Für uns gestorben

Die Bedeutung von Leiden und Sterben Jesu Christi. Ein Grundlagentext des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) Gütersloher Verlagshaus 2015

V. »Für uns gestorben« – Wiederentdeckung des Kreuzes?

Die Entwicklungen der Frömmigkeit haben zu immer neuen Veränderungen im Glaubensalltag geführt. Und auch der Stellenwert des "Für uns gestorben" für die persönliche Frömmigkeit hat Wandlungen erfahren. Neben den Veränderungen sind am Ausgang des 20. Jahrhunderts etliche offene Fragen zu konstatieren.

1. Mentalitätswandel - die Jahrtausendwende

Wie bereits im Übergang vom Pietismus zur Aufklärung ist heute eine Verschiebung hin zu einer stärker österlich geprägten Frömmigkeit zu beobachten, die vor allem das Geschenk des neuen, ewigen Lebens betont. Die Vergegenwärtigung des Geschenkes aber konzentriert sich nun vor allem auf die Feiertage, das ist an den heutigen Predigten ebenso zu erkennen wie an den Äußerungen der Gemeindefrömmigkeit. Ein weiteres, in der Aufklärungszeit bereits aufgetretenes Phänomen ist, dass das Kirchenjahr stark zu den individuellen Lebenszyklen in Beziehung gesetzt wird, anders gesagt: Die Feste des Kirchenjahres werden weniger von ihrem theologischen Gehalt als vielmehr vom eigenen Leben her verstanden (Weihnachten - Geburt, Ostern - Leben usw.). Zugleich mehren sich die Stimmen derer, die mit der Botschaft von Christi Sterben und Auferstehen "für uns" große Probleme haben.

Die öffentliche Haltung in unserer Gesellschaft ist vielstimmig und oft auch diffus. Eine offizielle Würdigung erfährt der Karfreitag als staatlicher Feiertag zunehmend weniger, dennoch ist immer wieder ein "Karfreitagsbewusstsein" zu erkennen. Über die Ursachen kann man lange spekulieren, eine Möglichkeit könnte, neben anerzogenem Respekt, vielleicht das Gespür für die Notwendigkeit sein, das eigene Sterben und die Ungewissheit über ein "Danach" zu bedenken. Jedenfalls ist - trotz des unbefangeneren Umgangs der privaten Fernsehsender - der Karfreitag immer noch an spezifischen Fernsehprogrammen erkennbar (Historienfilme über das frühe Christentum, Evangelienverfilmungen und weitere "ernste" Themen). Ebenso gibt es mindestens in den Kulturkanälen der Sender thematisch ausgerichtete Rundfunksendungen.

Insgesamt ist allerdings von einem Auseinanderfallen der Gesellschaft in Christen, ob distanziert oder zur Kerngemeinde gehörig, und Nicht-Christen zu sprechen. Unter den Christen gibt es wiederum solche, die den äußeren Anlass eines kirchlichen Feiertags als Anstoß erleben, an Christi Leben, Sterben und Auferstehen bewusst zu denken, und andere, die im Alltag und an Festen gleichermaßen ihr Leben von innen heraus, aus ihrem Glauben an diesen Christus gestalten.

So gibt es widersprüchliche Momentaufnahmen: Manche versuchen, ihren Glauben unter Absehung vom Kreuz zu bestimmen, sie möchten eher "wie Jesus", nicht "an Christus" glauben. Andere finden Halt für sich in der äußeren Gestaltung ihres Lebens durch die Stationen des Kirchenjahres. Wieder andere leben ihren Glauben aus der Erinnerung an ihre Taufe, beginnen und beenden ihren Tag unter dem Kreuzeszeichen. Ähnlich unterschiedlich sind die Reaktionen der nichtchristlichen Öffentlichkeit auf das Wort vom Kreuz: Gleichgültigkeit, Belächeln und Marginalisierung begegnen ebenso wie Angriff oder interessierte Offenheit. Von manchen Kanzeln ist zu hören, dass die Botschaft vom Sterben Jesu Christi "für uns" den heutigen Menschen nicht mehr zumutbar sei, dies gelte noch einmal besonders für diejenigen, die nicht zur Gemeinde gehörten. Der Opfergedanke sei überholt. Doch trifft das eigentlich zu? Angesichts des Ergriffenseins vieler Menschen von der Passion Jesu Christi und seinem Kreuz lassen sich hier auch Gegenbeispiele anführen.

2. Frömmigkeit nach Noten - Passionskonzerte

In jedem Frühjahr bilden sich Menschenschlangen vor Kirchentüren, wenn zu Passionsmusiken eingeladen wird. Nachdem sie eingelassen wurden, sitzen die Menschen auf harten Bänken und hören viele Stunden lang Musik an, die einige hundert Jahre alt ist und die sie in ihrem Alltag nicht unbedingt hören möchten. Die Texte zu dieser Musik, vor allem die dichterischen, fänden sie unzeitgemäß, wenn man sie ihnen zu lesen gäbe. Sie würden feststellen, dass die Worte vom Verstand nicht mitzuvollziehen seien, Gestalten einer Frömmigkeit, die mit ihrem Leben nichts mehr zu tun habe. Doch sie hören die Texte ja nicht isoliert, sondern zusammen mit der Musik Johann Sebastian Bachs. Darum setzen sie sich dieser Erfahrung aus, die sie dann - oft sehr tief - berührt.

Die Musik berührt ihre Hörer trotz des historischen Abstands, trotz denkerischer Einwände, trotz nüchterner Aufgeklärtheit auch in Fragen der Religion. Sie vermittelt etwas, das kaum in Worte zu fassen ist. Vermutlich würden die Konzertbesucher nicht versuchen, dieses "etwas" auszudrücken, weil es eine so starke, manchmal erschütternde innere Erfahrung ist, ihr ganz privates Gefühl. Nicht immer und nicht bei jedem, doch bei vielen von ihnen handelt es sich dabei um eine geistliche Erfahrung, die etwas anstößt, immerhin so nachhaltig, dass sie im folgenden Jahr die Erfahrung erneut suchen.

Warum entfalten die Passionen Bachs solche Wirkungen? Sie können es, weil Bach sich in das Geheimnis des Glaubens an Christus sehr tief hineingefühlt und es zugleich theologisch denkend zu erfassen gesucht hat. Er komponiert, wie in den letzten Jahrzehnten immer deutlicher geworden ist, nicht nur aus einer tiefen persönlichen Frömmigkeit heraus, sondern aus einer guten Kenntnis lutherischer Kreuzestheologie, wie sie weiter oben entfaltet wurde (s.o. S. 76-86). Beides vermittelt seine Musik, beides wird von den Hörerinnen und Hörern mehr oder weniger bewusst aufgenommen. Die Sprache seiner Musik spricht den Gehalt der Worte dem einzelnen Menschen zu, sie spricht in ihn hinein, ob sein Verstand dem inhaltlich zustimmen würde oder nicht. Die Musik Bachs artikuliert seine Angst, seinen Schmerz, seine Zuversicht, seine Freude. Sie bindet alle diese Gefühle in eine geformte Gestalt ein und macht sie so ertragbar. Darin dürfte eine wesentliche Ursache dafür liegen, dass Bachs Passionen auch solche Menschen unter das Kreuz führen und ihnen Trost vermitteln, die den entsprechenden theologischen Sätzen nicht zustimmen können oder wollen.

Freilich bleibt diese Wirkung oft auf das Gefühl beschränkt. Sie wird nicht weiter reflektiert und nicht in bewusste Zuversicht überführt, damit bleibt sie anfechtbar und zerbrechlich. Dennoch kann die Musik auch bei den kirchenfernen Hörerinnen und Hörern eine Stärkung angesichts des Todes bewirken - ihr kritischer Verstand mag es belächeln, doch ihr Herz wünscht die Hoffnung.

3. Auf Golgatha dabei - Jesusfilme

Engel und Teufel, Himmel und Hölle, Erlösergestalten, Mystikerinnen, Ordens- oder Kirchengründer, Wallfahrtsorte, Geschichten von Opfern und Rettern - das alles hatte und hat Konjunktur in den Kinos, sogar mit zunehmender Tendenz. Kommerzielle Filme wie "Terminator 2" (1991), Matrix (1999) oder die "Herr der Ringe"-Trilogie (2001-2003) verwenden viele neutestamentliche Motive: Die Bereitschaft zum Opfertod rettet Menschenleben; es wird keine zornige Macht beschwichtigt, sondern der Liebe wird gegen den Hass zur Durchsetzung verholfen. Beobachtungen dieser Art sind nicht auf die Filmindustrie zu beschränken. Auch Fernsehsender haben die Engel entdeckt und produzieren Miniserien zu biblischen Büchern oder Gestalten, die sie bevorzugt um kirchliche Feiertage herum ausstrahlen. Die Gestalt Christi ist davon nicht ausgenommen.

Die ersten Jesusfilme wurden gegen Ende des 19. Jahrhunderts gedreht, seitdem wird die Lebens- und vor allem Leidensgeschichte des Jesus von Nazareth immer wieder neu verfilmt, mehr oder weniger schriftgemäß, vom "König der Könige" (1960) und Pasolinis "Das 1. Evangelium - Matthäus" (1964) über "Jesus Christ Superstar" (1972), Zefirellis "Jesus von Nazareth" (1976), Scorceses "Die letzte Versuchung Christi" (1988) und "Jesus von Montreal" (1989) bis zu Gibsons "Die Passion Christi" (2003) und der filmischen Adaptation von C.S. Lewis "Narnia" (2005).

Alle diese Filme sind Interpretationen des Evangeliums, alle sind auf ihre Weise Verkündigung, manche sind Erfolgsfilme geworden. Alle finden ihre "Gemeinde", die keineswegs nur aus bekennenden Christenmenschen besteht. Diese Gemeinde akzeptiert im Kino sogar eine fast barocke Blut- und Wundenfrömmigkeit, die sie - käme sie von der Kirche - zurückwiese. Außerdem ist zu beobachten, dass auch in viele andere kommerzielle Filme Elemente klassischer Karfreitagsfrömmigkeit eingewandert sind, als Beispiele sind etwa Camerons "Titanic" (1997) oder die Filme Tarantinos und Eastwoods zu nennen. Was sehen die Zuschauerinnen und Zuschauer in diesen Filmen? Was nehmen sie mit?

Verschiedenes ist denkbar: Faszination durch das Besondere mag eine Rolle spielen, vielleicht ein Wissen, mindestens auf der Ebene des Gefühls, um die Gültigkeit des Opfergedankens, um die Wahrheit des Satzes "Leben lebt von Leben". Viele werden nicht losgelassen von dieser anstößigen Geschichte, die wie ein Stachel festsitzt. Dabei sind sie möglicherweise auf der Suche nach einer Erklärung, die es ihnen erlauben könnte, den Gedanken daran endgültig beiseite zu legen. Im besten Fall entsteht Beunruhigung durch die Frage, was wäre, wenn es wirklich so gewesen wäre, wenn da einer für die Menschen, "für uns" gestorben wäre, wenn es eine Befreiung aus Schuldverstrickungen gäbe, und wenn die Liebe wirklich stärker wäre als der Tod.

4. Vermittlungsversuche - Neue Lieder

Im Jahr 2010 hat die Evangelische Kirche von Kurhessen-Waldeck zusammen mit der Stiftung zur Förderung des Gottesdienstes neue Passionslieder gesichtet. Die Jury hatte die Qual der Wahl aus 289 Texten und 596 Melodien. Die beiden erstplatzierten Lieder seien kurz vorgestellt.

  1. "In einer fernen Zeit" (Otmar Schulz): Zunächst betrachtet der Dichter die Passion: "In einer fernen Zeit gehst du nach Golgatha, erduldest Einsamkeit, sagst selbst zum Sterben ja. Du weißt, was Leiden ist. Du weißt, was Schmerzen sind, der du mein Bruder bist, ein Mensch und Gottes Kind." Der Angesprochene, Jesus, bringe sein Leben dar, sterbe verlassen den Kreuzestod und lebe im Leiden vor, "was wirklich trägt und hält". Die Bitte um eine innere Erfahrbarkeit des Ostergeschehens beschließt das Lied: "Erstehe neu in mir. Erstehe jeden Tag. Erhalte mich bei dir, was immer kommen mag." - Das Lied trägt Züge der Frömmigkeit der Aufklärungszeit: Das Geschehen liegt historisch in der Ferne. Es betont die Menschheit Christi und zeichnet ihn ebenso als Vorbild wie als Bruder im Leiden, einem Leiden freilich, das die Folter ausspart und vor allem das seelische Leid thematisiert. Wichtig sind dem Dichter die individuelle Bedeutung des Geschehens im Hier und Jetzt und die Wendung hin zum Osterereignis.
  2. "Manches Holz ist schon vermodert" (Ilona Schmitz-Jeromin): "Manches Holz ist schon vermodert, manches Holz ist frisch geschlagen. Bei dem Kreuz, mit Blick zum Himmel sammeln sich in diesen Tagen Splitter der Erinnerung, Trauer, die wir in uns tragen." Der Karfreitag dient als Anstoß, das Wort neu zu hören, und das ist für die Gemeinde von größter Bedeutung, denn: "Mancher Trost ist tief verborgen, mancher Trost will Hoffnung wagen, bei dem Kreuz, mit Blick zum Himmel leuchten auf in diesen Tagen Träume der Erinnerung, Gottes Worte, die uns tragen." - Das Lied verlässt den Karfreitag nicht, versucht vielmehr, aus ihm Zuspruch zu gewinnen, wobei allerdings der Trost lediglich durch Erinnerung gewonnen wird. Die Dichterin zeigt dabei eine Tendenz zum Vergleichen der Passion Christi mit anderem, innerem Leiden, auch dem Leiden der singenden Gemeinde. Das Geschehen liegt in ebenso ferner Zeit wie im ersten Lied, auch hier wird die körperliche Ebene ausgespart.

Beide Lieder sind Versuche, eine neue Sprache für das Evangelium von Christi Sterben und Auferstehen "für uns" zu finden, eine Sprache, die Menschen der Gegenwart anspricht. Verglichen mit den Jesusfilmen und ihrem Umgang mit dem Opfer gehen die Dichter sehr schonungsvoll vor, die Härten der Evangelien mildernd, in vergangene Zeiten entrückend. Der Hinweis auf den Text des Rappers Thomas D in dessen Song "Vergebung hier ist sie" aus dem Album "Kennzeichen D" von 2008 am Beginn dieses Textes macht zudem deutlich (s.o. S. 18), dass durchaus auch in nichtkirchlichen Zusammenhängen Texte entstehen, die in solchen Zusammenhänge von Interesse sein sollten.

5. Jeder nach seiner Fasson - Individualisierung

Es gibt sehr unterschiedliche Möglichkeiten für die Christen, auf das Evangelium von Christi Sterben und Auferstehen "für uns" in ihrer gelebten Frömmigkeit zu reagieren, soviel hat der kleine Durchgang durch die Frömmigkeitsgeschichte gezeigt. Doch während in vergangenen Epochen zumeist je eine spezifische Reaktionsweise dominierte oder die verschiedenen Frömmigkeitshaltungen jedenfalls auf bestimmte Gruppen oder Schichten beschränkt waren, finden wir nun alle denkbaren Varianten nebeneinander, in der Kirche insgesamt, sogar in den Gemeinden.

Die Vielfalt wird noch einmal größer, wenn der Blick auf die Gesellschaft hinzukommt, hier reichen die Möglichkeiten von Leugnung über Gleichgültigkeit bis hin zur Faszination, auch wenn diese zunächst ohne erkennbare Folgen bleibt. So kann es vorkommen, dass die Sängerin eines Kirchenchores alle Passionsgottesdienste meidet, die Matthäuspassion als reines Chorwerk mitsingt und dann froh ist, dass die Stimmung danach wieder österlich ist, hell, fröhlich und lebenszugewandt. Ihr Arbeitskollege, der mit der Kirche weiter nichts zu tun hat, besucht die Aufführung der Passion und setzt sich der ausgesprochen klaren lutherischen Kreuzestheologie, die Bach vermittelt, erschüttert aus.

Die Individualisierung, die unsere Zeit ebenso wie neue Formen forcierter Vergemeinschaftung bestimmt, hat viele gute Seiten: Sie gibt Freiheit, nötigt nicht zu Sichtweisen, gegen die sich das Denken oder Fühlen zur Wehr setzt, sondern ermöglicht die Wahl. Auf der anderen Seite ist die Notwendigkeit der Wahl oft eine Überforderung, und statt bunter Fülle empfinden viele nur Verwirrung. Und es gibt eine Gefahr: Unbequeme Wahrheiten können ausgeblendet werden, und auf diese Weise könnte diejenige Wahrheit, die allein im Leben und Sterben wirklich Bestand hätte, dem freien Individuum verloren gehen.

6. Was festzuhalten bleibt

In der Betrachtung von Leiden und Sterben Jesu Christi hat es immer Wandlungen gegeben, Pendelbewegungen zwischen verschiedenen Polen: von der selbstverständlichen Grundlage des Alltags zum besonderen Feiertag, vom Mitempfinden mit Christus zur Betrachtung des Vorbildes, von der Betonung des Kreuzes zu der des Osterfestes. Doch jeder christlichen Frömmigkeit, gleich welcher Form oder Zeit, ist das Ganze anvertraut und zugemutet, denn nur beides zusammen - Kreuz und Ostern, Tod und Auferstehung - ist eine verlässliche Lebensgrundlage; das hatte schon der Blick auf die biblischen Grundlagen deutlich gemacht (s.o. S. 25). Die biblischen Texte provozieren weiter dazu, die Frage nach dem Sinn des Leidens "für die Vielen" zu stellen, die mittelalterliche Satisfaktionstheologie zwingt zum Nachdenken über die Folgen menschlicher Schuld, aber auch sündhafter Gottverlassenheit, die reformatorische Kreuzestheologie zeigt den, der als Gott und Mensch zugleich am Kreuz leidet und dessen versöhnendes Handeln im Abendmahl neu gegenwärtig wird. Elemente dieser Reaktionen auf alt- wie neutestamentliche Texte im Denken wie Leben des Christentums sind nicht vergangene Geschichte, sondern werden immer wieder neu gegenwärtig, werden transformiert und müssen daher immer wieder neu angeeignet werden.

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