Gottes Gabe und persönliche Verantwortung

Zusammenleben in Ehe und Familie

Vorwort

Seit langem vollziehen sich tiefgreifende Veränderungen in der Lebenswirklichkeit von Ehe und Familie und, damit verbunden, in ihrem Verständnis. Das christliche Verständnis von Ehe und Familie muß sich in dieser Situation neu bewähren. Es ist zunehmend in Spannung getreten zu den Lebensverhältnissen, in denen sich viele Christen vorfinden und einrichten. Nicht nur deshalb stellt sich die Frage, inwieweit das überlieferte christliche Verständnis von Ehe und Familie noch der Sache und den Menschen gerecht wird, mit anderen Worten: ob es nicht von seiner biblischen Grundlage her neu zu durchdenken und zu formulieren ist, damit es wieder in stärkerem Maße seine lebensdienliche und lebensfördernde Kraft entfalten kann. Spät - manche sagen: zu spät - haben sich Kirche und Theologie dieser Frage angenommen.

Der Auftrag, den der Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland (nach einem ersten Anlauf in der Periode 1985-1991) in der Periode 1991-1997 der von ihm eingerichteten Kammer für Ehe und Familie gegeben hat, steht in diesem Zusammenhang. Erbeten war eine Ausarbeitung zum evangelischen Verständnis von Ehe und Familie. Der Rat erwartete in der schwierigen und kontroversen Diskussionslage gerade von einer Kammer, die interdisziplinär und pluralistisch zusammengesetzt ist, einen hilfreichen Beitrag.

Die Kammer legte dem Rat das Ergebnis ihrer Arbeit zu dessen Sitzung am 5./6. September 1997 vor. Der Rat hat die Ausarbeitung eingehend und kontrovers erörtert und auf seiner Sitzung am 10./11. Oktober 1997 der Veröffentlichung als Beitrag der Kammer zugestimmt. Er hat der Kammer für ihren mühevollen Weg der Konsensbildung gedankt und gewürdigt, daß trotz der erkennbaren positionellen Unterschiede ein gemeinschaftlich verantworteter Text entstanden ist und darin zu einer Reihe von Fragen bedenkenswerte Überlegungen entfaltet werden. Er sieht jedoch zugleich, nicht zuletzt um der Konsistenz mit bereits veröffentlichten Äußerungen des Rates willen, einen erheblichen Diskussions- und Klärungsbedarf. Er hat darum das Kirchenamt beauftragt, im Vorwort der Veröffentlichung die offengebliebenen Fragen anzusprechen.

Der weitere Diskussions- und Klärungsbedarf betrifft vor allem drei Punkte:

1. Wie ist der Zusammenhang von Familie und Ehe zu bestimmen? Die Kammer wählt in ihrem Beitrag einen kindorientierten Ansatz: "Kinder konstituieren Familie". Dabei stellt sie die Notwendigkeit verläßlicher Beziehungen zu Mutter und Vater durchaus heraus. Aber es bleibt die Frage, ob es nicht gewichtige Gründe gibt, die Familie nicht nur vom Kind, sondern auch von der Ehe her zu denken und zu gestalten, und darum die positive Aussage nötig wird, daß es gerade auch um der Kinder willen gut und vernünftig ist, zu heiraten.

2. Was ist der sachliche Kern der Auseinandersetzungen um die Ehe? Gelegentlich hat es den Anschein, als ginge es bei diesem Streit vor allem um Heiraten oder Nichtheiraten, m.a.W. um die Frage, ob ein gelingendes dauerhaftes Zusammenleben von Mann und Frau auf die Form der Ehe angewiesen bleibt oder auch in nichtehelichen Formen des Zusammenlebens möglich ist. Je nach Standpunkt werden dann Vorzüge oder Defizite der Ehe bzw. der nichtehelichen Lebensgemeinschaften hervorgekehrt. Der für die Periode 1991-1997 gewählte Rat hat sich in seiner Amtszeit dreimal zum evangelischen Verständnis der Ehe geäußert: 1994 in dem Wort aus Anlaß des Internationalen Jahres der Familie (EKD-Texte 50), 1996 im Rahmen der Orientierungshilfe "Mit Spannungen leben" (EKD-Texte 57, vor allem S. 32f) und zuletzt 1997 im Bericht des Rates vor der 1. Tagung der 9. Synode in Friedrichroda. Mit wachsendem Nachdruck hat der Rat dafür plädiert, die gemeinsamen Anstrengungen darauf zu richten, eine Verständigung über die inhaltlichen Kriterien, also das Leitbild des Zusammenlebens von Mann und Frau zu erzielen. Der Beitrag der Kammer bietet dafür Ansatzpunkte. Aber sie müssen vertieft und ausgebaut werden. Im Bericht des Rates vor der 1. Tagung der 9. Synode heißt es dazu:

"Der christliche Glaube ermutigt und hält an zu einem Zusammenleben von Mann und Frau, das

  • von diesen beiden in freiwilliger Zustimmung vor Gott eingegangen wird und Ausdruck ihrer Zuneigung und Liebe ist;
  • ganzheitlich ist, also den Menschen als leibseelisches Wesen erfaßt;
  • verbindlich ist und damit dem menschlichen Bedürfnis nach Verläßlichkeit entspricht;
  • auf Dauer angelegt ist und darum für gute wie für schlechte Tage gilt;
  • partnerschaftlich gestaltet ist und darum Gegenseitigkeit und Gleichberechtigung ermöglicht;
  • grundsätzlich die Entscheidung für die Geburt von Kindern eröffnet und
  • mit alledem einen Lebensraum darstellt, in dem Kinder aufwachsen und sich auf die vielfältigen Herausforderungen, Rollenerwartungen und Aufgaben des Lebens vorbereiten können.

Aus diesen in der Heiligen Schrift und den Bekenntnissen gegründeten Kriterien ergibt sich unser Leitbild für die Gestaltung des Zusammenlebens von Mann und Frau, für das christliche Verständnis von Ehe. Wenn der [in der evangelischen Kirche] aufgebrochene Dissens [zum Verständnis der Ehe] die genannten Kriterien beträfe, dann wäre der Schaden groß. Wenn wir jedoch diesen Konsens bestätigen und bekräftigen können, dann werden wir auch Klärungen für die anderen Fragen finden:

Wie verhält sich das christliche Leitbild von Ehe zur geltenden Rechtsform der Ehe?

Welcher Respekt ist uns möglich und geboten im Blick auf nichteheliche Formen des Zusammenlebens von Mann und Frau?

Was bedeutet der Segen als Zuspruch der Gegenwart Gottes an den Schwellensituationen und in der fortwährenden Begleitung des Lebens?"

In dieser Richtung müßte - so die Überzeugung des Rates - vordringlich weitergedacht und weitergearbeitet werden.

3. In welcher Weise können Ehe und Familie soziale Leitbilder sein? Der Rat hat in seinen genannten Äußerungen sehr betont die Kategorie "Leitbild" verwendet. Diese Kategorie bedarf der Verdeutlichung. "Leitbild" wird von vielen als unhistorische normative Größe und damit als Verabsolutierung vorfindlicher Formen aufgefaßt; der Beitrag der Kammer nimmt auf dieses Mißverständnis Bezug. Es muß kirchlichen Äußerungen noch stärker gelingen, die aus der Bibel und den Bekenntnissen entwickelten Leitbilder so zu präsentieren, daß sie als Wegweiser wahrgenommen und in Anspruch genommen werden.

Die Auseinandersetzung um das Verständnis von Ehe und Familie ist noch in vollem Gange. Den hier vorgelegten Texten aus der Kammer für Ehe und Familie ist zu wünschen, daß sie eine Hilfe werden, um die lebensdienliche und lebensfördernde Kraft des evangelischen Verständnisses von Ehe und Familie zu erkennen und zur Wirkung kommen zu lassen.

Hannover, im Dezember 1997

Dr. Hermann Barth
Vizepräsident des Kirchenamtes
der Evangelischen Kirche in Deutschland

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