Gottes Gabe und persönliche Verantwortung

Zusammenleben in Ehe und Familie

V. Schlußbetrachtung

Der Gesamtzusammenhang von Ehe und Familie ist durch eine ausgeprägte Komplexität gekennzeichnet. Die Verflechtungen liegen zum einen in den gewachsenen und sich teils sprunghaft, teils kontinuierlich weiterentwickelnden gesellschaftlichen, rechtlichen, sozialen und politischen Gegebenheiten. Zum anderen bedingen Überzeugungen und Erfahrungen einen je individuellen Zugang.

Es ist evident, daß aufgrund der Vielfältigkeit der Lebensentwürfe, aufgrund der Spannung zwischen Wollen und Können, zwischen Gelingen und Scheitern - insgesamt also aufgrund einer zwar postulierbaren, aber oft nicht einlösbaren Kongruenz von Ideal und Realität - einlinig-normative Aussagen über Lebensformen nicht möglich sind. Daraus folgt nach Auffassung der Kammer der EKD für Ehe und Familie freilich nicht eine beliebige Bestätigung oder Anpassung an gesellschaftliche Trends und Fakten. Die Konsequenz ist vielmehr die Herausforderung zu einer eigenen Gestaltung, wobei die persönliche Verantwortung ein besonderes Gewicht erhält.

Das Zusammenleben von Menschen in Partnerschaft, Ehe und Familie wird durch äußere Bedingungen erleichtert oder erschwert. Kirchen, Gesellschaft und Politik haben eine Mitverantwortung, Menschen die positive Gestaltung ihrer Beziehungen innerhalb der Partnerschaft und der Generationen zu ermöglichen, sie in Krisen zu unterstützen und soziale Rahmenbedingungen zu schaffen, die ihnen bei der Umsetzung ihrer Verantwortung und Lebensoptionen entgegenkommen.

Rechtliche Regelungen sind wichtige Vorgaben. Sie haben ihren Wert insbesondere darin, den Schutz des/der Schwächeren zu gewährleisten. Eine Sicherheit des Gelingens von Partner- oder Elternschaft können sie jedoch nicht garantieren.

Verantwortlichkeit, Verläßlichkeit, Wechselseitigkeit und Kontinuität in der Gestaltung der Beziehungen zum Partner, zur Partnerin bzw. zu den Kindern sind die ethischen Maßstäbe, die sich aus dem hier vorgelegten Verständnis von Ehe und Familie ergeben. Die Gestaltung ihres Zusammenlebens ist wiederum ganz der persönlichen Verantwortung der einzelnen auferlegt.

Eine Hilfe zur Realisierung dieser Maßstäbe besteht schon darin, daß Fragende und Suchende Verständnis finden für die Komplexität ihrer Situation und ihnen unterstellt wird, daß sie selbst an einem gelingenden Leben interessiert sind. Nicht nur in Krisensituationen sind passende institutionelle Hilfen gefragt. Dazu gehören ethische Orientierungen allgemeiner und individueller Art (wie in Seelsorge und Beratung), Vergewisserung und Zuspruch (wie im Traugottesdienst und in familienzentrierter Gemeindearbeit). Schließlich bedarf es eines Netzes praktischer Unterstützung für alle Generationen (zum Beispiel durch Tageseinrichtungen für Kinder, soziale Dienste und Familienbildungsstätten).

Indem die evangelische Kirche selbst solche Hilfen zur Verfügung stellt, kann sie zu einem Klima beitragen, in dem es möglich wird, das gemeinschaftliche Leben in Ehe und Familie dankbar als gute Gabe Gottes zu verstehen, anzunehmen und zu leben.

Die hier vorgelegten Überlegungen sind Ausschnitte innerkirchlicher Diskussionen zu den Lebensformen Ehe und Familie. Sie werden vorgelegt in dem Bewußtsein, daß es nicht Aufgabe der Kammer sein kann, Urteile zu fällen. Die Kammer ist aber der Überzeugung, daß die Einsicht in das historisch-gesellschaftliche Gewachsensein der Vorstellungen von Ehe und Familie einer Verabsolutierung vorfindlicher Formen wehren kann. Die Geschichte von Ehe und Familie zeigt im Gegenteil eine stetige Dynamik und einen immerwährenden Gestaltungswillen. Diesen Gestaltungswillen aufzubringen, die Verantwortung für das eigene Leben und für das der in Ehe und Familie verbundenen Menschen wahrzunehmen und das Bemühen, Gelingen und Scheitern im Lichte des Evangeliums zu sehen, ist nach Auffassung der Kammer das eigentlich Evangelische an ihrem Ehe- und Familienverständnis.

Die Kammer der EKD für Ehe und Familie hat aus dieser Betonung der eigenen Verantwortlichkeit und des eigenen, begründeten Urteils für sich den Schluß gezogen, auch ihre Vorüberlegungen offenzulegen. Sie ergänzt ihre notwendigerweise komprimierten Darstellungen deshalb um einige Ausarbeitungen, die vorgetragen und intensiv diskutiert worden sind. Dabei werden gelegentlich unterschiedliche Betrachtungen von Kammermitgliedern und Akzentuierungen im Vergleich zum Kammertext selbst deutlich. Die Mitglieder der Kammer sehen ihre Arbeit als Aufforderung an Leserinnen und Leser, sich ein eigenes Urteil zu bilden - sei es in Zustimmung oder Ablehnung der Überlegungen der Kammer.

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