Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive

Eine Denkschrift des Rates der EKD, Hrsg. Gütersloher Verlagshaus, 2008, ISBN 978-3-579-05905-1

5. Unternehmerisches Handeln und Konsumenten

Unternehmen nehmen Verbrauchererwartungen auf und formen sie. Konsumenten erkennen immer deutlicher, dass es sich lohnt, ihre Kaufentscheidungen bewusst wertorientiert zu vollziehen, und tragen so dazu bei, dass sich Märkte stärker an moralischen Orientierungen ausrichten. Wirtschaft und Politik müssen an dieser Stelle für mehr Transparenz sorgen.

  1. Die Herstellung von Produkten und das Bereitstellen von Dienstleistungen für Endverbraucher erwachsen aus einer Vorwegnahme der Bedürfnisse der Menschen bzw. ihres kaufkräftigen Bedarfs. Unternehmerisches Handeln bewährt sich in dieser Hinsicht oder es scheitert: Produkte, die sich nicht verkaufen lassen, belasten die Erträge der Firmen und müssen vermieden werden. Aus diesem Grund richtet sich alles Bestreben der Unternehmen darauf, genau das zu produzieren, wofür die Menschen bereit sind, Geld auszugeben. In dieser Hinsicht ist ein Unternehmen dann erfolgreich, wenn es besonders gut mit den Konsumenten kommuniziert. Abgesehen von auch immer wieder auftretenden Versuchen, Käufer "über den Tisch zu ziehen", die aber nur kurzfristige Erfolge zeitigen können, muss diese Kommunikation ein Dialog auf Augenhöhe sein. Es geht darum, dem Käufer oder der Käuferin genau das anzubieten, was ihren individuellen Wünschen und Bedürfnissen, ja, ihrem Lebensstil entspricht und ihren Sehnsüchten nahekommt. Gelingt dies, kann es zur erwünschten Kundenbindung kommen. Dadurch wächst den Konsumenten eine große Entscheidungs- und Marktmacht zu, an der sich die Unternehmen ausrichten müssen. Ein Versuch der Unternehmen, diese Abhängigkeit zu vermindern, besteht darin, bestimmte Felder der Bedürfnisbefriedigung zu monopolisieren (z.B. durch die Bildung von Marken) und Produkte zu entwickeln, die weit davon entfernt sind, Bedürfnisse zu befriedigen, sondern sie überhaupt erst wecken. Selbstbewusstsein, Einkaufskompetenz und Unterscheidungsfähigkeit der Konsumenten als "kundige Kunden" werden deshalb immer wichtiger.
  2. Die Versorgung der Bevölkerung der westlichen Industrienationen mit Grundgütern ­ bis hin in Bereiche der Unterhaltungs- und Kommunikationstechnik hinein ­ ist heute weitgehend gesichert. Primäre und sekundäre Bedürfnisse können schnell und relativ preisgünstig abgedeckt werden ­ innovatives, auf Gewinn zielendes unternehmerisches Handeln lohnt sich heute oft erst oberhalb dieser Bereiche und Märkte. Jeder Besuch in einem Supermarkt zeigt: Die Zahl der Produkt- und Markenalternativen wird nicht kleiner. Neue Produkte müssen deswegen einen erkennbaren Mehrwert über das rein Nützliche hinaus aufweisen. Es geht insofern längst nicht mehr um die Deckung eines notwendigen Bedarfs an Produkten ­ wirtschaftliches Handeln ist nur dann erfolgreich, wenn es darüber hinaus geht und neue Wünsche weckt. Das bedeutet in vielen Fällen nichts anderes, als dass neue Märkte erst durch das Wecken von neuen Bedürfnissen geschaffen werden. Die entsprechenden Produkte überraschen die Kunden, die gar nicht wussten, dass sie sich diese Dinge oder Dienstleistungen insgeheim schon immer wünschten. Oft ist die Einlösung der Versprechen jedoch überhaupt nicht kontrollierbar. Zudem wird nicht selten ein eigentlich ökologisch und zunehmend auch gesundheitlich unvernünftiges Verhalten angestachelt, wie es sich zum Beispiel beim Ernährungsverhalten in ernährungsbedingten Krankheiten zeigt.
  3. Verkauft werden folglich Träume, Wünsche, Inszenierungen: letztlich Sinn. Man geht nicht mehr in ein Kaufhaus, um ein bestimmtes Bedürfnis zu befriedigen, sondern um sich anzuschauen, welche Bedürfnisse man überhaupt haben könnte. Wo Träume sind, da sind Märkte ­ gehandelt wird letztlich mit Symbolen. Mit der Symbolökonomie hat die Wirtschaft eine neue Dimension erreicht: Produkte und Güter werden mit Emotionen aufgeladen, um sie bei den Konsumenten verankern zu können. Die Verantwortung unternehmerischen Handelns reicht damit weiter als im Fall der Herstellung von Gütern zur primären Bedürfnisbefriedigung, denn nun werden Produkte verkauft, die sozusagen "nach der Seele greifen" können; auf jeden Fall großen Einfluss auf die inneren Befindlichkeiten der Menschen haben. Wenn es um "emotionale Dienstleistungen" oder "moralische Produkte" geht, sollte das entsprechende Marketing zurückhaltend mit der Zuschreibung von Identität stiftenden Eigenschaften sein. Produkte und Dienstleistungen haben keine "Seele" ­ schon gar nicht eine, die sich kaufen ließe. Weit mehr noch als bei klassischen Produkten spielen folglich ethische Kriterien eine Rolle.
  4. In diesem immer stärker werdenden Geflecht von Sehnsüchten, Wünschen, Produkten und Vermarktungsstrategien kommt auch den Konsumenten erhöhte Verantwortung ­ aber auch gewaltige Macht ­ zu. Letztlich hängt aller Erfolg der Unternehmen allein davon ab, dass die Konsumenten auch tatsächlich das konsumieren, was ihnen angeboten wird. Tun sie dies aus irgendwelchen Gründen nicht, können ganze Branchen ins Rutschen geraten. Die Zurückhaltung beim Konsum kann ganz unterschiedliche Gründe haben ­ so hat sich in Deutschland seit langem eine vergleichsweise hohe Sparquote herausgebildet, die anscheinend mit existenziellen Ängsten und Vorsorgeerwägungen zu tun hat. Konsumzurückhaltung kann sich allerdings auch an bestimmten zu Recht stigmatisierten Produkten entzünden; Kinderarbeit, Rassismus und die Verschmutzung der Tiefsee waren in den letzten Jahren Anlass für Kampagnen auch christlicher Gruppen, nicht zuletzt der Frauenverbände. Frauen haben die Macht der Konsumenten früh ins Bewusstsein gerufen; aus diesem Grunde ist in diesem Abschnitt in der Regel ausdrücklich von Verbraucherinnen und Verbrauchern die Rede. Auch fair gehandelte Produkte haben in den letzten Jahren durch bewusste Kaufentscheidungen von immer mehr Kunden erheblich an Umsatz gewonnen. Ein erhöhtes Verantwortungsbewusstsein der Konsumenten gilt es zu fördern und durch eine offensive und öffentliche Standardisierungspraxis zu unterstützen. Dazu sind starke Verbraucherorganisationen nötig. Dies gilt umso mehr, als Verbraucher und Verbraucherinnen in der Regel allein und privat entscheiden und deswegen kaum in der Lage sind, alle Faktoren in den Blick zu nehmen, die auf die Herstellung eines Produktes eingewirkt haben. Die Berücksichtigung ökologischer Standards hat sich weitgehend durchgesetzt. Wünschenswert wäre eine noch stärkere Berücksichtigung der Sozialstandards in den Herstellerländern durch die Verbraucherinnen und Verbraucher.
  5. Medienberichte über Entwicklungs- und Schwellenländer haben vielen die Augen dafür geöffnet, unter welchen Arbeits- und Umweltbedingungen Sportartikel, Mode, Blumen oder Fleisch produziert werden. So ist eine wachsende Zahl von Menschen inzwischen bereit, für bestimmte Produkte hoher ökologischer oder anderer Qualität mehr Geld auszugeben. Das entspricht dem wohlverstandenen Eigeninteresse genauso wie dem Wunsch nach Fairness und einer intakten Umwelt. In dem Maße, in dem Konsumenten Güter und Dienstleistungen nachfragen, bei deren Produktion soziale und ökologische Kriterien erfüllt worden sind, die über gesetzliche Vorgaben hinausgehen, können die Unternehmen zur Übernahme von mehr gesellschaftlicher Verantwortung veranlasst werden.
  6. Das Anheizen einer Mentalität des Billigeinkaufs um jeden Preis durch die Werbung, das sich gar noch der Attribute von "Todsünden" bedient ("Geiz ist geil"), ist kein verantwortliches Verhalten, selbst wenn es in der Tat Bevölkerungsgruppen gibt, die ­ auch um den Preis der Qualität ­ auf sparsames Wirtschaften angewiesen sind. Wo Menschen als Verbraucherinnen und Verbraucher alles tun, um möglichst preisgünstige Produkte kaufen zu können, auch wenn sie unter menschenunwürdigen Arbeitsverhältnissen produziert wurden, werden sie ihrer Verantwortung nicht gerecht. Ihr Verhalten ist zudem widersprüchlich, wenn sie als Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gleichzeitig um den Verlust ihrer Arbeitsplätze durch Auslagerung in besonders billig produzierende Entwicklungs- und Schwellenländer fürchten. In der Aufklärung über diese Sachverhalte liegt eine wichtige Herausforderung für Verbraucher- und Arbeitnehmerorganisationen, aber auch für Kirchen und ökumenische Netzwerke.
  7. Ergänzend zu Mechanismen der Selbstregulierung der Wirtschaft kann die Politik an dieser Stelle Vorgaben machen. Sie kann den Schutz der Verbraucher vor eigennützigem Verhalten der Unternehmen verbessern, durch den Abbau von Markteintrittsbeschränkungen die Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs sichern und den Erfolg von Innovationen am Markt fördern. Höchstmögliche Transparenz sorgt für aufgeklärte Verbraucher, die ihre Kaufentscheidungen nicht allein vom Preis des Produktes abhängig machen. Kennzeichnungspflichten z.B. im Hinblick auf Gesundheitsgefährdungen und Umweltbelastungen wie auch auf soziale Indikatoren des Produkts (Fair Trade, Kinderarbeit) können dies gewährleisten. Eine entsprechende Politik ist kein Hemmschuh für unternehmerisches Handeln, sie kann vielmehr geradezu zum Motor notwendiger Veränderungen werden. Über die Gestaltung der Strukturen des privaten Konsums und eine Verbesserung des Wettbewerbs werden indirekt positive Effekte für die wirtschaftliche Entwicklung erzeugt.
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