Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive

Eine Denkschrift des Rates der EKD, Hrsg. Gütersloher Verlagshaus, 2008, ISBN 978-3-579-05905-1

3. Unternehmertum und Soziale Marktwirtschaft

Die in Deutschland entwickelte gesellschaftspolitische Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft als Gegenentwurf sowohl zu planwirtschaftlichen als auch zu rein wirtschaftsliberalen Vorstellungen fordert eine schlüssige Verknüpfung von hoher wirtschaftlicher Dynamik durch die staatliche Sicherung funktionierenden Wettbewerbs mit sozialer Gerechtigkeit als Voraussetzung für breiten Wohlstand. In ihr verwirklichen sich ursprünglich protestantische Werthaltungen.

  1. So wichtig das ethische Handeln des Einzelnen in den vielschichtigen Zusammenhängen der Wirtschaft ist, so notwendig bleibt es, einen Ordnungsrahmen zu schaff en, der eben solches Verhalten und fairen Wettbewerb fördert und unfairen bestraft. Eben dies ist das Ziel der gesellschaftspolitischen Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft. An ihrer Gestaltung waren Protestanten von Anfang an führend beteiligt. Aus christlicher Sicht musste es nach 1945 insbesondere darum gehen, die sterile Gegenübersetzung von selbstloser Nächstenliebe und eigensüchtiger Ökonomie im Interesse hoher Wirtschaftsleistung zu überwinden, ohne doch die Ansprüche an den Schutz der Schwachen und das Interesse am sozialen Ausgleich abzuschwächen. Ein harter Wettbewerb auf den Märkten ­ der schon in sich zum Ausgleich der Eigeninteressen führen kann ­ bedarf, um zielgerichtet zu sein, seiner Einbettung in soziale und kulturelle Voraussetzungen. Hierzu zählt die Idee der Gerechtigkeit ebenso wie die der vor Gott rechenschaftspflichtigen und in diesem Sinne selbstverantwortlichen Unternehmerpersönlichkeit. Diese grundlegenden Akzentuierungen machen die damaligen Überlegungen bis heute attraktiv. Ohne kulturelle und religiöse Orientierungen, die einen Rahmen für das wirtschaftliche Handeln des Einzelnen wie für die Wirtschaftsordnung geben, kann es sich leicht destruktiv entwickeln.
  2. Der normative Ansatz der klassischen Sozialen Marktwirtschaft ist deutlich: Träger und treibende Kraft allen Wirtschaftens ist der Einzelne, der sich unter Einschluss des Bemühens um persönlichen Vorteil mit seinen spezifischen Fähigkeiten einbringt, mit anderen kooperiert, aber sich auch gegen andere Wettbewerber durchsetzen muss. In einem Ordnungsrahmen, der sowohl scharfen Wettbewerb als auch sozialen Ausgleich sichert, kann dieses Streben nach persönlichem Wohlergehen zugleich zum Wohlstand aller führen. Dahinter steht die bereits durch den klassischen Liberalismus entwickelte Vorstellung, dass keine noch so kompetente und mächtige Zentralinstanz je in der Lage sein wird, jene Menge an Wissen und Informationen zusammenzubringen, die in der Gesamtheit aller Beteiligten vorhanden ist und zur Nutzung bereitsteht. Daher gilt es, möglichst viel von dem hier schlummernden "Kapital" zu aktivieren und in ökonomische Energie zum Wohle der Gesamtheit umzusetzen.
  3. Charakteristisch ist, dass dieser Systemansatz nicht vorrangig auf moralische Appelle für richtiges und gerechtes Handeln der einzelnen Wirtschaftssubjekte baut. Er nimmt den Menschen in gewisser Weise so, wie er ist ­ und wie er in der Bibel immer wieder realistisch beschrieben wird ­ und vertraut auf die Triebkraft des Eigeninteresses und der Selbstverantwortlichkeit des Einzelnen. Wenn der Wettbewerb funktioniert, werden weder Konsumenten noch Arbeitnehmer ausgebeutet und es gibt keine Diskriminierung, da derjenige, der diskriminiert, einen Wettbewerbsnachteil erleidet. Funktioniert diese Ordnung, so führen die wettbewerbsgetriebenen Aktivitäten der Wirtschaftssubjekte nicht nur zu hoher Effizienz, sondern begrenzen auch die staatliche Regulierung auf das Notwendigste und sorgen so für mehr Freiheit.
  4. Dieser klassische ­ auch Ordo- (oder Neo-) Liberalismus genannte ­ Ansatz wurde im Wesentlichen von Walter Eucken und der "Freiburger Schule" in den frühen 40er-Jahren entwickelt. In ihm kommt die Unzufriedenheit mit der überkommenen deutschen Tradition der wirtschaftlichen Selbstregulierung in Form von Kartellen zum Ausdruck, wie sie das Wirtschaftsgeschehen seit dem 19. Jahrhundert prägten. Allerdings spielte bei Eucken das sozialpolitische Element keine tragende Rolle. Für ihn war das reibungslose Funktionieren der Märkte der beste Garant für das Wohlergehen der Menschen. Dieser Aspekt hat sich in der Folgezeit jedoch nicht durchsetzen können, weil deutlich wurde, dass die Marktdynamik allein noch nicht Wohlstand für alle gewährleisten kann. Der Markt kann aus sich heraus weder die Solidarität noch die Gerechtigkeit erzeugen, die für sein nachhaltiges Funktionieren grundlegend sind. Deswegen muss der Staat Rahmenbedingungen setzen und ihre Einhaltung kontrollieren. Insbesondere Alfred Müller-Armack hielt eine umverteilende Sozialpolitik als Ergänzung des wettbewerblichen Wirtschaftsgeschehens für unerlässlich, um soziale Gerechtigkeit herbeizuführen. Allerdings sollten bei jeder entsprechenden Maßnahme die Auswirkungen auf den Markt berücksichtigt werden. Die beiden sozialen Elemente im Euckenschen System ­ Machtbegrenzung und gute Güterversorgung ­ wurden somit um den Gedanken einer staatlichen Einflussnahme auf die Verteilungsergebnisse des Marktprozesses erweitert. In dieser Form ist die Soziale Marktwirtschaft zum Markenzeichen für das Bild Deutschlands in aller Welt geworden. Im verschärften Wettbewerb der globalisierten Wirtschaft wird heute zunehmend deutlich, dass es nicht nur der Machtbegrenzung, sondern auch der Befähigung zur Übernahme unternehmerischer Verantwortung bedarf. Die Denkschrift "Gerechte Teilhabe" hat deutlich gemacht, welche gesellschaftlichen Initiativen dafür notwendig sind und was die christlichen Kirchen dazu beitragen können.
  5. Die Soziale Marktwirtschaft ist kein statisches Konzept, sondern hat sich immer weiter entwickelt. Angesichts der ökologischen Bedrohung ist es in den letzten Jahren im Blick auf ein verantwortliches wirtschaftliches Handeln zu einer breiten Diskussion des christlichen Schöpfungsverständnisses gekommen. Wesentliches Ergebnis dieser Diskussion ist, dass die biblische Schöpfungserzählung keine Ermächtigung zur schrankenlosen Ausbeutung der Natur bedeutet, sondern eine Segensverheißung darstellt, der die Menschen aktiv gerecht werden sollen. Allerdings ist sie zu einer Zeit formuliert worden, in der die Natur sehr viel mehr als heute als feindliches Gegenüber erlebt wurde. Die dem Menschen heute gegebenen Möglichkeiten, auf die Natur einzuwirken, reichen dagegen sehr viel weiter. Gerade heute ­ da die Zerstörung der Natur sich zunehmend gegen den Menschen selbst wendet ­ gewinnt eine Haltung der Achtung gegenüber den natürlichen Lebensgrundlagen wieder eine besondere Bedeutung. Unternehmerisches Handeln bedarf deshalb der ständigen Prüfung, in wie weit es nachhaltig ist und die Interessen kommender Generationen im Blick hat. Eine primär auf kurzfristige Gewinnsteigerung zielende Unternehmensstrategie wirkt hingegen zerstörerisch. Für die Zukunft ist eine ökosoziale Marktwirtschaft gefordert.
  6. Die von der Sozialen Marktwirtschaft geprägte Unternehmenskultur ist stärker als andere durch das Bestreben gekennzeichnet, innerbetriebliche Probleme im Konsens zu lösen; dazu gehören die Institutionalisierung der Arbeitnehmermitbestimmung auf Betriebsebene und die Mitbestimmung in großen Kapitalgesellschaften. Auch das Verständnis der betrieblichen Ausbildung als gesamtgesellschaftlicher "Bringschuld" der Unternehmen, der hohe Stand von Arbeitsschutz und Arbeitssicherheit und schließlich auch die Rolle der Wirtschaft in der Selbstverwaltung der großen Sozialversicherungen gehören zu dieser Prägung. Anders als das Modell eines reinen Shareholder-Kapitalismus will das deutsche Modell alle Stakeholder ­ also alle Anspruchsgruppen, darunter insbesondere auch die Arbeitnehmer ­ in der Unternehmenspolitik systematisch berücksichtigen und damit eine auf Langfristigkeit ausgerichtete Perspektive entwickeln.
  7. Alle diese Elemente und Errungenschaften sind nicht mehr so unumstritten wie noch vor wenigen Jahren. Manch ein Skeptiker hält sie mit Blick auf die von der Globalisierung ausgehenden Zwänge für überholt und hemmend oder bezeichnet sie sogar als schwerwiegendes Hindernis bei der Bewältigung der notwendigen Anpassungen. Vielfach wird der besondere deutsche Stil der Marktwirtschaft mit der Verbreitung korporatistischen Verhaltens in Zusammenhang gebracht. Dabei sind die Verwendung und die jeweilige Bedeutung des Begriffs Korporatismus durchaus unterschiedlich. Im engeren Sinne geht es darum, die konsensorientierte Form einer engen Zusammenarbeit zwischen den Tarifpartnern bei der Lohnfindung, in der Unternehmensteuerung (Mitbestimmung) oder auch bei politischen Programmen wie der "Konzertierten Aktion" oder dem "Bündnis für Arbeit" zu beschreiben. Das umfasst auch die weitgehend selbststeuernde Kooperation verschiedener Partner in den großen Institutionen der sozialen Sicherungssysteme. In einem weiteren Sinne wird mit dem Begriff des Korporatismus aber auch das ursprünglich enge Geflecht zwischen großen deutschen Unternehmen und insbesondere den Banken bezeichnet ­ die so genannte "Deutschland AG". Dieses System trug in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik Deutschland zu einer hohen Selbstregulierung der deutschen Wirtschaft als Ganzer bei, begrenzte gegebenenfalls als schädliche empfundene Konkurrenz und sorgte für personelle Verflechtungen in den Vorständen und Aufsichtsräten, erzeugte aber damit auch den Eindruck einer geschlossenen Gesellschaft. In dieses System waren die Gewerkschaften eingebunden und konnten sich damit als mitverantwortlicher Teil der Wirtschaft verstehen. Der Staat konnte davon ausgehen, dass dieser Mechanismus wesentliche Streitfragen zu regeln vermochte, und deswegen auf allzu konkrete politische Regelungen verzichten. Auch wenn man diese Form einer korporatistischen Selbstregulierung der Martkbeziehungen von innen deutlich von den klassischen Kartellen unterscheiden muss, ist sie mit einer recht verstandenen Konzeption der Sozialen Marktwirtschaft nur schwer vereinbar, begünstigt sie doch wettbewerbsschädliche Machtballungen und die Konzentration der Produktionsmittel in den Händen von Monopolen. Gerade dies muss durch die Etablierung und Gewährleistung eines staatlich gesetzten Ordnungsrahmens nachhaltig verhindert werden.

    Ausgelöst durch die Notwendigkeiten der Neuaufstellung der deutschen Wirtschaft angesichts der verschärften Konkurrenzsituation der globalisierten Wirtschaft hat sich dieses überkommene Geflecht der Kooperation denn auch weitgehend aufgelöst oder ist aufgrund politischer Entscheidungen bewusst überwunden worden. Ausgangspunkt dafür war vor allem die neue Rolle der Großbanken als Folge der Veränderungen auf den Finanzmärkten, die eine größere Öffnung des deutschen Systems für das weltweit operierende Kapital erzwangen. In der Folge verminderte sich die Selbstregulierungskraft des deutschen Korporatismus. Mängel und Fehler des alten Systems wie mangelnde Transparenz, ein Hang zur Kungelei, Anfälligkeit für Korruption und damit insgesamt mangelnde Effizienz wurden in Medien und Politik deutlicher zur Sprache gebracht. In den derzeitigen Veränderungsprozessen gilt es, die grundlegende Idee der Sozialen Marktwirtschaft in einem neuen, globalen Horizont politisch aufzunehmen und zu gestalten. Die Dynamik des globalen Wettbewerbs erfordert eine neue ordnungspolitische Klärung der Rolle von Unternehmen in der Sozialen Marktwirtschaft ­ und dies auch im Hinblick auf deren Mitverantwortung bei der Gestaltung des Ordnungsrahmens.
  8. Damit ist auch die Verantwortung der Politik gewachsen, der Wirtschaft Rahmenbedingungen vorzugeben und ihre Einhaltung zu prüfen ­ eine Verantwortung, der die nationale Politik insbesondere mit internationalen Vereinbarungen gerecht werden muss. Dabei gerät das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft in immer mehr Ländern in der Welt, nicht zuletzt in den von der Globalisierung wirtschaftlich am stärksten profitierenden Schwellenländern, zunehmend ins Blickfeld des Interesses. Gerade diese Länder erkennen, dass das einseitige Setzen auf eine rasante Wirtschaftsentwicklung zu großen inneren Verwerfungen führt und den gesellschaftlichen Zusammenhalt bedroht. Sie stellen einen enormen Nachholbedarf im Bereich des Sozialen fest. Es ist gerade Deutschland, von dem man besonders wertvolle Hilfe und sogar konkrete Beratung erwartet. Damit könnte sich das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft als Modell für die Stärkung der sozialen Dimension der Globalisierung entpuppen. Auch für unternehmerisches Handeln und die damit verbundenen Entscheidungen bleibt es das Leitbild. Dies sollte dann auch dazu führen, dass der weltweite Wettbewerb um Arbeitsmärkte und Produktionsstandorte stärker in die Bahnen von Fairness, Gerechtigkeit und Menschlichkeit gelenkt wird.
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