Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive

Eine Denkschrift des Rates der EKD, Hrsg. Gütersloher Verlagshaus, 2008, ISBN 978-3-579-05905-1

2. Unternehmerisches Handeln in der Perspektive des christlichen Glaubens

Der christliche Glaube befreit zum vernünftigen, sachgemäßen und verantwortlichen Handeln. Er gibt Menschen auch die Kraft, sich unternehmerisch einzusetzen und im Zusammenwirken mit anderen an einer Zukunft zu arbeiten, die Wohlstand für möglichst viele schaff t und zugleich die Schöpfung bewahrt. Aus seinem Geist erwächst die Entscheidung für eine Wirtschaftsordnung in der Tradition der Sozialen Marktwirtschaft.

  1. Wenn die Kirche zu Fragen des Wirtschaftslebens Stellung bezieht, muss sie sich im Klaren darüber sein, dass ihre Äußerungen der Vielschichtigkeit wirtschaftlicher Zusammenhänge nur dann entsprechen können, wenn ethische Grundorientierungen und wirtschaftliche Sachgesetzlichkeiten sinnvoll auf einander bezogen werden. Hoher moralischer Anspruch ohne ausreichende Kenntnis der Sachzusammenhänge wirtschaftlichen Handelns führt zu Ratschlägen, die zwar Gerechtigkeit anstreben mögen, aber zuweilen das Gegenteil erreichen. Allerdings kann auch der immer wieder wiederholte Verweis auf wirtschaftliche Sachzwänge Ausdruck von Inkompetenz sein, wenn er blind ist gegenüber den grundlegenden Orientierungsfragen, die hinter vielen wirtschaftlichen Entscheidungen stehen.
  2. Christlicher Glaube bezieht sich - in je unterschiedlicher Weise - auf alle Lebensbereiche. Deswegen hat die Barmer Theologische Erklärung der Bekennenden Kirche auf der Grundlage einer recht verstandenen Unterscheidung der beiden Regimente 1934 festgestellt: "Wie Jesus Christus Gottes Zuspruch der Vergebung aller unserer Sünden ist, so und mit gleichem Ernst ist er auch Gottes kräftiger Anspruch auf unser ganzes Leben; durch ihn widerfährt uns frohe Befreiung aus den gottlosen Bindungen dieser Welt zu freiem, dankbarem Dienst an seinen Geschöpfen. Wir verwerfen die falsche Lehre, als gebe es Bereiche unseres Lebens, in denen wir nicht Jesus Christus, sondern anderen Herren zu eigen wären, Bereiche, in denen wir nicht der Rechtfertigung und Heiligung durch ihn bedürften" (These 2).

    Dieses Bekenntnis zur Bedeutung des Glaubens in allen Lebensbereichen darf zwar nicht zu einer falschen Moralisierung täglicher wirtschaftlicher Ermessensentscheidungen führen. Es schärft aber heute mit bleibender Dringlichkeit ein, dass wirtschaftliche Entscheidungen auch dann im Lichte des christlichen Glaubens betrachtet werden müssen, wenn die grundlegenden ethischen Fragen zunächst hinter harten ökonomischen Fakten versteckt bleiben. Diese Achtsamkeit für die auch hinter den so genannten Sachzwängen verborgenen ethischen Grundentscheidungen kann als eines der Markenzeichen evangelischen Unternehmertums gesehen werden.

2.1 Biblische Orientierungen

Viele Texte der Bibel greifen auf Erfahrungen der Arbeitswelt und der Ökonomie zurück, um zu einem gelassenen und verantwortungsvollen Umgang mit anvertrauten Gütern und Gaben zu ermutigen. Aus dem Arbeitsleben entnommene Gleichnisse unterstreichen die große Bedeutung der Arbeit für die Menschen. Sie bieten hilfreiche Grundorientierungen für das unternehmerische Handeln. Direkte Anweisungen für das Arbeitsleben lassen sich daraus allerdings nur bedingt ableiten.

  1. Eine evangelische Ethik unternehmerischen Handelns hat auch die Aufgabe, zur Herausbildung moralischer Achtsamkeit bei denen beizutragen, die jeden Tag Entscheidungen in Unternehmen zu treffen haben. Dafür hat die Bibel einen zentralen orientierenden Stellenwert. Ihre Gleichnisse und Bilder, die dort beschriebenen Erfahrungen und gesammelten theologischen Betrachtungen geben zwar keine unmittelbaren Handlungsanweisungen für wirtschaftliche Entscheidungen. Sie prägen aber die Grundperspektiven des Lebens und damit auch die Maßstäbe des Handelns in wirtschaftlichen wie in allen anderen Berufen. Im Folgenden sollen anhand biblischer Texte fünf solche Grundorientierungen beschrieben werden. Sie bringen Einsichten zum Ausdruck, die für alle Menschen guten Willens nachvollziehbar sind, für Christinnen und Christen aber besondere verpflichtende Bedeutung haben. Auch wenn eine unmittelbare Umsetzung aus einer Lebenswelt in die andere im Sinne direkter Anweisungen nicht möglich ist und viele der Texte auf eine andere Verstehensebene abzielen, bieten diese Beispiele Raum für einen biblisch geprägten Deutungs- und Handlungszusammenhang.

    Sie machen deutlich, dass wir uns nicht selbst schaff en und erfinden, sondern vielmehr von Gaben leben, die Gott schenkt, und, dass wir anderen Menschen wesentliche Voraussetzungen unseres Erfolgs wie Erziehung und Bildung verdanken. Sie erinnern daran, dass wir in einer Gemeinschaft von Menschen mit unterschiedlichen Fähigkeiten leben, in der auch wir selbst Verantwortung für andere tragen. Sie führen uns vor Augen, dass Reichtum und Wohlstand, Erfolg und Versagen nicht die letzten und entscheidenden Werte in unserem Leben sind, sondern dass alles von Gottes Gnade und Gerechtigkeit abhängt, und dass wir Gottes Segen mit anderen, vor allem mit Menschen, die von uns abhängig sind, teilen sollen. Sie machen uns Mut, auch im Blick auf die Zukunft auf Gottes Fürsorge zu vertrauen, und ermahnen uns zugleich, die Armen nicht zu missachten, sondern sie immer neu in die Gemeinschaft einzuschließen, auf sozialen Ausgleich zu achten und damit auch andere zum Leben zu ermutigen.
  2. Ein zentrales Thema der Bibel ist die Dankbarkeit für das erfahrene Gute und die daraus sich ergebende Verpflichtung dem Nächsten gegenüber. In dem Gleichnis vom Schalksknecht (Mt 18,21­35) bekommt ein Knecht, der in wirtschaftliche Not geraten ist, von seinem Herrn die Schulden erlassen. Anstatt aus Dankbarkeit für die Barmherzigkeit des Herrn nun selbst auch so zu handeln, schlägt er die Bitte seines bei ihm vergleichsweise gering verschuldeten Mitknechts um Schuldenerlass barsch ab. Am Ende muss er dafür selbst bitter bezahlen. Das Gleichnis schärft die Wahrnehmung für die vielen Gaben, die uns unverdient mit auf den Weg gegeben werden. Dieser Hinweis ist eine heilsame Provokation in einer Unternehmerkultur, in der die Beurteilung nach der jeweils erbrachten Leistung eine zentrale Rolle spielt, in der Versagen zuweilen gnadenlos abgestraft wird und in der Erfolge häufig nur ganz bestimmten Personen und ihrem unternehmerischen Geschick zugerechnet werden. Wo die Achtsamkeit für die verschiedenen Faktoren eines Erfolges geschärft wird, die sich nicht der eigenen Leistung verdanken, sondern allein der Güte Gottes und dem Segen, den er auf unser Leben gibt, wird auch das Handeln gegenüber den Mitmenschen verändert. Martin Luther hat in seiner Schrift "Über die Freiheit eines Christenmenschen" den Zusammenhang zwischen der Dankbarkeit für das eigene erfahrene Gute und dem Handeln dem Nächsten gegenüber so beschrieben: "Sieh, so fließt aus dem Glauben die Liebe und die Lust zu Gott und aus der Liebe ein freies, williges, fröhliches Leben, dem Nächsten umsonst zu dienen. Denn so wie unser Nächster Not leidet und unseres Überflusses bedarf, so haben ja auch wir Not gelitten und seiner Gnade bedurft. Darum sollen wir so, wie uns Gott durch Christus umsonst geholfen hat, durch den Leib und seine Werke nichts anderes tun als dem Nächsten helfen." Die aus solcher Glaubenserkenntnis erwachsene Demut ist die beste Voraussetzung für Barmherzigkeit und Großzügigkeit. Gerade dann, wenn Führungspersonen diese Demut aufbringen und sich ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern gegenüber entsprechend verhalten, darf wirtschaftlicher Erfolg auch als Segen Gottes interpretiert werden.
  3. Die Charismenlehre des Paulus und sein Bild von dem einen Leib und den vielen Gliedern, die alle ihre Funktion haben (1 Kor 12), macht deutlich: Menschen sind verschieden und haben unterschiedliche Gaben. Das Leben in einer Gemeinschaft gelingt, wenn jeder und jede seine und ihre Gaben entwickeln und einbringen kann. Nicht alle sind für alles "talentiert": Es gibt einige, die sich besser zur Übernahme von unternehmerischer Verantwortung eignen als andere. Aber das bedeutet keine unterschiedliche Wertigkeit der Menschen. Die schwächeren Glieder verdienen sogar mehr Respekt als die stärkeren. "Vielmehr sind die Glieder des Leibes, die uns die schwächsten zu sein scheinen, die nötigsten" (1 Kor 12,22). Hinter dieser Einsicht des Glaubens steht ein hohes Maß an Erfahrung und Weisheit. Moderne Managementtheorien haben längst die Bedeutung einer fairen Kooperation aller Beteiligten in einem Unternehmen entdeckt. Dabei sollen jeder und jede gemäß den eigenen Erfahrungen und Fähigkeiten zum Wohle aller eingesetzt werden. Denn Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter entfalten dann ihre höchsten Potenziale, wenn sie sich darauf verlassen können, mit Respekt behandelt zu werden ­ auch was Herkommen, Geschlecht, kulturelle und religiöse Unterschiede betriff t (Diversity-Management). Wertschöpfung kommt durch Wertschätzung zustande. Wer in einem Unternehmen führt, weiß, dass er nur Erfolg haben kann, wenn alle Beteiligten ihr Bestes einbringen. Erfolg ist immer gemeinsamer Erfolg.

    Führungshandeln in der Perspektive des christlichen Glaubens hütet sich deswegen vor der Verabsolutierung der eigenen Interessen und versteht seine Rolle im Sinne eines Treuhänders aller von seinem Tun Betroffenen ­ vor allem im Interesse der Verbesserung der Situation der Schwächeren. Insbesondere die Philosophie von John Rawls hat in den letzten Jahrzehnten deutlich gemacht, dass diese Einsicht nicht allein für Christen, sondern für alle Menschen guten Willens plausibel ist. Für Christen, die mit anderen zusammenarbeiten, bleibt die Ermutigung des Heidelberger Katechismus von zentraler Bedeutung, "dass ein jeder sich schuldig wissen soll, seine Gaben zum Nutzen und Heil der anderen Glieder willig und mit Freude zu gebrauchen" (Heidelberger Katechismus, Frage 55).
  4. Viele Texte in der Bibel werben für eine kluge Haushalterschaft. Das, was den Menschen von Gott an Gaben und an materiellen Ressourcen anvertraut ist, soll nicht gehortet und versteckt werden, sondern zur Sicherung und Entfaltung des eigenen Lebens und zum Nutzen aller in wirtschaftlicher Weise eingesetzt werden. Im Gleichnis von den anvertrauten Talenten (Mt 25,14­30) vertraut der Herr, als er auf Reisen geht, seinen Knechten sein Vermögen an. Bei seiner Rückkehr fordert er Rechenschaft. Er belohnt den, der sein Vermögen gemehrt hat, und bestraft den, der das anvertraute Talent vergraben hat. Gegen einseitig ökonomische Auslegungen muss festgestellt werden: Hinter dieser Geschichte verbirgt sich kein Plädoyer für die höchstmögliche Rendite in kapitalistischen Wirtschaftssystemen. Das Gleichnis ruft vielmehr dazu auf, das Evangelium von der Güte Gottes nicht zu verbergen, sondern es weiter zu tragen und für alle fruchtbar werden zu lassen. Das Bildmaterial aus dem Wirtschaftsleben unterstreicht zunächst nur, dass die Arbeitswelt auch in biblischen Zeiten eine so hohe Bedeutung hatte, dass sie als Material für Gleichnisse besonders geeignet war. Erst in zweiter Linie kann man daraus, wenn überhaupt, konkrete Handlungsanweisungen für wirtschaftliches Handeln ableiten. Das Gleichnis von den anvertrauten Talenten zeigt auf jeden Fall, dass es in einer Welt mit knappen Ressourcen sinnvoll ist, "mit seinen Pfunden zu wuchern". Gottes Gaben ­ Begabungen im persönlichen Sinne, aber auch Güter im wirtschaftlichen Sinn ­ sollen zum Nutzen aller gemehrt werden und damit letztlich Wohlstand und Teilhabe aller ermöglichen.

    Richtig verstanden widerspricht das Gleichnis von den anvertrauten Talenten keineswegs einem anderen Gleichnis, das häufig, ebenfalls in verengter Auslegung, als Gegenprogramm verstanden worden ist: dem Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20,1­16), in dem die angeworbenen Tagelöhner im Weinberg trotz völlig unterschiedlich geleisteter Arbeitszeit am Ende alle den gleichen Lohn erhalten. Entgegen dem ersten Anschein ist dieses Gleichnis nicht als Handlungsanleitung für heutige Unternehmen zu verstehen, allen den gleichen Lohn zu zahlen; es illustriert vielmehr die offenen Arme Gottes auch für die, die als Letzte kommen. Das Gleichnis gewinnt seine Kraft gerade daraus, dass eine gleiche Entlohnung aller auf Widerspruch stößt, weil sie den Gesetzen der Wirtschaft widerspricht. Zudem provoziert es die damaligen Zuhörer wie die heutigen Leser, weil es menschliche Gerechtigkeitsvorstellungen im Blick auf eine leistungsgerechte Vergütung verletzt. Dass Gottes Gerechtigkeit anderen Gesetzen folgt, dass er seine Zuwendung nicht nach der erbrachten Leistung verteilt, sondern sie allen zukommen lässt, die ihrer bedürfen und danach suchen, ist auf dem Hintergrund des jüdisch-christlichen Glaubens zu einem wesentlichen Impuls staatlicher Sozialgesetzgebung geworden. Leistungsgerechtigkeit und Bedarfsgerechtigkeit sind im sozialen Rechtsstaat in ein menschengerechtes Verhältnis zueinander gesetzt. Das Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg fordert also keineswegs eine gleiche Entlohnung. Es macht vielmehr die Problematik einer gerechten Lohnfindung bewusst und darüber hinaus deutlich, dass ­ über das einzelne Unternehmen hinaus ­ eine kluge Verknüpfung von Wirtschaftsund Sozialpolitik im Sinne der Sozialen Marktwirtschaft sinnvoll und ­ vor allem im Blick auf die "Letzten" und "Geringsten" ­ auch notwendig ist.
  5. Eines der zentralen sozialethischen Themen der Bibel ist schließlich das Verhältnis von geistlichen und materiellen Werten. Reichtum wird keineswegs als Übel gesehen. Die Erzväter Abraham, Isaak und Jakob werden als Menschen geschildert, die den Segen Gottes auch darin erfahren, dass sie mit ihren Familien im Wohlstand leben dürfen. Das Streben nach Wohlstand und damit der Aufbau einer produktiven Wirtschaft unterliegen biblisch keiner Kritik ­ sie werden ausdrücklich gewürdigt. Es ist Gottes Auftrag an die Menschen, ihre Fähigkeiten in diesem Sinne "unternehmerisch" einzusetzen. Weil aber solcher Wohlstand auf dem Segen Gottes beruht, wird deutliche Kritik geübt, wenn Menschen sich, wie der reiche Kornbauer in einem anderen Gleichnis Jesu, der seine Scheunen prall gefüllt hatte, allein auf ihren materiellen Reichtum verlassen und meinen, darin Glück und Seligkeit finden zu können. Wo das "Geld" zum höchsten Gut und schließlich zum Götzen wird, ist die Bindung an Gott verloren gegangen; und auch das Recht der Armen ist in Gefahr. In der Geschichte vom reichen Mann und dem armen Lazarus (Lk 16,19­31) wird nicht aus Gründen der Askese verdammt, dass der reiche Mann "sich in Purpur und kostbares Leinen kleidete und alle Tage herrlich und in Freuden lebte" (V. 19). Zum Verhängnis wird ihm, dass er den Armen vor seiner Haustür einfach übersieht, der an seinem Reichtum Anteil zu gewinnen sucht, und dass er die Weisungen des Gesetzes und der Propheten ignoriert. Die in vielen biblischen Texten zum Ausdruck kommende "vorrangige Option für die Armen" hat nicht die Verklärung der Armen oder der Armut zum Ziel. Sie fordert vielmehr ein verantwortliches Handeln, das auch den Schwächeren die Teilhabe am gesellschaftlichen Wohlstand ermöglicht.

    Es geht also bei der Bereitschaft zum sozialen Ausgleich nicht um ein Nebenthema des christlichen Glaubens, das auch beiseite gelassen werden könnte; sondern der Glaube, die Sorge für sich selbst und die eigene Familie und die Sorge um den Nächsten gehören untrennbar zusammen. Natürlich kann ein Unternehmen auch in evangelischer Perspektive keine karitative Einrichtung sein. Wo jedoch eine auf Fairness beruhende Unternehmenskultur gepflegt wird, wo Mitarbeitende eigene Projekte einbringen können, wächst auch der Blick "über den Tellerrand" auf die Fragen der sozialen Gerechtigkeit im eigenen Quartier und weltweit. Der heute zu beobachtende Erfolg von Unternehmern mit betont sozialem Profi l, in denen zum Beispiel soziale Projekte in der Nachbarschaft oder das freiwillige Engagement von Mitarbeitenden ­ auch weltweit ­ gefördert werden, zeigt, dass diese Orientierung nicht nur uneigennützig ist oder gar weltfremd sein muss, sondern auch volkswirtschaftlich und betriebswirtschaftlich gewinnbringend sein kann.
  6. Eine immer wiederkehrende Orientierung der Bibel ist schließlich die Mahnung zur Freiheit von der Sorge. Nach dem Bericht des Matthäus sagt Jesus in der Bergpredigt: "Sorgt nicht um euer Leben, was ihr essen und trinken werdet; auch nicht um euren Leib, was ihr anziehen werdet. Ist nicht das Leben mehr als die Nahrung und der Leib mehr als die Kleidung? Seht die Vögel unter dem Himmel an: Sie säen nicht, sie ernten nicht, sie sammeln nicht in die Scheunen; und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. Seid ihr denn nicht viel mehr als sie? Wer ist unter euch, der seines Lebens Länge eine Spanne zusetzen könnte, wie sehr er sich auch darum sorgt?" (Mt 6,25­27). Für unternehmerisches Handeln ist der Ruf zur Freiheit von der Sorge Herausforderung und Ermutigung zugleich. Er ist Herausforderung, ja, eine Zumutung, für jeden, der Investitionen kalkulieren muss, weil niemand, der verantwortlich unternehmerisch handeln will, auf solche Planungen verzichten kann. Aber gerade weil die Begrenzung der Risiken und Verlässlichkeit in der Zukunftsplanung im unternehmerischen Handeln einen solch zentralen Stellenwert einnehmen, ist der Ruf in die Freiheit von der Sorge zugleich auch Ermutigung. Falsches Sicherheitsdenken, eine Ängstlichkeit, die jede Entscheidung um möglicher Fehler willen fürchtet, und rückwärtsgewandtes Festhalten am einmal Erreichten kann sich nicht auf den christlichen Glauben berufen. Wer weiß, dass er nie tiefer fallen kann als in Gottes Hand, wird auch in schwierigen Situationen gelassen bleiben und mutig entscheiden können. Er wird im Blick haben, dass Geld und Wohlstand letztlich keine zentrale Bedeutung im Leben bekommen dürfen, sondern dass sie auf Zeit anvertraute Güter sind, mit denen wir mutig, verantwortlich und voller Vertrauen in die Zukunft umgehen sollen. Eine solche Haltung darf nicht mit Verantwortungslosigkeit gegenüber den anvertrauten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern verwechselt werden. Sie kann aber verhindern, dass Führungskräfte zu Getriebenen werden. Am Ende geht es darum, aus den eigenen Überzeugungen heraus kluge Entscheidungen in gelassener Distanz zu vermeintlichen Zwängen zu treffen, sachliche Fragen zu klären und die Menschen zu führen.

2.2 Theologisch-ethische Orientierungen

2.2.1 Freiheit in Verantwortung

Der christliche Glaube befreit zur vertrauensvollen Kooperation mit anderen in wechselseitiger Achtung und gegenseitiger Angewiesenheit. Unternehmerische Freiheit in evangelischer Perspektive ist Freiheit in Verantwortung vor Gott und den Menschen. Menschen, die in einem Unternehmen arbeiten, sind in ihrer eigenen Würde zu respektieren. Sie können deswegen nie nur Mittel zum Zweck sein. Die Zehn Gebote, das Gebot der Nächstenliebe, die Goldene Regel und andere Grundlagen des Glaubens sind ein verlässlicher Kompass auch für Unternehmer, die in schwierigen Konfliktsituationen entscheiden müssen.

  1. Zur Qualifizierung unternehmerischer Freiheit und zur Orientierung der in dieser Freiheit zu treffenden Entscheidungen kann das spezifische christliche Verständnis von Freiheit einen besonderen Beitrag leisten. Es kommt in der engen, unauflöslichen Beziehung von Freiheit und Bindung, Freiheit und Dienst zum Ausdruck: Frei ist derjenige Mensch, der sich in Bindung an Gott zum Dienst an den anderen als befreit erleben kann. Freiheit ist nicht auf die Wahlfreiheit des Individuums zu reduzieren, sondern als "kommunikative Freiheit" in Verantwortung vor Gott wie vor den anvertrauten Menschen zu verstehen. In einer nach wie vor unübertroffenen Weise hat Martin Luther diese Beziehung in seiner berühmten Paradoxie in der Schrift "Von der Freiheit eines Christenmenschen" (1520) auf den Punkt gebracht: "Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan ­ Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan." Er und sie sind durch die Zusage der Freiheit befreit ­ innerlich, geistlich von einer ängstlichen Sorge um sich selbst und äußerlich von einer falschen Angst um Leben und Wohlstand, Gesundheit und Sicherheit, um gerade so sein eigenes Leben gelassen zu bewältigen, mit Gottvertrauen vernünftige Entscheidungen zu treffen und auch anderen ein gutes Leben zu ermöglichen. Der Christenmensch ­ so formuliert Luther ­ lebt in Christus durch den Glauben und im Nächsten durch die Liebe.
  2. Ein solches Verständnis von Freiheit, das sich auf den christlichen Glauben gründet, das aber auch durch philosophische Traditionen gestützt wird und für alle Menschen guten Willens einsehbar ist, steht im Widerspruch zu einer bloßen Orientierung an der Nutzenmaximierung. Alle, die im Unternehmen tätig sind, ob Vorstände oder Hilfsarbeiter, sind eben nicht nur Mittel zum Zweck, sondern auch und vor allem Geschöpfe Gottes, geschaffen zu Gottes Bild. Immanuel Kant hat diese Gedanken mit der griffigen Formulierung aufgenommen, alles habe seinen Wert, nur der Mensch habe eine unveräußerliche Würde. Der Begriff der Menschenwürde drückt aus, dass Menschen nie nur reine Mittel zum Zweck ­ zum Beispiel der Gewinnmaximierung ­ werden dürfen, sondern immer zugleich Zweck an sich sind. In den sozialen Menschenrechten, die im UN-Pakt von 1966 festgehalten und auch von Deutschland unterschrieben worden sind, ist dieses Verständnis von Menschenwürde konkretisiert worden. Bei aller notwendigen funktionalen "Nutzung" der Menschen in den Unternehmen auf der Grundlage ihrer Arbeitsverträge darf ihre Würde nicht beeinträchtigt werden.
  3. Beschäftigte sind allerdings selbstverständlich auch Mittel zum Zweck. Arbeitsplätze werden geschaffen, um etwas zu produzieren ­ und dies so günstig, dass es sich am Markt behaupten kann. Die Unternehmen bedienen sich dazu der Beschäftigten im eigenen Betrieb, aber auch in Zuliefererbetrieben vor Ort und weltweit. Wenn die Mitarbeiter aber in ihren grundlegenden menschlichen Bedürfnissen missachtet und damit in ihrer Würde ignoriert werden, werden sie darauf reduziert, Mittel zum Zweck zu sein. Eine solche Reduzierung von Beschäftigten auf das Mittel zum Zweck drückt sich aus, wenn Entlassungen nicht nur als allerletzte Möglichkeit eingesetzt, sondern allein zur Erhöhung von ohnehin hohen Gewinnen vorgenommen werden. Sie drückt sich aus, wenn Unternehmen Mitarbeitende in Schwellenländern zu Hungerlöhnen beschäftigen und sie unter Bedingungen arbeiten lassen, die Leben und Gesundheit gefährden oder, wenn Kinder ohne Schulabschluss arbeiten müssen. Sie drückt sich aus, wenn Beschäftigte sich hierzulande nicht mehr trauen, im Krankheitsfall zu Hause zu bleiben oder zum Arzt zu gehen, oder auch, wenn im Unternehmen ein Klima herrscht, in dem alle menschliche Kommunikation allein dem wirtschaftlichen Unternehmenszweck untergeordnet wird und das soziale Gefüge keine Rolle mehr spielt. Menschen werden als solche in einem Unternehmen wahrgenommen, wenn sie nicht nur funktional als Arbeitskraft, sondern auch als Person mit ihrer eigenen Biografie und ihrem persönlichen Umfeld gesehen werden. Wer diese Perspektive teilt, wird auch grundsätzlich für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, Gesundheitsschutz und Fortbildungsmöglichkeiten sowie für die Möglichkeit zur Interessenvertretung durch Gewerkschaften und Betriebsräte eintreten und nicht zuletzt Verantwortung dafür übernehmen, dass Mitarbeitende und Partner weltweit unter menschenwürdigen Umständen arbeiten.
  4. Es gibt gute Gründe und deutliche Hinweise aus den Ergebnissen der Sozial- und Wirtschaftsforschung für die Annahme, dass ein Unternehmen, das sich auf die hier entwickelten Grundorientierungen gründet, auch beste Chancen hat, wirtschaftlich erfolgreich zu sein. Ohne die Herausbildung von Vertrauen unter allen Beteiligten kann wirtschaftliches Handeln nicht nachhaltig sein. Ethische Maßstäbe sind allerdings nur dann wirklich tragfähig, wenn sie nicht allein aus taktischen Gründen zur Imagepflege eingesetzt werden, sondern aus Überzeugung in die Unternehmenskultur eingehen und das Handeln und Verhalten aller Beteiligten prägen. Unternehmen gewinnen auf diese Weise so etwas wie Charakter und Persönlichkeit. Man kann sich auf sie verlassen und macht gerne mit ihnen Geschäfte, weil stets deutlich wird, dass es nicht nur um Geschäfte geht ­eine Erfahrung, die viele mit Handwerksbetrieben und Dienstleistern im eigenen Stadtteil machen. Das öffentliche Entsetzen über aufgedeckte Fehltritte oder Doppelmoral in großen Traditionsunternehmen, die zum Teil über Jahrzehnte für eine besondere Unternehmenskultur standen, zeigt, wie viel Vertrauen in ethischen Fragen auf dem Spiel stehen kann ­ aber auch, dass mit dem Vertrauensverlust in der Regel wirtschaftliche Einbrüche verbunden sind.
  5. Wo sich die Freiheit unternehmerischen Handelns an christliche Grundorientierungen gebunden weiß, wird sich solches Handeln nicht nur seiner großen Möglichkeiten, sondern auch seiner Grenzen bewusst sein. Diese sind dort überschritten, wo Lebensbereiche einer rein wirtschaftlichen Betrachtungsweise unterworfen werden. Unternehmerisches Handeln bleibt eine lebensdienliche Aktivität in der Schöpfung Gottes neben anderen; es kann andere Aktivitäten wie politisches oder karitatives Handeln nicht ersetzen, es soll aber auch nicht alles beherrschen. Das geschieht zum Beispiel dort, wo Unternehmen ständige Erreichbarkeit und absolut flexible, ruhelose Arbeitszeiten verlangen, die keinen Abstand zur Tätigkeit mehr erlauben. So sehr im christlichen Glauben das Tätigsein für die Sicht des Menschen grundlegend ist, so sehr hat es heilsame Grenzen, ohne deren Einhaltung der Mensch sich selbst zerstört. Der Sonntag ist das kulturelle Symbol für dieses Wissen und die soziale Grundlage für jene gelassene Distanz, die Mitarbeitende wie Unternehmer für eine produktive Arbeit brauchen.
  6. Für den christlichen Glauben bleibt Freiheit ein unverfügbares Geschenk Gottes in Jesus Christus. Gott befreit vom Gesetz als einem Mittel der Selbstrechtfertigung durch Leistung. Er befreit von der Macht der Sünde und der Täuschung, die eigene Schwächen kaschiert und zu kurzfristigem Gewinn führen mag, das Leben aber in Lüge verkehrt. Er befreit schließlich von der Macht des Todes, der die Verzweiflung mit sich bringt. Diese Freiheitserfahrung wird auch durch gegenteilige Lebenserfahrungen nicht aufgehoben, denn sie verdankt sich nicht menschlicher Leistung. Dies lässt sich vielleicht am besten in den Situationen erleben, in denen wir die Arbeit aus der Hand legen oder aus der Hand legen müssen ­ auch in Erfahrungen von Fehlern und Scheitern. Wer, wie Unternehmer und Manager, täglich Entscheidungen triff t, wird unvermeidlich auch Fehlentscheidungen treffen und sich dabei vielleicht sogar schuldig machen ­ an Arbeitnehmern oder Kunden, an der eigenen Familie und Gesundheit. Wer Risiken eingeht, kann auch scheitern. Überforderungsgefühle und Ängste sind deshalb auch denen nicht fremd, die an der Spitze von Unternehmen stehen. Gerade Spitzenmanagern droht heute bisweilen sehr schnell der Absturz ­ wenn auch oft durch höchste Abfindungen aufgefangen. Der christliche Glaube muss Schuld und Scheitern nicht verdrängen oder kaschieren, er enthält vielmehr das Angebot, sie in Gottes Hand zu legen und so Befreiung zu erfahren.
  7. Die Berufung zur Freiheit bedeutet in evangelischer Perspektive auch den Verzicht auf ethische Einzelvorschriften, an die sich evangelische Unternehmer halten müssten. Unternehmer stoßen mit konkreten Leitlinien immer an Grenzen, da sie sich immer wieder mit völlig neuen Situationen konfrontiert sehen. Deswegen kommt es auf die grundlegenden Orientierungen an. Grundlagentexte des Glaubens wie die Zehn Gebote, das Doppelgebot der Liebe und die Goldene Regel sind ein verlässlicher Kompass auch für Unternehmer, die in schwierigen Konfliktsituationen entscheiden müssen. Die Zehn Gebote geben etwa mit der Mahnung, nicht zu stehlen und andere nicht zu verleumden oder ihnen mit Falschaussagen zu schaden, konkrete Orientierungen für den Alltag wirtschaftlichen Handelns. Zu den Grundgeboten zählt auch das Doppelgebot der Liebe, das die Liebe zu Gott, die Selbstliebe und die Liebe zum Nächsten untrennbar miteinander verbindet und das von Jesus als "das Gesetz und die Propheten" (Mt 22,40), also als die Zusammenfassung aller Ethik bezeichnet wird. Diese Ethik ist für alle Menschen guten Willens einsehbar. Deswegen steht die Formel vom "Gesetz und den Propheten" auch am Ende der "Goldenen Regel", die sich in vielen Religionen und Kulturen findet und in Deutschland auch sprichwörtlich geworden ist ­ "Was Du nicht willst, das man Dir tu, das füg' auch keinem andern zu". Sie wird in der Bergpredigt Jesu zur Herausforderung für einfühlsames, fantasievolles Handeln, das das Interesse der anderen stets vorausschauend im Blick hat: "Alles, was ihr wollt, dass euch die Leute tun, das tut ihr ihnen auch. Das ist das Gesetz und die Propheten" (Mt 7,2).

    Diese Grundorientierungen geben der unternehmerischen Freiheit ein ureigenes evangelisches Profi l. Evangelische Freiheit verbindet die Entscheidungsfreiheit und die schöpferische Kraft des Individuums, die allgemein als Markenzeichen unternehmerischen Handelns gelten, mit der Verantwortung für die Mitmenschen und der Orientierung an der gerechten Teilhabe aller.

2.2.2 Berufung zum unternehmerischen Handeln

In christlicher Sicht erwächst die Motivation zu unternehmerischem Handeln aus Gottes Berufung. Sie ermutigt den Einzelnen, Verantwortung für sich und andere an seinem konkreten Ort zu übernehmen.

  1. In seinem Roman "Die Buddenbrooks" erzählt Thomas Mann vom Niedergang eines Unternehmens über mehrere Generationen. Dabei wird deutlich, dass es für die Führung eines Unternehmens nicht genügt, Erbe und Bestand, eine Marke oder einen großen Namen zu wahren, sondern dass ein Unternehmen je nach den Herausforderungen zu Marktes immer wieder riskiert und "neu erfunden" werden muss. In Familienunternehmen wie in Handwerksbetrieben ist deshalb der Übergang auf die nächste Generation eine besonders kritische Schwelle. Sind Erben tatsächlich zur Unternehmensführung "berufen", also bereit, zu erwerben und zu besitzen, was sie "von den Vätern ererbt" haben (J. W. Goethe)? Berufung in diesem Sinne ist mehr als eine Profession; sie umfasst zugleich die berufliche Motivation des Unternehmers. Neben dem Wunsch nach Unabhängigkeit gehört dazu auch die Freude daran, die eigenen Ideen "ins Leben zu rufen", ein Unternehmen zu gründen und sich damit auf dem Markt durchzusetzen. Personalität, Auftragsgewissheit und Gemeinschaftsorientierung gehören auch nach biblischem Verständnis zur göttlichen "Berufung". Wenn in der Bibel von der Berufung des jungen Samuel zum Propheten erzählt wird (1 Sam 3), dann wird zugleich deutlich, dass weder der alte Priester Eli, bei dem Samuel in die Lehre geht, noch dessen Söhne Ohren haben, den Ruf Gottes zu hören. Berufung vererbt sich nicht. Das Wissen und die Erfahrung, was Berufung beinhaltet, können zwar weiter gegeben werden. Das bewahrt aber nicht davor, neue Herausforderungen zu verschlafen. Wer seine Berufung wahrnehmen will, muss deshalb wach sein und den eigenen "Auftrag" mutig in die Tat umsetzen.
  2. Seit der Reformation hat die Vorstellung vom "Beruf" in der protestantischen Tradition einen besonderen Stellenwert. Mit der Begrifflichkeit des Berufs wird die auftragsgemäße, tätige Entwicklung und Nutzung der von Gott gegebenen Fähigkeiten auf einen prägnanten Begriff gebracht. Der Beruf bezeichnet die Schnittstelle zwischen der individuellen Bestimmung eines Menschen und den Anforderungen der Gemeinschaft. Wer seine, von Gott ihm zugeeignete Berufung erkennt, kann in der Spannung zwischen seinen Eigeninteressen und seinem Dienst für andere den eigenen konkreten Platz in der Gesellschaft finden und dort eine legitime Interessenentfaltung entwickeln. Sie ist jedoch nur dann und so weit legitim, als sie sich nicht verselbstständigt, sondern an die Gebote Gottes gebunden und im Dienst für andere realisiert werden. Zur modernen Freisetzung von moralisch fragwürdigen Verhaltensweisen wie Gier und Geiz steht sie folglich im Widerspruch. Auch der Beruf des Unternehmers ist in dieser Sichtweise auf den christlichen Glauben bezogen. Die Motivation zu einem ökonomischen Handeln in hoher Qualität speist sich aus der Pflicht, den Ruf in die Verantwortung wahrzunehmen und die eigenen Gaben zum Nutzen aller fruchtbar zu machen ­ und erst sekundär aus der mit diesem Tun verbundenen Befriedigung durch Erfolgserlebnisse oder Gewinne. In gewisser Weise bedeutet dies, dass im Beruf die Dinge um ihrer selbst willen ­ um Gottes und des Nächsten willen ­ getan werden. Das aber steht in deutlicher Spannung zum neuzeitlichen Wirtschaftsstil, bei dem der Erfolg an der Börse zum entscheidenden Kriterium zu werden droht. Berufliche Tätigkeit kann nach Martin Luther als Gottesdienst im Alltag der Welt begriff en werden und erreicht damit die Dimension, die bereits mit der Vorstellung der menschlichen Arbeit als Mitarbeit in Gottes Schöpfung angesprochen worden ist.
  3. Die Berufsidee ist in der Geschichte der Neuzeit vor allem für freie Berufe und so auch zur Begründung und Legitimation unternehmerischen Handelns unmittelbar plausibel gewesen. Dies galt allerdings von Anfang an weniger im Hinblick auf rein ausführende Tätigkeiten. Heutzutage wird sie durch den starken Zwang zur Flexibilisierung und zum schnellen Wechsel von einem "Job" zum anderen mehr und mehr ausgehöhlt. Das Berufsverständnis darf deshalb nicht zu statisch aufgefasst und auf bestimmte Tätigkeiten zugespitzt werden. Berufung lässt sich auch heute als Gottes Ruf zum Einsatz von durch Bildung und vielfältige Erfahrungen vertieften Fähigkeiten und zur Übernahme von Verantwortung begreifen ­ zur Selbsterhaltung und im Dienst am Nächsten. Das tätige Dasein gerät damit in den Zusammenhang umfassender Sinnstiftung.
  4. Im Beruf vereinen sich so die funktionalen Anforderungen der Gesellschaft und die Talente bzw. "Neigungen" des jeweiligen Unternehmers mit ethischen Prinzipien. So wie in der gesamten Gesellschaft gilt auch für die in Berufen tätigen Menschen, dass nur Respekt, Vertrauen und Ehrlichkeit unter allen Beteiligten die Aufrechthaltung einer produktiven wirtschaftlichen Dynamik ermöglicht. Die Bildung wirtschaftlichen Kapitals setzt auch moralisches Kapital voraus, da Vertrauen und Fairness untrennbar zu erfolgreichem Wirtschaften gehören. Misstrauen und Unfairness führen zu Kontrollmechanismen, die teuer sind und doch oft umgangen werden können. Damit sich Vertrauen einstellt, muss es als solches wertgeschätzt werden. Wenn die Geschäftswelt ohne moralischen Kompass arbeitet, dann schwindet das moralische Kapital der Gesellschaft, das auch für das persönliche Handeln unabdingbar ist. Deswegen ist eine im christlichen Glauben verankerte ethische Orientierung in der beruflichen wie in der politischen Bildung wichtig; denn sie kommt der Gesellschaft im Ganzen zugute.
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