Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive

Eine Denkschrift des Rates der EKD, Hrsg. Gütersloher Verlagshaus, 2008, ISBN 978-3-579-05905-1

Anlass und Zielsetzung der Denkschrift

Unternehmerisches Handeln ist für die wirtschaftliche Entwicklung entscheidend. Ihm wird zur Bewältigung zunehmender weltweiter sozialer und ökologischer Probleme eine weiter wachsende Bedeutung zukommen. Diese Situation erfordert es, dass auch die evangelische Kirche ihr Verhältnis zum unternehmerischen Handeln präzisiert. Ausgehend vom Leitbild der gerechten Teilhabe aller an den gesellschaftlichen Möglichkeiten ermutigt dieser Text zu einer verantwortlichen Gestaltung der Wirtschaft, die sich an grundlegenden ethischen Maßstäben orientiert.

  1. Mit dem vorliegenden Text legt die Evangelische Kirche in Deutschland Analysen und Empfehlungen für verantwortliches wirtschaftliches Handeln in Deutschland vor. Sie konzentriert sich auf die Frage des "unternehmerischen Handelns" als eines der wichtigsten Triebkräfte marktwirtschaftlicher Ökonomie und nimmt so eine Problematik in den Blick, die für die Zukunft sozialer Gerechtigkeit und den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen unseres Planeten von großer Bedeutung ist. Insbesondere im Kontext der Globalisierung wird unternehmerisches Handeln in jüngster Zeit häufig kritisch wahrgenommen. Abbau und Verlagerung von Arbeitsplätzen, Managergehälter und Mindestlöhne, Steuer- und Standortprobleme stehen im Fokus der Aufmerksamkeit. Es ist nicht leicht, sachgerecht über die Herausforderungen zu sprechen, vor denen nicht nur die deutschen Unternehmen, sondern auch die Ordnung der Sozialen Marktwirtschaft angesichts des weltweiten Wettbewerbs stehen. Unser Land braucht aber überzeugende, glaubwürdige und tatkräftige Unternehmer und ein positives Leitbild für unternehmerisches Handeln, wenn das Vertrauen der Menschen in die Wirtschaft wieder gewonnen werden soll. Mit dem Ende der planwirtschaftlichen Wirtschaftssysteme ist die Dynamik des Wirtschaftens in einer Marktwirtschaft neu in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt, weil sie - im Vergleich zu anderen modernen Wirtschaftsordnungen - am besten geeignet ist, Wohlstand für viele und eine soziale Mindestsicherung für alle zu schaff en.
  2. Der Zeitpunkt, zu dem dieser Text erstellt wird, ist nicht zufällig. Wir erleben weltweit eine Veränderung des "Geistes der Wirtschaft" (Max Weber). Die global vernetzte Welt weitet die Handlungsfelder aller beträchtlich aus. Freiheit als Möglichkeit für Handel und Wachstum, Eigenständigkeit und Verantwortung, Entwicklung und Mobilität, aber auch das Risiko des Scheiterns und des Verlustes sozialer Sicherheit nehmen zu. Gleichzeitig verstärken sich die Veränderungen, denen sich die Menschen stellen müssen. Sie fühlen sich weniger eingebunden und versorgt. In dieser Situation ist von vielen immer mehr gefordert, sich "unternehmerisch" zu betätigen, etwas aus und mit ihrem Leben zu machen und dafür ein hohes Maß an Aktivität und Selbstverantwortung an den Tag zu legen. Gerade diese Erwartungen überfordern jedoch viele und erzeugen das Gefühl, auf sich allein gestellt zu sein.
  3. Längst nicht alle Menschen verfügen über die Möglichkeiten und Fähigkeiten, sich entsprechend auf den Märkten inner- und außerhalb der Unternehmen zu behaupten. Manche Existenzgründungen sind eher Verzweiflungstaten angesichts drohender oder bereits eingetretener Arbeitslosigkeit. Inzwischen gibt es auch in Deutschland vereinzelt bedenkliche Formen von Selbstständigkeit. Das gilt insbesondere, wenn Unternehmen ehemalige Mitarbeiter mit der selbstständigen Übernahme von Unternehmensbereichen beauftragen, den Bereich also auslagern (outsourcen) und Mitarbeitende zu Selbstständigen machen, die Risiken tragen, die sie nicht kontrollieren können. In solchen Fällen ist die selbstständige Tätigkeit mit eigenem Risiko für die Betroffenen keine Entwicklungschance, sondern eine Zumutung ohne soziale Absicherung. Nicht jede Form von Selbstständigkeit ist von vornherein positiv.
  4. Gerade in unserer heutigen Situation in Deutschland ist deutlich geworden, dass sich hoher Wohlstand und die Beteiligung möglichst aller an der Gesellschaft nicht nur durch Verteilung des bereits vorhandenen Vermögens erreichen lässt. Von zentraler Bedeutung ist die beständige Neuschaffung von Reichtum und seiner Nutzung als Wohlstand für möglichst viele. Ohne unternehmerisches Handeln ist das nicht möglich, und die Motivation dazu muss daher gerade auch ein Thema der christlichen Ethik sein. Das Streben nach einem angemessenen Wohlstand, um ihn für sich selbst und für die Gemeinschaft zu nutzen, ist in sich nicht verwerflich - auf ihm kann durchaus der Segen Gottes ruhen. Allerdings sind mit dem Streben nach Reichtum und mit der Verwendung von Einkommen und Vermögen zwei Fragen verbunden: zum einen die nach einem gerechten Ausgleich, zum anderen die, welche Werte letztlich zählen. Die Bibel macht deutlich, was moderne Forschungen bestätigen: dass sinnvolles und erfülltes Leben nicht allein vom Wohlstand abhängt, sondern dass Gemeinschaft und soziale Geborgenheit eine wesentliche Rolle spielen.
  5. Wirtschaftliches Handeln ist auch durch die Belastungen und Zerstörung unserer Umwelt herausgefordert. Seine zukünftige Wertschätzung wird nicht zuletzt dadurch bestimmt, wie weit es sich in der Begrenzung ökologischer Risiken als wirksam erweist. Dazu gilt es, neue Energiequellen zu erschließen und einen effizienteren Umgang mit Energie zu fördern. Zahlreiche Unternehmen engagieren sich hier bereits. Erforderlich sind darüber hinaus energische Schritte von Wirtschaft, Politik und Verbrauchern zugunsten einer nachhaltigen Wirtschaftsweise, d. h. eines auf langfristigen Erfolg und zukünftige Generationen und nicht auf kurzfristige Renditesteigerung ausgerichteten Wirtschaftens.
  6. Das Leitbild der Nachhaltigkeit entspricht einem zentralen Grundzug biblischer Theologie mit der biblischen Verheißung "Die Erde ist des Herrn und was darinnen ist, der Erdkreis und die darauf wohnen" (Ps 24,1). Eingebunden in eine Lebensgemeinschaft mit allen Geschöpfen kommt dem Menschen die besondere Verantwortung zu, die Erde zu bebauen, d. h., sie zu kultivieren, zu einem bewohnbaren Lebensraum zu gestalten und als solchen zu bewahren (1 Mose 2,15). Heute begreifen wir, dass dieser Auftrag mit einem willkürlichen und ausbeuterischen Umgang des Menschen mit der Natur unvereinbar ist. Gott nimmt den Menschen als Sachwalter für die Welt in die Pflicht, ihr mit Ehrfurcht zu begegnen und schonend, haushälterisch und bewahrend mit ihr umzugehen. In einem solchen Handeln wissen sich Christen allen verbunden, die sich für den Schutz der Natur einsetzen.
  7. Die vorliegende Denkschrift soll einen neuen Dialog von Kirche und Wirtschaft fördern, der die zwischen christlichem Glauben und wirtschaftlichem Handeln immer wieder entstehenden Spannungen produktiv wendet. Er richtet sich an Menschen, die in christlicher Verantwortung Wirtschaft und Politik gestalten, aber auch an Verbraucher, die bewusst Verantwortung wahrnehmen wollen. Er soll Initiativen anstoßen, die im Sinne der beschriebenen Verantwortung ausgerichtet sind. Und er soll schließlich Pfarrer und aktive Gemeindeglieder dazu ermutigen, Unternehmern und unternehmerischem Handeln Wertschätzung zukommen zu lassen und eine verantwortliche unternehmerische Mentalität zu fördern.
  8. Dabei schließt diese Denkschrift ausdrücklich an die in der Denkschrift: "Gerechte Teilhabe. Befähigung zu Eigenverantwortung und Solidarität" (2006) entwickelte Perspektive auf eine gerechte Gesellschaft an. Sie muss so gestaltet sein, dass Menschen ihre Talente erkennen, ausbilden und produktiv für sich selbst und andere einbringen können. Das erfordert ein Bildungswesen, das für alle tatsächliche Chancengleichheit am Beginn des Lebens sichert, in dieser Hinsicht besonders Kinder aus sozial schwächeren Familien fördert und die Möglichkeit gibt, die erworbenen Kompetenzen später im Berufsleben einsetzen zu können, also über einen bezahlten Arbeitsplatz zu verfügen. Unternehmer haben in diesem Rahmen eine wichtige gestaltende Rolle: von ihrem Handeln hängt die Umsetzung möglichst großer Chancen für alle wesentlich ab.
  9. Zudem wird in dieser Schrift - in sachlichem Zusammenhang mit dem "Gemeinsamen Wort von EKD und Deutscher Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage: Für eine Zukunft in Gerechtigkeit und Solidarität" (1997) - auf die große Bedeutung hingewiesen, die eine stimmige Wirtschafts-, Sozial- und Bildungspolitik in Zukunft für die Gestaltung der Sozialen Marktwirtschaft hat. Insbesondere für den Bereich der Wirtschaft werden verbesserte Regeln der Transparenz und einer durchgestalteten und gesicherten fairen Wettbewerbsordnung eingefordert. Diesen Regelungen kommt in Bezug auf die Wirtschaft die gleiche Bedeutung zu, wie sie für den einzelnen Menschen tatsächliche Chancengleichheit hat.

    Wie im "Gemeinsamen Wort der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz zur Zukunft unseres demokratischen Gemeinwesens: Demokratie braucht Tugenden" (2006) wird auch in diesem Text auf die unter komplexen Bedingungen immer wichtiger werdende persönliche Verantwortung der einzelnen Bürger in Wirtschaft und Politik hingewiesen. Unternehmen wie politische Institutionen können auf Dauer ihre Funktion nur dann erfüllen, wenn die Handelnden Grundhaltungen erkennen lassen, die über Strategieregeln des Erwerbs und Erhalts von Macht und Einfluss - oder auch von Wohlstand und Reichtum - hinausgehen. Nur wenn eine demokratische Haltung, geschäftlicher Anstand und insgesamt bürgerliche Tugenden in der Gesellschaft gepflegt werden, bildet sich das notwendige Vertrauen heraus, ohne das sich auch wirtschaftliche Prozesse nicht nachhaltig gestalten lassen.
  10. In diesem Text ist grundsätzlich von unternehmerischem Handeln oder von Unternehmern und Managern die Rede. Dabei darf nicht vergessen werden, dass Unternehmerinnen, Managerinnen, Gründerinnen bislang tatsächlich nur eine kleine Minderheit in der Unternehmerschaft bilden. Seit sich in der späten Industrialisierungsphase das Konzept des "heroischen Einzelkämpfers" durchsetzte, wurde Unternehmertum als männliche Angelegenheit wahrgenommen, der zunächst ein durch die Familie geprägter, weiblicher Lebensentwurf von Frauen gegenüberstand. Auch wenn zurzeit erhebliche Anstrengungen im Blick auf die Vereinbarkeit von Beruf und Familie unternommen werden, haben die entsprechenden Rollenbilder vermutlich bis heute Auswirkungen auf die Gründungsneigung und Wachstumsorientierung von Unternehmerinnen. Dieser Text will auch dazu ermutigen, im Bereich unternehmerischen Handelns zu mehr Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen zu kommen.
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