Glaube und Macht - Aktuelle Dimensionen eines spannenden Themas, Vortrag in Wittenberg

Wolfgang Huber

I.

„Glaube und Macht“: so lautet nicht nur der Titel der zweiten sächsischen Landesausstellung, die derzeit im benachbarten Torgau stattfindet. „Glaube und Macht“: dieses Thema haben Sie mir auch für den heutigen Vortrag gestellt. In Wittenberg fällt es nicht schwer, die damit gestellte Frage zu beantworten. „Fürchte Gott, ehre die Obrigkeit und sei nicht unter den Aufrührern“ steht über der Eingangstür zum Alten Rathaus dieser Stadt. Darin sah man eine bündige Zusammenfassung von Luthers Antwort auf diese Frage. Mit dieser Antwort könnte deshalb mein Vortrag an ein frühes Ende kommen.

Jedoch ist nicht zu verkennen: Heute ist dieses Thema von einer schwer zu überbietenden Aktualität. Glaube und Macht oder allgemeiner: Religion und Macht ist zu einem der Großthemen für das beginnende 21. Jahrhundert geworden. Auf der weltpolitischen Bühne treten Verbindungen zwischen Religion und politischer Machtausübung auf, die man aus einer europäischen oder genauer: einer europazentrischen Perspektive als längst überwunden angesehen hatte. Die islamistische Verbindung zwischen Religion und Macht ist dafür ebenso ein Beispiel wie der wieder erstarkte Hindunationalismus in Indien. Die neue Nähe zwischen Religion und Politik, die sich in Amerika unbeschadet des von der Verfassung vorgesehenen „wall of separation“ entwickelt hat, weist ebenso in diese Richtung wie die neue Nähe zwischen Kirche und Staat in manchen orthodox geprägten Ländern. „Glaube und Macht“ ist nicht nur ein europäisches Thema; und die Frage danach, wie dieses Verhältnis bestimmt und geordnet werden kann, stellt sich nicht nur im Horizont des christlichen Glaubens. Wir sind dazu herausgefordert, kritisch zu prüfen, inwieweit die europäische Entwicklung zu einem auf Dauer tragfähigen Modell geführt hat, und ob wir dieses Modell auch für andere als verbindlich ansehen können. Lässt sich der Verzicht der Religion darauf, sich mit den Mitteln staatlichen Zwangs Anerkennung zu verschaffen, mitsamt der dazu gehörigen Vorstellung vom säkularen Charakter der staatlichen Ordnung auch für andere religiöse Traditionen als verpflichtend zur Geltung bringen? Taugt die Zusammengehörigkeit von Demokratie, Religionsfreiheit und säkularem Staat als Modell? Ist sie womöglich sogar eine unentbehrliche Voraussetzung für den Frieden zwischen den Religionen wie auch für den Frieden zwischen den Staaten?

Die Inanspruchnahme von Religion zur Legitimierung von tötender Gewalt hat diese Frage noch einmal verschärft. Wir kennen diese Inanspruchnahme auch aus der europäischen Tradition. Kein Nachdenken über das Verhältnis von Glaube und Macht kommt an einer Stellungnahme zur gedanklichen Figur des gerechten Krieges vorbei. Die Kirchen in Europa haben sich zu einer allmählichen Distanzierung von dieser Denkfigur durchgerungen. Sie halten heute eher den „gerechten Frieden“ als den „gerechten Krieg“ für einen Leitgedanken der politischen Ethik. Doch in den USA beispielsweise ist unter Christen eine Denkweise im Vordringen, die den Einsatz militärischer Gewalt – auch in Gestalt eines preemptive strike – mit der Lehre vom gerechten Krieg begründen möchte. Zuletzt hat sich dies in der Auseinandersetzung um den Irakkrieg gezeigt. Aber wir werden noch einmal in ein ganz anderes Feld versetzt, wenn wir uns damit konfrontiert sehen, dass Selbstmordattentate oder terroristische Gewaltanwendung mit religiösen Motiven begründet und gerechtfertigt werden. Immer deutlicher spüren wir, dass es einen interreligiösen Dialog ohne eine offene Auseinandersetzung mit solchen Entwicklungen nicht mehr geben kann.

Hatten die Planer diese Aktualität im Sinn, als sie die diesjährige sächsische Landesausstellung dem Thema „Glaube und Macht“ widmeten? Mit der Zuwendung zur Reformation unter diesem Gesichtspunkt wird ohne Zweifel ein besonders aktueller Aspekt der reformatorischen Entwicklung ins Licht gerückt. Auf dem Weg der Unterscheidung zwischen weltlicher und geistlicher Gewalt hat die Reformation entscheidende Schritte vollzogen. Doch auf der Grundlage einer klaren Unterscheidung ist es zugleich zu neuen Verbindungen gekommen: zur Förderung der reformatorischen Sache durch die Landesfürsten ebenso wie zu politischen Ratschlägen aus der Perspektive des christlichen Glaubens. Das charakteristischste Bild dieser Ausstellung ist vielleicht gar nicht das so in den Vordergrund gerückte große Gemälde Lucas Cranach d.Ä., das dem Gottesurteil zwischen Elia und den Baalspriestern gewidmet ist. Charakteristischer ist vielleicht das kleine Blatt von Lucas Cranach d.J. aus der Albertina in Wien, das die Taufe Jesu durch Johannes den Täufer zeigt. Jesus wird in Verbindung mit Gott dem Vater und dem Heiligen Geist gezeigt; so tritt die Trinitätslehre ins Bild. Rechts und links von der Taufgruppe aber sieht man Johann Friedrich den Großmütigen und Martin Luther, jeweils kniend und der göttlichen Dreieinigkeit zugewandt. Dass weltliches wie geistliches Regiment der Macht Gottes untergeordnet sind, hat – bei aller Unterschiedenheit dieser beiden Regimente – zur Folge, dass sie einander auch zugeordnet sind: Das weltliche Regiment hat die Aufgabe, dem Evangelium Raum zu geben. Das geistliche Regiment hat die Aufgabe, den Inhabern des weltlichen Regiments das Evangelium zu predigen und den Rat zu geben, der sich daraus ergibt.

Freilich ist die Unterscheidung zwischen Glauben und Macht in der Geschichte des Christentums weit älter. Sie geht auch keineswegs nur auf die zwei Bürgerschaften Augustins oder die zwei Schwerter des Gelasius zurück.  Sie findet sich in Jesu Wort vom Zinsgroschen ebenso vorgezeichnet – „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist“ (Markus 12,16) – wie in der Weisung, die Jesus seinen Jüngern hinsichtlich der Machtfrage gibt. Den Streit seiner Jünger darüber, wer denn unter ihnen der Größte, sprich: der Mächtigste ist, schlichtet Jesus mit dem Satz: „Ihr wisst, dass die Herrscher ihre Völker niederhalten und die Mächtigen ihnen Gewalt antun. So soll es nicht sein unter euch“ (Matthäus 20,26).

„So soll es nicht sein unter euch.“ Nach diesem Wort Jesu sind Macht und Glaube durch Welten voneinander getrennt. Wo Macht ist, lauert ihr Missbrauch um die Ecke. Die Mächtigen missbrauchen ihre Macht, wenden Gewalt an, unterdrücken die, die keine Macht haben. Der Glaube aber steht auf der Seite der Machtlosen, der Ohnmächtigen. Zu denen ohne Macht gehören auch die Jünger und Jüngerinnen Jesu.

Die Folgerung liegt nahe, dass dies auch für die christliche Existenz heute zu gelten hat: „So soll es nicht sein unter euch.“  Dann wäre mein Vortrag erneut an einer frühen Stelle bereits an seinem Ende angelangt. Wenn euch der Glaube wichtig ist, lasst die Finger von der Macht. Denn: „So soll es nicht sein unter euch.“

Doch so einfach ist es nicht. Weder mit dem Glauben noch mit der Macht. Denn diese beiden Begriffe oder genauer: diese beiden Wirklichkeiten unseres Lebens haben durchaus ein Verhältnis zueinander, das über die rein negative Abgrenzung hinausgeht. Ein spannendes Verhältnis ist dies im doppelten Sinne. Zum einen ist dieses Verhältnis spannungsvoll: da gibt es Spannungen, Reibungen, Konflikte. Zum anderen ist dieses Thema reizvoll und interessant; auf diese Weise füllt sich auch der etwas allgemein gehaltene Untertitel meines Vortrags.

Für meine weiteren Überlegungen wähle ich den Begriff der Macht zum Ausgangspunkt. Gewiss wäre vom Glauben mindestens ebenso intensiv zu sprechen. Schon die Definition der Begriffe ist im einen wie im andern Fall umstritten. Doch heute will ich fragen, was Macht aus der Sicht des Glaubens bedeutet und aus welchen Gründen eine theologische Reflexion bei der einfachen Entgegensetzung von Glaube und Macht nicht stehen bleiben kann. Exemplarisch will ich der Frage nachgehen, wie die Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden mit der Macht umgegangen ist. Es liegt nahe, die Reformation des 16. Jahrhunderts und die Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts dabei als Beispiele heranzuziehen. Unausweichlich stellt sich aber auch die Frage, wie wir heute mit dem Verhältnis von Glaube und Macht umgehen. So wird dieser Vortrag zum Schluss zu aktuellen Aspekten des Themas zurückkehren.

II.

Gesine Schwan hat vor einigen Jahren in einem Vortrag vor dem Theologischen Ausschuss der Evangelischen Kirche der Union auf die Schwierigkeiten im Umgang mit dem Begriff der Macht hingewiesen. „Die Aufgabe, so zentrale Kategorien wie Herrschaft, Macht und Institution darzulegen und zu erörtern, kann in die Resignation treiben. Zu vielfältig sind ihre Dimensionen und Deutungen, als dass man mit einiger Sicherheit auch nur das Feld möglicher Interpretationen und Kritiken abstecken könnte.“ Man könnte also resignieren – aber man muss es nicht. Und auch Gesine Schwan hat in jenem Vortrag nicht resigniert:„Man muss wohl mit dem Mut zur Auslassung eine Schneise schlagen.“ Das will ich auch versuchen.

Fast jede aktuelle Definition von Macht knüpft an Max Weber an. Dieser große Soziologe hat nun bald vor einem Jahrhundert in seinem „Grundriss einer verstehenden Soziologie“, dem er den Titel „Wirtschaft und Gesellschaft“ gab, die weit verbreitete und klassisch gewordene Definition vorgeschlagen: „Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht.“  Ralf Dahrendorf hat, hier der Weberschen Definition folgend, erläuternd hinzugefügt: „Macht ist also ein sozial willkürliches Verhältnis zwischen Menschen, auch Menschengruppen; Herrschaft begründet dagegen ein in verlässlichen Erwartungen verfestigtes, organisiertes Verhältnis. Der Werkmeister, der den ihm Unterstellten Arbeitsanweisungen gibt, übt Herrschaft aus; verlangt er dagegen erfolgreich, dass sie ihm sein Motorrad reparieren oder Bier holen, so übt er Macht aus.“

Durch diese Definition von Macht und Herrschaft sind beide Begriffe zwar durchaus voneinander abgehoben, aber wohl kaum sorgfältig genug voneinander unterschieden. Denn diese Definition geht von einem ausschließlich konfliktorientierten Begriff der Macht aus. „Diese Definition des Machtbegriffs vom Konflikt her lässt unberücksichtigt, dass alltägliches Handeln auch unabhängig von allen Konfliktsituationen auf Macht angewiesen ist. In diesem umfassenderen Sinn bezeichnet Macht das menschliche Vermögen, selbst gesetzte Ziele zu verwirklichen und die dafür notwendigen Mittel zu entwickeln, bereitzustellen und einzusetzen. In dieser Perspektive ist nicht nur die Fähigkeit, die eigenen Ziele gegen das Widerstreben anderer durchzusetzen, sondern ebenso die Fähigkeit, mit anderen ein Einverständnis über Ziele zu erreichen und im Blick auf diese Ziele zu kooperieren, ein Ausdruck von Macht.“  Solche Macht gehört zum Personsein des Menschen hinzu, der immer unter den jeweiligen konkreten Bedingungen seines Lebens und seiner Welt aus den ihm gegebenen Möglichkeiten bestimmte Möglichkeiten auswählt und realisiert. Darin unterscheidet sich menschliche Macht von der Allmacht Gottes, der in seinem schöpferischen Sein aus allem überhaupt Möglichen bestimmte Möglichkeiten wählt.  Nur wenn der Begriff der Macht in diesem Sinn als Gegenstand verantwortlicher Wahl des Menschen verstanden wird, der in einem dem Menschsein entsprechenden, aber auch widersprechenden Sinn gebraucht werden kann, wird er zu einem Gegenstand ethischer Überlegung. Erst dann hat auch die Frage nach dem Verhältnis von Glaube und Macht einen ernsthaften Sinn. Auch von der Kirche als der Gemeinschaft der Glaubenden kann und muss dann freilich gesagt werden, dass sie Macht haben und diese bestimmungsgemäß gebrauchen oder auch missbrauchen kann. Erst aus einer solchen Perspektive kann der Glaube ein kritisch-konstruktives Verhältnis zur Macht entwickeln.

Macht ist nicht in sich schlecht oder böse; sie kann nicht vollständig von ihrem Missbrauch aus definiert werden. Vielmehr gilt: Zwar kann der Missbrauch von Macht das menschliche Leben misslingen lassen; aber ohne Macht kann dieses Leben – aufs Ganze gesehen – auch nicht gelingen.

III.

Und so hat es auch schon Martin Luther festgehalten: „Potentiam in terra esse, non est per se malum.“ Das Vorhandensein von Macht gehört zu den Bedingungen der Welt, in der die Glaubenden leben. Insofern hat Luther die Macht nie als an sich schlecht ansehen können oder behauptet, sie sei aus der Perspektive des Glaubens schlechterdings zu verwerfen. Die Notwendigkeit der Ausübung von Macht hat er vielmehr auch für den Fall anerkannt, dass ein Fürst nicht der weise und gerechte Machthaber ist, wie es eigentlich zu wünschen oder zu erwarten ist. In seiner Schrift „Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei“ hat er 1523 dies mit der ihm eigenen markigen Sprache so ausgedrückt: „Die Welt ist zu böse und nicht wert, dass sie viele kluge und fromme Fürsten haben sollte. Frösche müssen Störche haben.“

Er hat aber damit den Gebrauch der Macht keineswegs schrankenlos gerechtfertigt. Das macht schon der Titel der genannten Schrift deutlich. Er lautet ja nicht, wie man angesichts späterer Auswüchse eines lutherischen Obrigkeitsgehorsams denken könnte: „Von weltlicher Obrigkeit, dass man ihr Gehorsam schuldig sei“, sondern eben: „Von weltlicher Obrigkeit, wie weit man ihr Gehorsam schuldig sei“. Die Grenzen des Gehorsams gegenüber den Mächtigen sieht Luther durch zwei Bibelworte markiert: durch das schon zitierte Zinsgroschenwort „Gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist.“ (Matthäus 22,21) sowie durch die clausula Petri: „Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen“ (Apostelgeschichte 5,29). Diese biblische Orientierung schließt die Anerkennung weltlicher Machtstrukturen ein, bedeutet aber zugleich eine eindeutige Absage an jeden unbeschränkten irdischen Herrschaftsanspruch. Das weltliche Regiment ist nach Luther notwendig, um Frieden und Ordnung in einer unerlösten Welt zu bewahren. Seine Aufgabe ist es, „dem Bösen zu wehren, dass sie äußerlich Frieden halten und still sein müssen, ob sie wollen oder nicht.“ Frösche müssen Störche haben.

Den Glauben aber und alles, was damit zu tun hat, sah Luther dem Geltungsbereich der weltlichen Macht entzogen: „Zum Glauben kann und soll man niemanden zwingen.“ Hier ist der Grundsatz des Augsburgischen Bekenntnisses, nach welchem die Weitergabe des Glaubens „ohne Gewalt, allein durch das Wort“ erfolgen soll, bereits vorgezeichnet. Auch im Blick auf Irrglauben und Ketzerei hält Luther daran fest, dass sie sich niemals mit Gewalt abwehren lassen. „Es gehört ein anderer Griff dazu, und es ist hier ein anderer Streit und Handel als mit dem Schwert. Gottes Wort soll hier streiten; wenn’s das nicht ausrichtet, so wird’s wohl unausgerichtet bleiben von weltlicher Gewalt, und wenn sie gleich die Welt mit Blute füllte.“ Zugleich hält Luther die Christen für berechtigt, sich allen Befehlen der weltlichen Herren zu widersetzen, die in den Bereich des Glaubens hineinreichen.

Veranlasst war diese Klarstellung bekanntlich durch das Verbot der bayerischen Herzöge, des Kurfürsten von Brandenburg und des Herzogs Georg von Sachsen, Luthers Übersetzung des Neuen Testaments zu kaufen oder zu verkaufen. In seinem Widerspruch gegen dieses Verbot wurde Luther gleichzeitig sehr grundsätzlich und sehr konkret: „Wenn nun dein Fürst oder weltlicher Herr dir gebietet, es mit dem Papst zu halten und so oder so zu glauben, oder dir gebietet Bücher abzugeben, sollst du so sagen: Es gebührt Luzifer nicht neben Gott zu sitzen. Lieber Herr, ich bin euch schuldig zu gehorchen mit Leib und Gut; gebietet mir nach dem Maß eurer Gewalt auf Erden, so will ich folgen. Befehlt ihr mir aber, zu glauben und Bücher abzugeben, so will ich nicht gehorchen. […] Nicht ein Blättlein, nicht einen Buchstaben sollen sie übergeben, bei Verlust ihrer Seeligkeit.“

Es war insbesondere Hans-Joachim Iwand, der aufgezeigt hat, dass Luther damit den Kern eines theologisch begründeten Widerstandsrechts formuliert hat. Damit hat er sich – wie ich finde, mit guten Argumenten – gegen all diejenigen gewandt, die mit Hilfe der Konstruktion einer Zwei-Bereiche-Lehre den totalen Obrigkeitsgehorsam theologisch mit Luther begründen wollten. Dabei kann kein Zweifel sein, worin in der Geschichte der Deutschen das größere Problem liegt: nicht in einem Mangel an Obrigkeitssinn, sondern eher im Bewusstsein seiner Grenzen. Oder in einer Formulierung, die ich schon vor zwei Jahrzehnten gewählt habe: „In der bisherigen Geschichte der Deutschen hat protestantischer Obrigkeitsgehorsam sich weit verheerender ausgewirkt als protestantischer Protest.“

Es wäre eine Aufgabe für sich zu prüfen und darzulegen, inwieweit Luther seine Maßstäbe für die Wahrnehmung der obrigkeitlichen Aufgabe innerhalb der ihr gesetzten Grenzen in seiner umfangreichen Beratungstätigkeit für die Mächtigen seiner Zeit in die Tat umgesetzt hat. In der Begegnung Luthers mit Friedrich dem Weisen ist dieses Gegenüber in Eric Tills Luther-Film unlängst ins Bild gesetzt worden. Unter den vielen Gestalten, in denen Peter Ustinov Menschen verzaubern konnte, hat er nun zuletzt auch noch die Gestalt dieses Reformationsfürsten angenommen – und zwar in einer, wie ich finde, unvergesslichen Weise. Doch Luther als politischem Seelsorger und politischem Berater können wir hier nicht weiter nachgehen. Festzuhalten bleibt, dass Luther an der Vorläufigkeit menschlichen Machtgebrauchs nie einen Zweifel hat aufkommen lassen. Der Grund dafür war, dass er allen menschlichen Machtgebrauch unter dem Vorbehalt der Herrschaft Jesu Christi sah. Die knappe Form, in der er diese theologische Einsicht bündelte, ist uns allen geläufig: „Mit unsrer Macht ist nichts getan, / wir sind gar bald verloren; / es streit’ für uns der rechte Mann, / den Gott selbst hat erkoren. / Fragst du, wer der ist? / Er heißt Jesus Christ, / der Herr Zebaoth, / und ist kein andrer Gott, / das Feld muss er behalten.“

Unmöglich ist es, unser Thema zu behandeln, ohne einen Blick auf den prominenten Gegenpol zu Luthers Position zu werfen, auf Thomas Müntzer. Dieser, wenige Jahre jünger als Luther, hatte zu den frühesten Parteigängern der Reformation gehört, ja, er war meines Wissens der Erste, dem in der Öffentlichkeit der Beiname „Lutheraner“ zugedacht wurde. Doch im Zusammenhang mit den Bauernunruhen trennten sich die Wege Luthers und Müntzers sowohl politisch und sozial als auch theologisch. Wie sich das im Bezug auf das Verhältnis von „Glaube und Macht“ äußerte, zeigte sich exemplarisch in Müntzers so genannter Fürstenpredigt. Diese Predigt vom 13. Juli 1524 hat man als „die kühnste vielleicht“ bezeichnet, „die eine Obrigkeit in Deutschland je hören musste“.  In der sächsischen Landesausstellung wird ein Originaldruck dieser Predigt gezeigt, der aus der hiesigen Universitäts- und Landesbibliothek stammt (Katalog Nr. 144, Seite 116). Müntzer nutzte den Aufenthalt seiner Landesherren, des ernestineschen Herzogs und Kurfürsten Johann des Beständigen und seines Sohnes Johann Friedrich des Großmütigen, in Allstedt. Dort war Müntzer Pfarrer und hatte mit seiner unkonventionellen Art bereits für Aufsehen gesorgt. Nun nahm er die Gelegenheit wahr, der Obrigkeit sein Verständnis vom rechten, also glaubensgemäßen Gebrauch von Macht nahe zu bringen. Denn noch erwartete Müntzer etwas von der Obrigkeit. Im Unterschied zur Kirche und den von ihm hart kritisierten Pfaffen hätten die Landesherren die Möglichkeit, ihre Macht gegen den Antichristen und für die Sache Gottes einzusetzen. Dies sollten sie radikal tun und dabei auch vor der Anwendung von Gewalt nicht zurückschrecken.

„Sollt ihr nun rechte Regenten sein, so müsst ihr das Regiment bei den Wurzeln beginnen. Treibt Gottes Feinde von den Auserwählten, denn ihr seid die Mittler dazu. Liebe Fürsten, gebt uns keine schalen Possen vor, dass die Kraft Gottes es tun soll ohne euer Zutun des Schwertes, es möchte euch sonst in der Scheide verrosten. Darum lasset die Übeltäter nicht länger leben, die uns von Gott abwenden, denn ein gottloser Mensch hat kein Recht zu leben wo er die Frommen verhindert. Im 22. Kapitel des Buches Exodus sagt Gott: ‚Du sollst die Übeltäter nicht leben lassen.’“

Dieses Zitat ist gleich in mehrfacher Hinsicht beachtenswert: Müntzer sieht ähnlich wie Luther die Mächtigen in der Verantwortung, sich für die Sache des Glaubens einzusetzen. Anders als Luther hält er dabei den Gebrauch von Gewalt nicht nur für legitim, sondern sogar für geboten. Die Mächtigen sollen ihre Macht also ganz handfest einsetzen. Aber: Sie haben ihre Macht nicht von und aus sich selbst. Wenn sie das Schwert nicht recht gebrauchen, soll es ihnen, so Müntzer, „in der Scheide verrosten“, also unbrauchbar werden. Und an anderer Stelle sagt er, dass den Fürsten das Schwert genommen und dem Volk gegeben werden soll. Auch dann sind die Konsequenzen eindeutig: „Darum sage ich mit Christus, dass man die gottlosen Regenten und besonders die Pfarrer und Mönche töten soll, die uns das Heilige Evangelium als Ketzerei schelten und trotzdem die besten Christen sein wollen.“

Wenn sie sich als gottlos erweisen, sollen auch die Regenten des Todes sein. In Müntzers Sichtweise trat eben diese Bedingung in der Folgezeit ein. Die sächsischen Herzöge verließen Allstedt, ohne sich zu Müntzers Predigt geäußert zu haben, und machten auch sonst deutlich, dass sie nicht willens waren, ihn zu unterstützen. Müntzers Plan, die Mächtigen auf seine Seite zu ziehen, war fehlgeschlagen. Deshalb hielt er sie von nun an für Feinde Gottes. Weil er dieser Überzeugung war, schlug sich Thomas Müntzer im Bauernkrieg auf die Seite der Bauern. Doch diese unterlagen den Truppen verschiedener Landesherren, darunter auch der sächsischen Herzöge und Kurfürsten. Müntzer wurde hingerichtet. Diesen Machtkampf hatte er verloren.

Ein drittes Beispiel aus der Reformationszeit sei noch erwähnt, ein Beispiel freilich, mit dem wir den sächsisch-thüringischen Raum und die lutherisch geprägte Reformation verlassen, ein Beispiel auch, zu dem ich einen etwas anderen Zugang wählen werde: das Beispiel Johannes Calvins. 26 Jahre jünger als Luther, also ein Mann der zweiten reformatorischen Generation, war Calvin als Glaubensflüchtling aus seinem Heimatland Frankreich nach Genf gekommen. Nach einem kurzen Zwischenspiel in Straßburg etablierte er sich 1541 endgültig als Pfarrer in der Genfer Kirchengemeinde. Zeit seines Lebens hatte er nur kirchliche Ämter inne und wirkte durch Predigten und theologische Veröffentlichungen. Und doch konnte Stefan Zweig seinen Roman über den theologischen Streit zwischen dem Humanisten Sebastian Castellio und Calvin mit dem bezeichnenden Untertitel versehen: „Ein Gewissen gegen die Gewalt.“ Wohlgemerkt: Das Gewissen – so Zweig – sei auf Castellios Seite gewesen, Calvin dagegen habe auf Seiten der Gewalt gestanden. Um einmal zu verdeutlichen, in welcher Dimension von Macht Calvin sich von Zweigs Einschätzung befand, sei ein Abschnitt aus der Einleitung von Stefan Zweigs Buch zitiert:

„Dank einer großartigen organisatorischen Technik ist es Calvin gelungen, eine ganze Stadt, einen ganzen Staat mit tausenden bisher freien Bürgern in eine starre Gehorsamsmaschinerie zu verwandeln, jede Selbständigkeit auszurotten, jede Denkfreiheit zugunsten seiner alleinigen Lehre zu beschlagnahmen. […] Seine Lehre ist Gesetz geworden, und wer wider sie gelindesten Einspruch wagt, den belehren baldigst Kerker, Verbannung oder Scheiterhaufen, diese blank alle Diskussion erledigenden Momente jeder geistigen Tyrannei, dass in Genf nur eine Wahrheit geduldet ist und Calvin ihr Prophet. Aber noch weit über die Stadtmauern hinaus reicht die unheimliche Macht dieses unheimlichen Mannes […]. Kein zeitpolitisches Geschehnis vollzieht sich mehr ohne sein Wissen, kaum eines gegen seinen Willen: Schon ist es ebenso gefährlich geworden, den Prediger von Sankt Pierre zu befeinden wie Kaiser oder Papst.“

Das mit dieser Beschreibung verbundene Urteil, Calvin eigene ein „hysterischer Machttrieb“, hat eine weitgehende Wirkung gehabt und die Haltung gegenüber dem Genfer Reformator gerade bei den Gebildeten unter den Verehrern und Verächtern der Religion vielfach beeinflusst. Dabei hätte schon das Erscheinungsdatum des Romans aufmerken lassen sollen: 1936. Schon Kurt Tucholsky hatte – wenige Jahre zuvor und ganz grundsätzlich – bemerkt, dass „jeder historische Roman ein ausgezeichnetes Bild von der Epoche des Verfassers“ vermittelt.  Im vorliegenden Fall ist dies mit Händen zu greifen. Das erste Kapitel von Zweigs Buch trägt die bemerkenswerte Überschrift „Die Machtergreifung Calvins“ und behauptet, Calvin habe immer um „die Totalität der Macht“ gekämpft. Die Assoziation ist deutlich; und schnell ist aus dem reformatorischen Genf Calvins das Nazideutschland Adolf Hitlers geworden. Dabei ist dies historisch völlig unzutreffend: Die diktatorische Position, die Zweig Calvin zuschreibt, hatte dieser nie inne. Calvin war nicht der von Zweig dargestellte Diktator und das Genf seiner Zeit nicht eine frühere Version der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft. Hier haben Zweig und die, die seiner Interpretation gefolgt sind, Calvin Unrecht getan. Dass Calvin kein Diktator war, heißt aber nicht, dass er machtlos gewesen wäre. Im Gegenteil: Gerade im Sinne der zu Beginn von mir entwickelten Definition hatte er Macht im Sinne eines „Vermögens, selbst gesetzte Ziele verwirklichen und die dafür notwendigen Mittel zu entwickeln, bereitzustellen und einzusetzen.“ Er war geradezu ein Meister darin, mit anderen „ein Einverständnis über seine Ziele zu erreichen und im Blick auf diese Ziele zu kooperieren.“  Zu leugnen, dass dies auch zu Gewaltsamkeiten führte, wäre geradezu verwegen. Doch es würde zu weit führen, dem genauer nachzugehen.

IV.

Lassen sie mich vielmehr einen Faden aufnehmen, der gerade schon einmal zum Vorschein kam: Wie stellt sich das Verhältnis von Glaube und Macht dar, wenn wir auf die Jahre 1933 bis 1945 schauen? Die „Machtergreifung“, auf die Stefan Zweig anspielte, fand am 30. Januar 1933 statt. Die da nach der Macht griffen, zeigten von Anfang an, dass sie diese missbrauchen wollten. Von Anfang an waren sie bereit, für die Durchsetzung ihrer Macht über Leichen zu gehen. Für den, der Augen hatte zu sehen, zeigten sie von Beginn, dass ihre Macht im Gegensatz zum christlichen Glauben stand. Hier musste nun wirklich das Wort Jesu gelten: „Ihr wisst, dass die Herrscher ihre Völker niederhalten und die Mächtigen ihnen Gewalt antun. So soll es nicht sein unter euch.“ Deshalb war es damals dringend nötig und richtig, dass sich aus dem Glauben heraus eine Opposition gegen die Übergriffe der Macht bildete. Auch im Rückblick wird man sagen müssen: Nicht dass sich die Bekennende Kirche bildete, sondern dass sie nicht mehr Anhängerschaft und Unterstützung in unserer Kirche fand, ist das Problem jener Zeit. Nicht dass die Spannung zwischen Glauben und Macht wahrgenommen wurde, ist im Rückblick zu beklagen, sondern dass der Widerstand sich allzu sehr auf die kirchlichen Folgen der Machtergreifung konzentrierte und deren politische Ursachen und Auswirkungen nur zögernd in den Blick nahm. Deshalb will ich die Bekennende Kirche nicht über Gebühr glorifizieren; der These, dass es an der Zeit ist, auch diese Epoche unserer Geschichte zu historisieren, kann ich mich vielmehr durchaus anschließen. Wenn man aber dies tut, wird man die Schwächen der Bekennenden Kirche nicht übersehen: ihren oftmals fehlenden Mut zur Konsequenz, ihre vielfach geringe politische Weitsicht und ihr mangelndes Engagement in der Frage der verfolgten Juden. Trotz allem, was mit Recht zu kritisieren ist, bleibt jedoch richtig, dass die wahre evangelische Kirche in Deutschland damals die Bekennende Kirche war.

In ihrer Barmer Theologischen Erklärung, an deren Verabschiedung vor siebzig Jahren, am 31. Mai 1934, wir uns in diesem Sommer erinnert haben, hat die Bekennende Kirche Grundsätzliches auch zum Verhältnis von Glaube und Macht gesagt:

Die vierte These beginnt mit dem Bibelwort, das zu einem Leitwort dieses Vortrags geworden ist: „Ihr wisst, dass die Herrscher ihre Völker niederhalten und die Mächtigen ihnen Gewalt antun. So soll es nicht sein unter euch; sondern wer unter euch groß sein will, der sei euer Diener.“

Die These lautet: „Die verschiedenen Ämter in der Kirche begründen keine Herrschaft der Einen über die Anderen, sondern die Ausübung des der ganzen Gemeinde anvertrauten und befohlenen Dienstes.“

Es folgt die Verwerfung: „Wir verwerfen die falsche Lehre, als könne und dürfe sich die Kirche abseits von diesem Dienst besondere mit Herrschaftsbefugnissen ausgestattete Führer geben und geben lassen.“

An anderer Stelle habe ich die Bedeutung dieser Aussagen für den Umgang mit Macht so erläutert: „Dass Machtpositionen ihre Legitimation von ihren Aufgaben her empfangen, dass die Inanspruchnahme von Machtpositionen daran zu messen ist, ob sie aufgabenorientiert erfolgt, dass der Umgang mit Macht nur dann ethisch zu rechtfertigen ist, wenn er nicht im Interesse der eigenen Machtsteigerung, sondern im Dienst anderer Menschen und ihrer Lebenschancen folgt: Das sind Maßstäbe, die an die Ausübung von Macht nicht nur im Bereich der Kirche, sondern auch in anderen Bereichen von Staat und Gesellschaft angelegt werden.“

Die IV. Barmer These hat sich freilich ganz und gar darauf konzentriert, die Frage nach der richtigen Ausübung von Macht in der Kirche zu stellen. Dabei hat sie eine spezifische Entgegensetzung von Macht und Herrschaft zu Grunde gelegt. Was in anderen Phasen aus theologischer Sicht macht-kritisch formuliert wurde, wird hier herrschafts-kritisch zum Ausdruck gebracht.  Über- und Unterordnungsverhältnisse, wie sie nach dem Muster des staatlichen Führerprinzips in jener Zeit auch in der Kirche durchgesetzt wurden, sind mit dem Selbstverständnis einer Kirche, die eine Gemeinschaft von Schwestern und Brüdern unter der alleinigen Herrschaft Jesu Christi ist, schlechterdings unvereinbar. Aber Folgen hat dieser Ansatz auch für den Umgang mit Macht in der Kirche. Diese Folgen habe ich bei jener früheren Gelegenheit so formuliert: „Macht oder Machtlosigkeit einer Kirche bemessen sich demgemäß vor allem daran, ob sie nach innen wie nach außen Klarheit über den Inhalt ihrer Verkündigung zu vermitteln vermag, ob sie die Eigenständigkeit ihrer Sozial- und Rechtsgestalt sichern kann, ob zwischen ihren Gliedern eine lebendige Kommunikation stattfindet und ob sie – insbesondere in Konfliktsituationen – die Handlungsbereitschaft ihrer Glieder zu mobilisieren vermag. Die Grenze des kirchlichen Machtgebrauchs liegt darin, dass es ihr niemals um Selbsterhaltung als Selbstzweck, um die Durchsetzung partikularer Interessen um ihrer selbst willen gehen kann.“

Ich kann an dieser Stelle den Hinweis nicht unterdrücken, dass es unter den Theologen des vergangenen Jahrhunderts vor allem Karl Barth, der Hauptautor der Barmer Theologischen Erklärung, gewesen ist, der einen theologischen Zugang zu einer positiven Würdigung von Macht und von menschlichem Machtgebrauch gebahnt hat. Besonders gewürdigt wurde das nicht, auch nicht von sogenannten  Barthianern. Der systematische Ort für diese theologische Würdigung der Macht ist die Ethik innerhalb der Schöpfungslehre, also „das Gebot Gottes des Schöpfers“. „Freiheit zum Leben“ ist der Grundbegriff, unter dem Barth das Gebot Gottes, des Schöpfers fasst. Der Leitsatz, mit dem er diesen Ansatz präzisiert, heißt: „Indem Gott der Schöpfer den Menschen zu sich ruft und seinem Mitmenschen zuwendet, heißt er ihn, das Leben – sein eigenes und das jedes anderen Menschen – als seine Leihgabe zu Ehren zu bringen und gegen alle Willkür zu schützen, um es in seinem Dienst und zur Zubereitung für seinen Dienst tätig ins Werk zu setzen.“  Das ist der Horizont, in den Barth den ethisch verantwortbaren Machtgebrauch einzeichnet. Es geht also nicht um Macht an sich, nicht um Macht um der Macht willen. Sondern es geht um Macht, die der dem Gebot Gottes gehorsame Mensch bejahen, wollen, gebrauchen kann und soll.

Nicht um partikulare Eigeninteressen, sondern um das größere Ganze ging es auch denen, die während der nationalsozialistischen Herrschaft auf eine andere Weise als die Bekennende Kirche Widerstand gegen die Machthaber ausübten: Ich nenne hier beispielhaft die Frauen und Männer des 20. Juli, deren wir uns in diesem Jahr, sechzig Jahre nach dem Scheitern des Attentats gegen Hitler, in besonderer Weise erinnern. „Steht auf für die Würde des Menschen!“ So lässt sich das Gebot formulieren, dem diese Männer und Frauen zu folgen versuchten. Es ging um die Bereitschaft zur Humanität in einer äußersten Grenzsituation. Der Aufstand für die Würde des Menschen führte in die Verschwörung. Um Menschen zu retten, entschieden sich Einzelne schweren Herzens zum Attentat. Weil sie ein anderes, ein besseres Deutschland wollten, setzten sie sich der Gefahr des Todes aus. Sie verloren das eigene Leben, weil sie das Leben anderer retten wollten. Die Aktiven des 20. Juli und die Menschen in ihrem Umfeld bildeten keine geschlossene Gruppe – weder ihrer Herkunft nach noch in ihren Zielen und Motiven. Aber sie fanden darin zusammen, dass sie die Missachtung und Zerstörung der Menschenwürde durch die Politik und das Handeln der Nationalsozialisten erkannten. Sie sahen: Wo Untätigkeit zur Mitschuld würde, entsteht eine ethische Pflicht zum Widerstand. Es war ein Widerstand aus Pflicht, ein Widerstand um der Menschenwürde willen.

Nicht von jedem Widerstand kann man das sagen, beileibe nicht. Es gibt auch Menschen verachteten Widerstand. Es gibt auch eine Bereitschaft, das eigene Leben zu opfern, die uns erschaudern lässt. Rund um den Globus sehen wir heute ein selbsternanntes Märtyrertum, das uns fragen lässt: Für welche Werte darf ein Mensch sein Leben opfern? Auf wen, auf welche Instanz vermag sich ein Mensch zu berufen, wenn er sein Leben um einer Sache willen riskiert? Der Widerstand, zu dem sich die Frauen und Männer des 20. Juli entschlossen, hat nichts zu tun mit einem Fanatismus, der nur Konflikte vertieft, statt sie zu überwinden.

Mich hat es in den letzten Wochen sehr beschäftigt, dass mir eine Reihe von Menschen nach den Gedenkveranstaltungen zum 20. Juli 1944 schrieben, es sei ihnen unbegreiflich, dass die Tat der Attentäter, eine willentliche – wenn auch gescheiterte – Tötungshandlung, gut geheißen,  ja sogar als Vorbild hingestellt werde. Richtig an solchen Rückfragen ist es, dass die Situation des gewaltsamen Widerstands für das Verhältnis von Glaube und Macht eine extreme Grenzsituation darstellt: Nur die Überzeugung, dass der Verzicht auf das Handeln in eine ungleich größere Schuld führen würde, kann ein Grund zu der Schuldübernahme sein, die in dem Angriff auf das Leben des Tyrannen und ebenso auch in der Gefährdung des eigenen Lebens liegt. Dass es zu dem äußersten Mittel der Gewaltanwendung gegen den Tyrannen keine Alternative gab, war für die Verschwörer die entscheidende Voraussetzung für ihren Entschloss. Nicht die Bereitschaft zu töten, sondern die Verantwortung dafür, weiteres Töten zu verhindern, veranlasste sie zu ihrem Schritt.

V.

Glaube und Macht ist ein lebendiges Thema unserer eigenen Gegenwart. In vielen Veranstaltungen werden wir in diesem Herbst – so hoffe ich – daran erinnern, wie der Glaube vor fünfzehn Jahren einen Raum bot, gegen die Macht aufzustehen. Vom Raum der Kirchen gingen die Demonstrationen des Herbsts 1989 aus, die schließlich zum Fall der Berliner Mauer beitrugen. Dass dabei auf beiden Seiten auf die Anwendung von Gewalt verzichtet wurde, gehört zu den Zügen des damaligen Geschehens, die auch im Rückblick Grund zu besonderer Dankbarkeit sind. Die Erfahrung des Jahres 1989 hat deshalb Eingang gefunden in die Art und Weise, in der unsere Kirche ihre politische Verantwortung wahrnimmt und das Verhältnis von Glaube und Macht bestimmt. Dass politische Macht sich ihrer Grenzen bewusst sein muss, ist uns dabei besonders wichtig geworden. Die Formulierung in der Präambel des Bonner Grundgesetzes, nach welcher das deutsche Volk sich diese Verfassung „in Verantwortung vor Gott und den Menschen“ gibt, gilt eben auch für politische Macht, die „in Verantwortung vor Gott und den Menschen“ – und deshalb im Bewusstsein ihrer Grenzen – ausgeübt werden soll.

Aber auch an die Frauen und Männer des 20. Juli habe ich gedacht, als ich mich in den letzten Monaten an dem Bemühen beteiligt habe, dem Gottesbezug Eingang in die Präambel der Europäischen Verfassung zu verschaffen. Kardinal Lehmann und ich haben in einer gemeinsamen Stellungnahme am 19. Juni den Entwurf des Europäischen Verfassungsvertrags in dieser Hinsicht so kommentiert: „Wenn es nun am Beginn des Textes heißt, dass die Europäische Union unter anderem aus dem religiösen Erbe schöpft, aus dem sich die Menschenrechte, Demokratie, Freiheit und Rechtsstaatlichkeit entwickelt haben, dann ist damit angesichts seiner Prägekraft für Europa vor allem das jüdisch-christliche Erbe gemeint. Wir bedauern deshalb, dass die Staats- und Regierungschefs sich nicht darauf einigen konnten, diese historische Tatsache auch ausdrücklich zu benennen. Ebenso bedauern wir es, dass es nicht möglich war, angesichts der leidvollen Erfahrungen von Kriegen und Diktaturen in Europa durch einen Bezug auf die Verantwortung vor Gott deutlich zu machen, dass jede menschliche Ordnung vorläufig, fehlbar und unvollkommen und Politik nie absolut ist. Es wird nun darauf ankommen, diese Vorläufigkeit jeder politischen Ordnung immer wieder bewusst zu machen und den Menschen stets ins Zentrum europäischer Politik zu rücken. Ebenso wird es immer wieder notwendig sein, sich der Herkunft unseres Kontinents zu vergewissern, um seine Zukunft gestalten zu können. Als Kirchen werden wir im Rahmen unserer Möglichkeiten dazu beitragen.“

Ich habe mich dabei an das Vorbild des Grundgesetzes gehalten. Denn dass dieses Grundgesetz, wie schon erwähnt, „in Verantwortung vor Gott und den Menschen“ gegeben wurde, muss man auch mit dem Vermächtnis des Widerstands in Verbindung bringen. Wenn unser Grundgesetz um eben dieses Vermächtnisses willen dem Widerstandsrecht Verfassungsrang gegeben hat, unterstreicht es die Grenze, die jeder menschlichen Machtausübung gezogen ist. In der Würde jedes Menschen hat die Ausübung staatlicher Macht Sinn und Maß. Jede Bürgerin und jeder Bürger steht in der Verantwortung, staatliches Handeln an diesem Maß zu messen. Auf eine Haltung sind wir somit verpflichtet, die Richard Schröder einmal so beschrieben hat: „Der Christ beugt sich vor Gott und sonst vor niemanden, er beugt sich aber sehr wohl für andere Menschen.“ Denn die Zuwendung Gottes, aus der wir leben, macht uns frei von der Welt und ruft uns in die Verantwortung für die Welt. Das ist die grundlegende Bestimmung des Verhältnisses von Glauben und Macht, wie sie auch durch das reformatorische Erbe vorgezeichnet ist. Angesichts der großen Herausforderungen unserer Zeit ist sie von unüberbietbarer Aktualität.