf etwa 6 Millionen. Ende 1996 lag die Arbeitslosenquote über 15%. Mehr als ein Drittel der Arbeitslosen sind länger als ein Jahr arbeitslos. Eine weitere Zunahme der Arbeitslosigkeit ist zu befürchten, wenn es nicht zu grundlegenden Änderungen kommt.
  3. Ein besonderes Problem der Arbeitslosigkeit in den neuen Bundesländern ist die Situation der Frauen auf dem Arbeitsmarkt. Während in der DDR über 90% der Frauen im erwerbsfähigen Alter berufstätig waren, wurden gerade sie nach der Wende verstärkt vom Arbeitsmarkt verdrängt. Viele von ihnen haben auf Dauer keine Aussicht auf einen Arbeitsplatz. So sind mehr als 75% der ostdeutschen Langzeitarbeitslosen Frauen, häufig gut qualifizierte jüngere Frauen. Sie haben die Hauptlast der Beschäftigungskrise zu tragen.
  4. Die ostdeutschen Eingaben im Rahmen des Konsultationsprozesses haben gezeigt, daß sich viele Bürgerinnen und Bürger der neuen Bundesländer trotz der umfangreichen westdeutschen Hilfe im Stich gelassen fühlen. Weil zu DDR-Zeiten die Erwerbsarbeit weit mehr als im Westen die Funktion hatte, die Menschen in das soziale Gefüge eines Betriebs zu integrieren, wird nunmehr die Arbeitslosigkeit stärker als ein Verlust von sozialen Bindungen und Möglichkeiten der Beteiligung am gesellschaftlichen Leben erfahren. Auch die Sozialleistungen der westdeutschen Sicherungssysteme, die in der Gesamtsumme beeindruckend sind, konnten nicht verhindern, daß viele Ostdeutsche heute eine höhere Unsicherheit ihrer materiellen Lebensgrundlagen und ihres sozialen Status empfinden. Die Arbeitslosigkeit hat über Jahrzehnte erworbene Arbeitserfahrungen und berufliche Qualifikationen entwertet. Bei den Menschen in den neuen Bundesländern verfestigt sich der Eindruck, daß sie von vielen Westdeutschen wegen ihrer Vergangenheit falsch eingeschätzt werden. Ein großer Teil der Westdeutschen, so machen sie geltend, habe keine rechte Vorstellung von ihren Nöten.

2.1.3 Ursachen der Arbeitslosigkeit

  1. Die Ursachen der seit 1973 trendmäßig zunehmenden strukturellen Arbeitslosigkeit in Deutschland sind vielfältig und in der politischen Öffentlichkeit wie in der wirtschaftswissenschaftlichen Diskussion umstritten. Entsprechend gingen auch die Meinungen im Verlauf des Konsultationsprozesses auseinander. Eines ist jedoch gewiß: Arbeitslosigkeit kann nicht monokausal erklärt werden.
  2. In den letzten Jahren hat sich das wirtschaftliche Wachstum deutlich verlangsamt. Die wirtschaftlichen Wachstumskräfte allein reichen offensichtlich nicht mehr aus, um die Arbeitslosigkeit nachhaltig abzubauen. Es ist zwar gelungen, die Zahl der Arbeitsplätze von Mitte der 80er bis Anfang der 90er Jahre deutlich zu erhöhen, dies genügte aber nicht, um eine weitere Zunahme der Arbeitslosigkeit zu verhindern. Das lag daran, daß in den vergangenen Jahren weitaus mehr Menschen zusätzlich Erwerbsarbeit nachgefragt haben und sich dadurch das Arbeitskräfteangebot wesentlich erhöht hat. Seit einigen Jahren ist ein erheblicher Abbau von Arbeitsplätzen zu verzeichnen, der sich in letzter Zeit weiter beschleunigt hat.
  3. Hinzu kommt, daß der strukturelle Wandel im industriellen Bereich im Zuge des technischen Fortschritts mit einer enormen Steigerung der Arbeitsproduktivität einherging, ohne daß der Beschäftigungsrückgang im gleichen Maße durch eine Verringerung der Arbeitszeit oder die Ausweitung der Produktion kompensiert worden wäre. Der Beschäftigungszuwachs im Dienstleistungssektor hat nicht ausgereicht, den Verlust von Arbeitsplätzen im industriellen Bereich auszugleichen.
  4. Eine der Hauptursachen der hohen Arbeitslosigkeit in Deutschland wird nach einer verbreiteten Auffassung in den weltpolitischen Änderungen und der Globalisierung der Wirtschaft und des Wettbewerbs gesehen, die weitreichende Anpassungen in der internationalen Arbeitsteilung ausgelöst und dazu geführt hätten, daß sich auch die deutschen Unternehmen einem zweifellos härter gewordenen weltweiten Wettbewerb stellen müssen. Sie sähen sich in ihrer Wettbewerbsfähigkeit wesentlich eingeschränkt, insbesondere durch die hohen Lohnkosten, kurze Arbeitszeiten und das Ausmaß der Abgaben- und Steuerbelastung. Weitere Beeinträchtigungen ergäben sich aus subventionsbedingten Wettbewerbsverzerrungen, hohen Energiepreisen, einer hohen Bürokratisierung und Regulierung, Ressentiments gegen bestimmte neue Technologien, fehlendem Risikokapital und Währungsschwankungen. Das Problem zeige sich auch daran, daß deutsche Unternehmen zunehmend ihre Produktion in das Ausland verlagern, während ausländische Direktinvestitionen in Deutschland zurückgehen.
  5. Andere hingegen sehen dies anders. Sie verweisen darauf, daß die Arbeitsmarktkrise keine Besonderheit der deutschen Wirtschaft sei. Alle entwickelten Industrieländer seien durch dauerhafte Wachstumsverlangsamung und langfristig hohe Arbeitslosigkeit gekennzeichnet. Die internationale Wettbewerbsfähigkeit (West-)Deutschlands sei zugleich außerordentlich hoch. Kein anderes Land exportiere einen so hohen Anteil seiner Produktion. Die Handelsbilanzen mit den südostasiatischen Schwellenländern und den osteuropäischen Reformstaaten seien ausgeglichen, weil diese Länder jede durch Exporte nach Deutschland verdiente Mark wieder für Importe von Industriegütern aus Deutschland ausgeben. Auch die hohen Direktinvestitionen im Ausland seien keine wirkliche Belastung für die deutsche Wirtschaft, denn sie dienten langfristig der Erschließung und Absicherung von Exportmärkten. In dieser Situation seien deshalb die aus der betriebswirtschaftlichen Sicht der Unternehmen naheliegenden nationalen Kostensenkungsstrategien (Lohn- und Lohnnebenkosten, Sozialstandards, Unternehmenssteuern, Umweltstandards) zur weiteren Verbesserung der internationalen Wettbewerbsfähigkeit jedenfalls volkswirtschaftlich gesehen kein Heilmittel. Derartige Strategien würden die ungleiche Verteilung der Einkommen verschärfen und die Lasten der Anpassung durch ruinösen Wettbewerb einseitig den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern aufbürden. Die Kaufkraft würde damit sinken.
  6. Die Globalisierung des Wettbewerbs ist in bestimmten Bereichen in der Tat mit einer erheblichen Reduzierung von Arbeitsplätzen verbunden. Länder mit niedrigem Lohnniveau übernehmen mehr und mehr die Produktion arbeitsintensiver Produkte. Deutschland und andere entwickelte Länder konzentrieren sich mehr auf die Herstellung von Produkten, die einen hohen Kapitaleinsatz und eine hohe berufliche Qualifikation verlangen. Der Bedarf an gering qualifizierten Arbeitsplätzen in Deutschland sinkt, der Bedarf an höher qualifizierten Arbeitsplätzen hingegen steigt. Das hat zur Folge, daß Menschen, die höheren Anforderungen nicht gewachsen sind, schwerer einen Arbeitsplatz finden.
  7. Als Ursache für die Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland spielen hohe Lohnstückkosten eine wichtige Rolle. Beim Übergang von der Plan- in die Marktwirtschaft war die Produktivität in den ostdeutschen Betrieben zu gering, um nach der 1:1-Umstellung der Löhne und den folgenden Tarifabschlüssen, die auf eine zügige Anpassung an das westdeutsche Lohnniveau zielten, wettbewerbsfähig zu sein. Außerdem führten der Zusammenbruch der Comecon-Staaten (RGW), das Interesse der Bevölkerung an Westprodukten und die Einkaufspraxis des Großhandels zu Nachfrageproblemen. Die ungeklärten Eigentumsverhältnisse, die aufgrund des Prinzips »Rückgabe vor Entschädigung« entstanden, sowie der Kauf und die baldige Schließung ostdeutscher Betriebe durch ihre westdeutschen Konkurrenten verschärften und verschärfen die Schwierigkeiten.

2.2 Krise des Sozialstaats

  1. Der Sozialstaat war in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland die entscheidende Voraussetzung dafür, daß der soziale Friede gewahrt werden konnte. Nach wie vor bietet er der großen Mehrheit der Bevölkerung soziale Sicherheit auf einem hohen Niveau. Jedoch stellen grundlegende Veränderungen in der Sozialstruktur, die lang anhaltende Massenarbeitslosigkeit, die demographische Entwicklung und die Situation der öffentlichen Haushalte das System sozialer Sicherung vor große Herausforderungen.

2.2.1 Armut in der Wohlstandsgesellschaft

  1. In den letzten 20 Jahren ist mit dem Reichtum zugleich die Armut in Deutschland gewachsen. Die Armut in Deutschland unterscheidet sich grundlegend von der Armut in den Ländern der Dritten Welt. Dennoch ist die Armut in der Wohlstandsgesellschaft ein Stachel. Armut hat viele Gesichter und viele Ursachen. Sie ist mehr als nur Einkommensarmut. Häufig kommen bei bedürftigen Menschen mehrere Belastungen zusammen, wie etwa geringes Einkommen, ungesicherte und zudem schlechte Wohnverhältnisse, hohe Verschuldung, chronische Erkrankungen, psychische Probleme, langandauernde Arbeitslosigkeit, soziale Ausgrenzung und unzureichende Hilfen. Diese Armutssituationen treffen besonders diejenigen, die mehrere Jahre auf Sozialhilfe angewiesen sind. Eine der schlimmsten Auswirkungen von Armut ist der Verlust der eigenen Wohnung, davon sind in Deutschland immer mehr Menschen, darunter verstärkt Familien mit Kindern, Alleinerziehende, Frauen und Jugendliche betroffen. Verläßliche bundesweite Daten über das gesamte Ausmaß akuter Wohnungsnotfälle, von Wohnungs- und Obdachlosigkeit liegen nicht vor, zumal es darüber keine einheitlichen Maßstäbe und Kriterien gibt. Allein die Zahl der Obdachlosen, die amtlich untergebracht ("ordnungsrechtlich versorgt") sind, wird auf 250.000 bis 300.000 geschätzt.
  2. Armut wird heute immer noch stark tabuisiert. Der Streit über den Armutsbegriff ähnelt dem Streit, wie er Anfang der 70er Jahre über die Umwelt geführt wurde, als Probleme mit dem Hinweis geleugnet wurden, sie ließen sich nicht wissenschaftlich verläßlich nachweisen. Es gilt jedoch, die tatsächlich bestehende Armut zur Kenntnis zu nehmen. Hinter den unterschiedlichen Definitionen von Armut verbergen sich beunruhigende Fakten:
    • die "Einkommensarmut" oder "relative Armut": Legt man die Armutsgrenze bei 50% des durchschnittlichen Haushaltsnettoeinkommens der Bevölkerung fest, wie dies aus pragmatischen Gründen der Vergleichbarkeit international üblich ist, so lebten nach dieser Rechnung in den Jahren 1984 bis 1992 750.000 Menschen ununterbrochen unter der Armutsgrenze, etwa 4,5 Millionen Menschen waren in diesem Zeitraum fünf Jahre oder länger arm. Da die sozialen Ungleichheiten aufgrund der ökonomischen Umbrüche in den neuen Bundesländern sehr schnell entstanden sind, erscheinen sie hier besonders kraß;
    • die "Sozialhilfebedürftigkeit": In Deutschland hat die Sozialhilfe die Aufgabe, allen Menschen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Damit wird ein Mindesteinkommen im Sinne einer individualisierten und bedarfsorientierten Grundsicherung angestrebt. Am Jahresende 1994 bezogen über 2,25 Mio. Bürgerinnen und Bürger Sozialhilfe im engeren Sinn (Hilfe zum Lebensunterhalt). Der Trend hat sich in den letzten Jahren von der Altersarmut zur Kinderarmut verlagert. Die stärksten Zunahmen sind bei den Kindern unter sieben Jahren zu verzeichnen; ihre Zahl ist bis Ende 1994 auf 409.000 gestiegen. Das überdurchschnittliche Armutsrisiko von Kindern ist besonders deshalb so besorgniserregend, weil es sich leicht zu dauerhaften Benachteiligungen verfestigt. Seit dem Jahr 1992 ist außerdem wieder ein stärkerer Anstieg deutscher Sozialhilfeempfänger zu beobachten;
    • die "verdeckte Armut": Viele Bürgerinnen und Bürger leben in sog. verdeckter Armut, d. h. sie hätten eigentlich einen Sozialhilfeanspruch, nehmen diesen jedoch aus Scham, Unwissenheit oder großer Scheu vor Behörden nicht wahr. Zu ihnen zählen viele kinderreiche Familien mit nur einem Erwerbseinkommen. Nach der Armutsuntersuchung des Deutschen Caritasverbandes kommen auf vier Sozialhilfebezieher noch einmal drei verdeckt arme Menschen. Dies waren 1993 rund 1,8 Mio. Bürgerinnen und Bürger. Damit erhält nur knapp über die Hälfte der Sozialhilfeberechtigten tatsächlich entsprechende Leistungen.
  3. Entscheidend ist, nicht beim Streit über den Begriff der Armut stehen zu bleiben und Armut nicht auf den Einkommensaspekt einzuengen. Es geht darum, die betroffenen Menschen sowie das Faktum Armut in der Wohlstandsgesellschaft zu sehen und die Notwendigkeit zu erkennen, sich für eine Verbesserung der Situation einzusetzen.

2.2.2 Benachteiligung der Familien

  1. (70) Eltern erfahren ihr Zusammenleben mit Kindern als große Bereicherung ihres Lebens. Um ihrer Kinder willen nehmen sie viele Einschränkungen in Kauf. Aber die gesellschaftlichen Verhältnisse haben sich in den letzten Jahrzehnten so verändert, daß Eltern im Vergleich zu den Kinderlosen immer größere wirtschaftliche und persönliche Verzichte abgefordert werden und auch die Tragfähigkeit der familialen Beziehungen immer häufiger überlastet wird. Die wirtschaftliche Belastung von Familien mit Kindern kann dazu führen, daß sie weniger Kinder bekommen, als sie sich eigentlich wünschen. Die zunehmende Zahl von Kinderlosen in der Bundesrepublik Deutschland offenbart darüber hinaus, daß sich die Einstellung zu Kindern verändert hat.
  2. (71) Statistische Erhebungen zeigen, daß der Lebensstandard einer Familie mit zwei Kindern erheblich unter dem eines entsprechenden kinderlosen Ehepaares liegt. Die Maßnahmen des Familienlastenausgleichs vermögen im Durchschnitt nicht einmal die unmittelbaren durch Kinder bedingten Aufwendungen, geschweige denn das durch den Rückgang der Erwerbsbeteiligung sinkende Haushaltseinkommen auszugleichen. Mehrere Kinder zu haben ist heute zu einem Armutsrisiko geworden. Schwerer noch als die finanziellen Einschränkungen wiegen jedoch für junge Familien andere Benachteiligungen: Sie suchen für Kinder geeigneten Wohnraum und erleben, sofern sie ihn überhaupt bezahlen können, daß ihnen Kinderlose vorgezogen werden. Mehrkinderfamilien sind hier sogar extrem benachteiligt. Sie erfahren Benachteiligungen auf dem Arbeitsmarkt, da sie in räumlicher und zeitlicher Hinsicht weniger flexibel sind. Auch der fortlaufende Verlust an gemeinsamer Zeit (etwa durch Schichtarbeit oder Sonntagsarbeit) trifft die Familien. Besondere Belastungen treten infolge von Arbeitslosigkeit und Überschuldung auf. Gegen die Wahrnehmung von Elternverantwortung verhalten sich Wirtschaft, Staat und soziale Dienste zwar nicht ablehnend, aber vielfach indifferent, d. h. sie behandeln Eltern und Kinderlose grundsätzlich gleich. Daraus resultiert eine strukturelle Benachteiligung der Familien. Deutschland gehört zu den Ländern Europas mit der geringsten Geburtenrate und dem größten Anteil an Einpersonenhaushalten.

2.2.3 Finanzielle Belastungen des sozialen Sicherungssystems

  1. Eine wesentliche Ursache der Finanzierungsschwierigkeiten der Sozialhaushalte ist die hohe Arbeitslosigkeit. Durch die Massenarbeitslosigkeit gehen den Sozialversicherungen erhebliche Beitragseinnahmen und den öffentlichen Haushalten entsprechende Lohnsteuereinnahmen verloren, während andererseits die Ausgaben der Arbeitslosen- und der Rentenversicherung steigen. Geringere Einnahmen und steigende Ausgaben führen zu Beitragserhöhungen, die wiederum als Anstieg der Lohnnebenkosten die Beschäftigung beeinträchtigen können.
  2. Zur Höhe der Lohnnebenkosten trägt wesentlich bei, daß die Kassen der Sozialversicherungsträger (Rentenversicherung, Gesetzliche Krankenversicherung, Arbeitslosenversicherung u. a.) durch Aufwendungen für die Finanzierung der deutschen Einheit und für die aktive Arbeitsmarktpolitik erheblich belastet werden. Diese Leistungen sind eigentlich Aufgaben des Staates, sie wurden aber den Sozialversicherungen übertragen. Weil die Finanzierung dieser sog. "versicherungsfremden Leistungen" durch Zuschüsse des Bundes nicht abgedeckt wird, mußten die Beitragssätze zu den Sozialversicherungen mehrfach angehoben werden. Hinzu kommt, daß von den Möglichkeiten der Frühverrentung exzessiv Gebrauch gemacht wurde, um den Arbeitsmarkt zu entlasten.
  3. Die Sozialleistungsquote ist nicht zuletzt deshalb so hoch - sie liegt bei etwa einem Drittel des Bruttosozialprodukts -, weil sie in den neuen Ländern aus Gründen des wirtschaftlichen Strukturwandels gegenwärtig rund 60% beträgt. In den alten Ländern dagegen ist sie so niedrig wie seit Jahren nicht mehr.
  4. Schwierigkeiten für die Finanzierung der sozialen Sicherungssysteme in Deutschland ergeben sich weiterhin daraus, daß sich ihre ursprünglichen Voraussetzungen in den letzten Jahrzehnten grundlegend geändert haben. Zum einen orientieren sich die Lebensentwürfe jüngerer Frauen ganz überwiegend zugleich an Erwerbsarbeit und Familie, und die Frauenerwerbstätigkeit hat insbesondere mit dem Wachstum der Büro- und Dienstleistungstätigkeiten stark zugenommen. Gleichzeitig sind jedoch die Familienbindungen instabiler geworden. Der Anteil der Alleinerziehenden nimmt dementsprechend zu. Zudem bewirken die Verknappung des Angebots an Erwerbsarbeit und die Veränderung der Beschäftigungsstrukturen eine Zunahme der Teilzeitbeschäftigungen mit wenig gesicherten Beschäftigungsverhältnissen. Damit steigt der Anteil derjenigen, deren Lebensläufe nicht den Normalitätsannahmen des sozialen Sicherungssystems entsprechen und die infolgedessen eher von Armut bedroht und auf Sozialhilfe angewiesen sind.
  5. Hauptursachen des Anstiegs der Sozialhilfeausgaben sind Massenarbeitslosigkeit, Kürzungen bei den Sozialversicherungsleistungen, unzulängliche Familienförderung und die Aufwendungen für Asylbewerber und Zuwanderer. Offenbar wurden und werden die der Sozialhilfe vorgelagerten Sicherungssysteme ihren Anforderungen nicht mehr gerecht. Die Sozialhilfe als letztes Auffangnetz im System sozialer Sicherung wurde in den letzten Jahren dadurch belastet, daß sie mehr und mehr zu einer Regelversorgung für einen wachsenden Teil der Gesellschaft geworden ist.
  6. Über die aktuellen Finanzierungsschwierigkeiten hinaus stellt die Bevölkerungsentwicklung das System der sozialen Sicherung vor zusätzliche Herausforderungen. Eine anhaltend niedrige Geburtenrate und eine deutlich gestiegene durchschnittliche Lebenserwartung führen zu einem zunehmenden Anteil älterer Menschen auf der einen und einem stagnierenden und zukünftig abnehmenden Anteil der erwerbstätigen Generation sowie von Kindern und Jugendlichen auf der anderen Seite. Dies hat nicht nur für die Rentenversicherung, sondern auch für die Krankenversicherung und für den Bereich der Altenpflege erhebliche Auswirkungen. Eine Verschlechterung des zahlenmäßigen Verhältnisses zwischen der Zahl der Rentenempfänger und der Zahl der Beitragszahler muß (bei unveränderten Leistungen) zu höheren Beitragssätzen oder (bei unveränderten Beiträgen) zu einer deutlichen Verringerung der Höhe der Renten führen. Ähnliche Probleme entstehen auch für die Finanzierung der Beamtenversorgung.

2.3 Ökologische Krise

  1. Die ökologische Krise ist ein weltweites Problem. Deutschland trägt an diesen weltweiten Problemen mit. Die Industrialisierung hat zu einer wachsenden Überforderung der Tragekapazitäten der Ökosysteme geführt. Obwohl in manchen Branchen bereits ein recht hohes Niveau des technischen Umweltschutzes erreicht ist, wird die Regenerationsfähigkeit der Natur oftmals überbelastet; viele Gefährdungen, Schädigungen und Belastungen nehmen weiterhin zu.
  2. Zu den gravierendsten Umweltschäden gehören die Übernutzung und Vernichtung erneuerbarer Ressourcen, die Belastung von Luft, Wasser und Boden, die Ausrottung zahlreicher Pflanzen- und Tierarten, der Raubbau an nicht erneuerbaren Ressourcen, die Zerstörung und Verödung von Landschaften und Regionen, das hohe Abfallaufkommen sowie das ungeklärte Problem der atomaren Endlagerung. Zu den Problemen, auf die bisher nicht in der notwendigen Weise reagiert wurde, zählen vor allem der Abbau der Ozonschicht und die Erwärmung der Erdatmosphäre. Diese klimatischen Umweltgefährdungen stellen aufgrund ihres globalen Charakters sowie ihrer schwer kalkulierbaren Folgen für die ökologischen Kreisläufe eine qualitativ neuartige und existentielle Herausforderung für die moderne Zivilisation dar. Viele Bemühungen um Verbesserung scheitern an nationalstaatlichem Egoismus und an der Kurzsichtigkeit betroffener Branchen. Die Fakten sind kaum noch umstritten. Auch an politischen Absichtserklärungen fehlt es nicht. Dennoch gelingt es nur mühsam, diese Einsichten in konkrete Maßnahmen umzusetzen und sie für die ökologische Kooperation der Staaten zu nutzen.
  3. Insbesondere die Industriegesellschaften nehmen eine Entwicklung, die an die Grenzen der Tragekapazität wichtiger ökologischer Systeme stößt. Durch den rapiden Verbrauch der natürlichen Lebensgrundlagen werden die Lebenschancen der Menschen in den Ländern des Südens und der künftigen Generationen in erheblichem Maß beeinträchtigt. Wenn es nicht gelingt, die Ausbeutung der Natur wirksam einzuschränken, wird der Nachwelt eine Hypothek hinterlassen, die sie kaum mehr abtragen kann. Nachsorgender Umweltschutz wird immer schwerer finanzierbar, viele gravierende Schädigungen der Lebensgrundlagen erweisen sich als irreversibel. Je mehr also nötige Umweltschutzmaßnahmen versäumt werden, desto mehr ist zu befürchten, daß auch künftig lediglich die gröbsten Schäden beseitigt werden können und damit die langfristigen Belastungen für andere Länder und künftige Generationen weiter ansteigen. Trotz der mittlerweile enorm verbesserten Möglichkeiten für einen effektiven und schonenden Umgang mit den Ressourcen sowie für eine Reduktion des Schadstoffausstoßes wachsen die Umweltschäden weiter an. Ein Wohlstandsgewinn durch nur quantitatives Wirtschaftswachstum wird in Westeuropa somit immer fragwürdiger.
  4. In ökologischer Hinsicht gewinnt vor diesem Hintergrund der Beitrag, den die Land- und Forstwirtschaft über die Versorgung mit hochwertigen Produkten hinaus zur Sicherung und Verbesserung der natürlichen Lebensgrundlagen und zur Erhaltung einer vielfältigen Landschaft als Siedlungs-, Wirtschafts- und Erholungsraum leistet, ein besonderes Gewicht. Die überkommenen, bewährten Prinzipien bäuerlichen Wirtschaftens sind auf eine umweltverträgliche und nachhaltige Bodennutzung und Tierhaltung ausgerichtet. Um so bedauerlicher ist, daß weder die Reform der gemeinsamen europäischen Agrarpolitik noch nationalstaatliche Programme verhindern konnten, daß immer weniger Landwirte in der Landwirtschaft eine auskömmliche Existenz finden und eine Zukunftsperspektive sehen. Zahlreiche Bauern haben ihre Landwirtschaft bereits aufgeben müssen. Andere fürchten um ihre berufliche Existenz oder - wenn eine Übergabe nicht möglich ist - um das Fortbestehen ihres Hofes. Die Schwierigkeiten greifen auch auf andere Bereiche und Berufe des ländlichen Raums wie Handwerk, Handel und Dienstleistungen über. Das traditionelle Bild der Landwirtschaft in der Kulturgemeinschaft des Dorfes verliert damit an prägender Kraft. Der fortschreitende Wandel von einer bäuerlich geprägten Landwirtschaft zur Agrarindustrie schreitet weiter fort.

2.4 Europäischer Integrationsprozeß

  1. Die Politik der europäischen Einigung ist für den Kontinent und für die Zukunft Deutschlands von entscheidender Bedeutung. 50 Jahre Frieden und Stabilität in Westeuropa, der Wiederaufstieg der europäischen Länder nach dem Zweiten Weltkrieg, die friedliche Einbeziehung Deutschlands in die Völkergemeinschaft sowie die Wiederherstellung der deutschen Einheit im Einklang mit den europäischen Partnern wären ohne die europäische Integration nicht möglich gewesen. Auch in Zukunft muß das Einigungswerk fortgesetzt werden, um in Europa Frieden und Stabilität sowie den wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt zu sichern. Das historische Werk der europäischen Einigung darf keinesfalls auf den wirtschaftlichen Aspekt verkürzt werden. Die Fundamente für dieses Einigungswerk wurzeln sehr viel tiefer: in jahrhundertealter, gemeinsamer, christlich geprägter Geschichte und Überlieferung, und damit in dem Bewußtsein der Europäer, daß sie eine Wertegemeinschaft sind, aus der sich gemeinsame politische Orientierungen, Normen und Institutionen wie Demokratie, Rechtsstaat und moderner Sozialstaat entwickelt haben. Aufbauend auf diesen gemeinsamen Werten ist die Europäische Union als Rechtsgemeinschaft entstanden, die in viele Lebensbereiche hinein Wirkungen entfaltet.
  2. Auf dem Hintergrund des Prozesses der Globalisierung erhält die europäische Integration zusätzliches Gewicht. Der europäische Einigungsprozeß, insbesondere die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion, steht für die Einsicht, daß eine Wirtschafts- und Sozialpolitik, die nicht von den internationalen Märkten abhängig sein will, übergreifender Entscheidungs- und Koordinationsinstanzen bedarf. Die Institutionen und Instrumente, wie sie innerhalb der Europäischen Union entstanden sind und fortentwickelt werden müssen, eröffnen Möglichkeiten, um eine gemeinsame europäische Wirtschafts- und Sozialpolitik weiter auszubauen.

2.5 Globale Herausforderungen

  1. Der Prozeß der fortschreitenden Globalisierung basiert auf der weltweiten Integration von Märkten sowie dem Abbau von Handelsschranken und Mobilitätsbarrieren. Er wäre nicht möglich ohne die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien. Globalisierung bedeutet: weltweite Öffnung der Märkte für Waren und Dienstleistungen, zunehmende Freizügigkeit für unternehmerisches Handeln und weltweite Verfügbarkeit technischen Wissens und Könnens sowie qualifizierter Arbeitskräfte. Hinzu kommt eine wachsende Mobilität des Kapitals. Zunehmend werden finanzielle Mittel nicht im eigenen Land reinvestiert, sondern auf den internationalen Kapitalmärkten angelegt, so daß sie für Investitionen und die Schaffung von Arbeitsplätzen im eigenen Land nicht verfügbar und der Aufgabe, im nationalen Rahmen Arbeitsplätze zu schaffen und zu erhalten, entzogen sind. Mehr und mehr verselbständigt sich damit der Kapitalverkehr.
  2. Die Globalisierung führt damit nicht nur dazu, daß die Güter-, Finanz- und Arbeitsmärkte die Grenzen der Nationalstaaten immer häufiger überschreiten, sondern hat auch zur Folge, daß die Produktions- und Investitionsentscheidungen in wachsendem Maße den Standort in mehreren Ländern betreffen. Arbeitsprozesse oder Wertschöpfungsanteile werden kostenminimierend auf verschiedene Länder verteilt. Einfache Produktionen sind dort zu finden, wo die Löhne niedrig sind, geforscht wird in den Ländern, in denen es kaum gesetzliche Beschränkungen gibt, Gewinne werden dort ausgewiesen, wo die Steuersätze besonders gering oder die Abschreibungsregeln besonders großzügig sind.
  3. Im Zuge der Globalisierung hat sich der Wettbewerb erheblich verschärft. Die Schwellenländer Mittel- und Osteuropas, Südostasiens und Lateinamerikas verlangen mit ihren Produkten Zugang zu den Märkten der Industrienationen und empfehlen sich gleichzeitig als Standorte für neue Investitionen. Die Löhne in den östlichen Nachbarländern Deutschlands liegen bei den derzeitigen Wechselkursen zum Teil bei einem Zehntel (Tschechien und Polen) der Löhne in Deutschland, zum Teil sogar bei einem Hundertstel (Ukraine und Rußland).
  4. Die Globalisierung birgt Chancen und Risiken. Der deutschen Wirtschaft eröffnet sie seit langem ausgiebig genutzte Möglichkeiten, an den rasch wachsenden weltweiten Märkten teilzunehmen. Viele Länder des Südens und des Ostens haben Zugang zu den Märkten in den Industrieländern erhalten. Unter der Voraussetzung, daß der Welthandel nicht durch protektionistische Bestrebungen der Industrieländer weiter verzerrt wird, ist dieser Marktzugang sogar wichtiger als Entwicklungshilfe. In einer Reihe von Ländern, z. B. in Asien und Lateinamerika, wurde ein wirtschaftlicher Aufschwung erzielt, der auch großen Teilen der Bevölkerung dieser Länder, jedoch nicht allen in gleicher Weise zugute kam. Der neue Wohlstand führt dort auch zu mehr sozialer Sicherung. Andererseits nimmt die Polarisierung zwischen den dynamischen Wachstumszentren und den Regionen, die den Anschluß an diese Entwicklung verlieren, zu.
  5. Nationalstaatliche Wirtschafts- und Sozialpolitik wird im Zeitalter der Globalisierung schwieriger. Weil bei den Standortentscheidungen die Vorteile der verschiedenen Nationalstaaten miteinander verglichen werden, stößt die herkömmliche nationalstaatliche Wirtschaftspolitik an Grenzen. Der Prozeß der Globalisierung ist von einer so starken Eigendynamik, daß er von einem einzelnen Nationalstaat immer schwerer beeinflußt werden kann. Die Globalisierung der Wirtschaft bedeutet gleichzeitig die Globalisierung der sozialen und der ökologischen Frage. Damit wächst die Bedeutung einer gemeinsamen Verantwortung der Völkergemeinschaft. Globalisierung ereignet sich nicht wie eine Naturgewalt, sie verlangt nach politischer Gestaltung.
  6. Das Wohlstandsgefälle zwischen den ärmsten und den reichen Ländern hat weiter zugenommen. In einigen Entwicklungsländern verhindern oder bremsen korrupte Eliten, ethnische Konflikte und geringe Partizipationsmöglichkeiten der Bevölkerung die wirtschaftliche und politische Entwicklung. Neben diesen internen stehen die externen Faktoren, die die politisch und wirtschaftlich Verantwortlichen in den Industrieländern beeinflussen können. Dazu gehören der Agrarprotektionismus der Industrieländer, eine nur schleppend vorankommende Entschuldung und Entscheidungen und Absprachen internationaler Organisationen (z. B. Internationaler Währungsfonds, Weltbank, UNO-Sicherheitsrat).
  7. Kriege, Gewalt, Menschenrechtsverletzungen, Naturkatastrophen, Elend und Hunger zwingen weltweit immer mehr Menschen zum Verlassen ihrer Heimatländer. Die schnelle Zunahme und das Ausmaß von Migration, Flucht und Vertreibung in aller Welt sind zu einem der prägenden Merkmale der letzten Jahrzehnte des zwanzigsten Jahrhunderts geworden. Dies läßt auch Deutschland nicht unberührt. Die Migranten, die als Arbeitnehmer, Flüchtlinge und Asylbewerber oder auch als Aussiedler nach Deutschland kommen, sind nur ein kleiner Teil der weltweiten Wanderungsbewegung. Derzeit leben in Deutschland fast 8 Mio. Ausländer, davon 5,5 Mio. Arbeitsmigranten mit ihren Familien. Viele von ihnen sind rechtlich und gesellschaftlich noch nicht integriert, obwohl sie vielfach bereits in der zweiten und dritten Generation in Deutschland leben. Der Umgang mit ihnen ist ein Bewährungsfeld für die Offenheit, Solidarität, Toleranz und Freiheitlichkeit der Gesellschaft [7].

Anmerkungen

  1. Zu den Herausforderungen durch Flucht und Migration ist ein eigenständiges Wort der Kirchen in Vorbereitung, das demnächst erscheinen soll.
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