Gottes Gabe und persönliche Verantwortung

Zusammenleben in Ehe und Familie

I. Einführung

Das evangelische Ehe- und Familienverständnis orientiert sich an Schrift und Bekenntnis. Es bezieht sich auf die geschichtlichen Entwicklungen und die heutige Situation. Die Gestaltung von Ehe und Familie (wie die des Zusammenlebens von Menschen überhaupt) ist insbesondere abhängig von wirtschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen. So ergeben sich aus dem unabschließbaren gesellschaftlichen Wandel stets neue Anforderungen an Gesellschaft, Staat und Kirche zur Förderung verläßlicher Beziehungen zwischen Mann und Frau sowie zwischen Eltern und Kindern.

Ein zentraler Punkt der heute zu beobachtenden Umbrüche betrifft das Verhältnis der Geschlechter. Jahrhundertelang wurde die Verschiedenheit der Geschlechter dazu benutzt, die soziale Ungleichheit zwischen Männern und Frauen zu rechtfertigen, namentlich in bezug auf die Arbeitsteilung innerhalb der Familien und den Ausschluß der Frauen aus dem öffentlichen Leben. Das Bemühen, diese Ungleichheit im öffentlichen Bewußtsein, in der Gesetzgebung und in der Praxis aufzuheben, ist bereits ein entscheidendes Kennzeichen des gegenwärtigen Wandels von Ehe und Familie. Diese Entwicklung wird durch das hier vorgelegte Verständnis von Ehe und Familie unterstützt.

Bis in die Nachkriegszeit orientierte sich das Leitmodell der Familie am bürgerlichen Ideal der Einheit von Ehe, Elternschaft und Hausgemeinschaft. Auch wenn dieses Leitbild keineswegs durchgängig befolgt wurde, wurden doch im Alltag, im Recht und in der Politik andere Lebensformen (z.B. alleinerziehende Eltern) daran gemessen. Das führte zu Abwertungen und Diskriminierungen. Die Kirchen jedoch stützten dieses Leitbild und zugleich eine aus heutiger Sicht unangemessene rigide Rollenverteilung zwischen Männern und Frauen. Alternative Interpretationen, die es immer wieder gab, wurden abgewertet und oft sogar unterdrückt. Dennoch haben sich die Formen und das Verständnis von Ehe, Partnerschaft und des familialen Zusammenlebens verändert. Darum muß die Einschätzung der gegenwärtigen Situation von der faktisch bestehenden Vielfalt privater Lebensformen ausgehen. Die überkommenen Vorstellungen, zumindest was die äußeren Formen der Lebensgestaltung betrifft, gelten in weiten Kreisen der Bevölkerung nicht mehr. Besonders offensichtlich zeigt dies die breite Akzeptanz unverheirateten Zusammenlebens. Auch die zunehmenden Scheidungszahlen und die sich daraus ergebenden "Sukzessiv-Familien" belegen dies. Das Grundgesetz schützt einerseits Ehe und Familie, verbürgt aber andererseits für jeden und jede das Recht auf Selbstbestimmung, das sowohl für die persönliche Lebensgestaltung als auch für die Form des Zusammenlebens gilt. Das faktische Zusammenleben basiert auf einer Vielfalt von Mustern alltäglicher Lebensführung, individueller Deutung und Sinngebungen.

Der Wandel von Ehe und Familie sowie die sich daraus ergebenden Konsequenzen sind Thema einer umfangreichen Sozialberichterstattung (z.B. Familien- und Jugendberichte) sowie im fachwissenschaftlichen Schrifttum und in Schriften zur Lebenshilfe, ferner in einem weit gefächerten Angebot von Kursen, Tagungen und Beratungen. Viele Disziplinen beteiligen sich an der Diskussion zu dieser Thematik, von der Geschichte über die Sozialwissenschaften und die Psychologie bis zur Rechtswissenschaft und selbstverständlich auch die Theologie. Auf eine ausführliche Beschreibung der sozialen Rahmenbedingungen und der neueren Entwicklungen wird verzichtet, da diesem Zweck insbesondere die in regelmäßigen Abständen erscheinenden Familienberichte der Bundesregierung sowie die Familienberichte in den einzelnen Ländern und Kommunen dienen. In diesen Dokumenten wird auch die einschlägige wissenschaftliche Literatur aufgearbeitet. Es erscheint auch nicht nötig, in diesem Beitrag eine familienpolitische Bestandsaufnahme vorzunehmen und sich zu den anstehenden Aufgaben differenziert gutachterlich zu äußern. Diese Aufgabe wird von politischen Beratungsgremien, namentlich vom Wissenschaftlichen Beirat für Familienfragen beim Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend, von den Familienverbänden(1) sowie von einzelnen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern wahrgenommen.

Angesichts der historischen Entwicklungen und der gegenwärtigen Situation ist es nicht angemessen, Ehe und Familie statisch zu betrachten. Vielmehr ist in Betracht zu ziehen, daß das private Zusammenleben von Wechsel und Dynamik beeinflußt ist. Die rechtlichen Regelungen können zwar wichtige Vorgaben bieten und die Lösung von Schwierigkeiten und Konflikten erleichtern, sie implizieren jedoch keine Sicherheit des Gelingens. Ausschlaggebend ist stets die persönliche Verantwortung.

Dasselbe gilt sinngemäß für die ethischen Erwägungen. Dementsprechend haben die folgenden Ausführungen nicht den Charakter von "Vorschriften". Es werden keine Behauptungen aufgestellt, die fraglos zu akzeptieren sind. Hier sind ethische Hinweise und Überlegungen formuliert, die zu bedenken gegeben werden. Die folgenden Überlegungen wollen zu einem wachen und verantwortungsbereiten Bewußtsein beitragen, indem sie das Nachdenken und die Aufmerksamkeit anregen. In der gegenwärtigen Situation erscheint dies als der angemessene Weg ethischer Orientierung. Viele Menschen wählen die Familie auf der Grundlage der Ehe als Lebensform, in der sie Verantwortung, Liebe und Fürsorge verwirklichen möchten. Dieses Ziel kann aber auch in anderen Lebensformen angestrebt werden.

Im Verlauf ihres Lebens treffen Menschen Entscheidungen für die Gestaltung ihrer partnerschaftlichen Beziehungen, sie entschließen sich zu einem Leben mit Kindern oder ohne Kinder, und sie müssen damit zusammenhängende Aufgaben und Konflikte bewältigen. Zu Heirat und Kindern, aber auch im Blick auf die Krisensituation Scheidung werden im folgenden beispielhaft sozial-, rechts- und kirchengeschichtliche Hintergründe beleuchtet sowie theologische, rechtliche und gesellschaftliche Erwägungen angeboten - als Hilfe für begründete und somit verantwortliche, persönliche Entscheidungen.

Die Meinungsbildung der Kammer ging von der persönlichen Lebens- und Berufserfahrung ihrer Mitglieder aus. Der anschließende Konsensprozeß beruhte weitgehend auf einem interdisziplinären Austausch. In ihn sollen die Leser und Leserinnen durch die Veröffentlichung der in der Kammer gehaltenen Referate bzw. Arbeitsmaterialien einbezogen werden.

Der Konsensprozeß war allerdings nicht einlinig. Dies wird zum Beispiel im theologischen Teil deutlich. In intensiven Beratungen wurde aber ein Text erarbeitet, der - unter Einschluß der individuellen und positionellen Unterschiede - als Ganzes und gemeinschaftlich verantwortet wird.

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