Für uns gestorben

Die Bedeutung von Leiden und Sterben Jesu Christi. Ein Grundlagentext des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) Gütersloher Verlagshaus 2015

III.2. Vorreformatorische Lehrtraditionen

2.1 Antike und Mittelalter

Bis heute lassen sich die Nachwirkungen unterschiedlicher Lehrtraditionen der Vergangenheit auffinden. Im Blick auf das Verständnis von Leiden und Sterben Jesu Christi sind vor allem mittelalterliche Lehrentwicklungen bedeutsam, die freilich nicht immer ganz leicht zu verstehen sind.

Die antiken griechischsprachigen Theologen hatten in der von ihnen formulierten Erlösungslehre die Befreiung des Menschen von den Mächten der Sünde und des Todes in den Vordergrund gestellt. Der alexandrinische Bischof Athanasius (299—373 n. Chr.) sieht in seiner Schrift »Über die Menschwerdung des göttlichen Wortes« im Tod Jesu Christi am Kreuz nicht nur ein Lösegeld, sondern versteht darunter die öffentlich sichtbare Aufhebung des Todes durch den Tod Christi (insbesondere Kapitel 6-9; 16; 21). Auf diese Weise wird zugleich auch die Gottheit Jesu Christi betont: Nur Gott kann durch sein Schöpferwort den Tod aufheben. Dagegen hob der lateinischsprachige Westen in der Tradition des nordafrikanischen Bischofs Augustinus vor allem den Schuldcharakter der den Menschen von Gott trennenden Sünde hervor und betonte die göttliche Gnade als Hilfe und Heil. Dies konnte sich insbesondere in der griechischen Theologie, aber durchaus auch in der lateinischen mit der Ansicht verbinden, dass die Menschheit seit dem Sündenfall in den Einflussbereich des Satans geraten sei, der damit das Anrecht erworben habe, über die Menschheit zu herrschen. Erst durch das Kommen Christi sei ihm dies wieder streitig gemacht worden. Vor diesem Gedankenhintergrund konnte man eine »Loskauftheorie« entwickeln, die davon ausging, dass der im Spannungsfeld der Mächte lebende Mensch durch Leiden und Sterben Christi sozusagen freigekauft wird. Sie setzte bei bestimmten biblischen Stellen an (so beispielsweise Mk 10,45, wo das Leben Jesu als »Lösegeld für die Vielen« beschrieben wird, oder 1Petr 1,18) und wurde bei prominenten antiken Theologen wie Irenaeus von Lyon, Origenes und Augustinus weiter und durchaus mit sehr unterschiedlicher Akzentuierung entfaltet, wobei die Bildlichkeit des verwendeten Bildes vom Loskauf diesen genannten Autoren jedenfalls durchaus bewusst blieb. In der Rezeption solcher Gedanken in der Frömmigkeit breiterer Kreise ging jedoch diese Dimension der Vorstellung vom »Loskauf« offenbar bald verloren.

2.2 Satisfaktionslehre von Anselm von Canterbury

Die von dem mittelalterlichen Ordenstheologen Anselm von Canterbury (1033—1109) entfaltete »Satisfaktionslehre« emanzipiert sich von diesem Bild des Loskaufs. Anselm macht deutlich: Es wäre ja absurd, wenn Christus dem Satan dessen angebliches Recht auf die sündige Menschheit abkaufen müsste. Der Teufel hat auf nichts und niemanden Rechtsansprüche. Allein auf das Verhältnis zwischen Gott und Mensch kommt es an. Die mit der Sünde verknüpfte Schuld des Menschen wiegt schwer. Der Mensch hat sich selbst in eine furchtbare Gottesferne hineinmanövriert und ist Tag für Tag dabei, sich und die Welt in eine lebensfeindliche Unordnung zu stürzen. Diese Unordnung verletzt ihren Schöpfer Gott, entwürdigt und entehrt ihn. An dieser Unordnung gehen auch die Menschen selbst zugrunde. Früher oder später vernichtet sie der Tod. Menschliche Schuld ist nicht trivial. Sie hat ein ungeheures lebenzerstörendes Gewicht. Dieses Problem treibt Anselm wie viele, wenn nicht die meisten Menschen des Mittelalters um. Anselms Frage ist, wie diese tödliche, lebenzerstörende Kraft mit dem Namen »menschliche Schuld«, wie diese Unordnung wieder in Ordnung gebracht werden kann — um des Lebens willen. Anselm gibt Antwort, indem er behauptet: Die Menschheit und die Ordnung können gerettet werden. Dafür muss die Menschheit Genugtuung leisten. Genugtuung bewirkt zweierlei. Durch sie kommt wieder eine dem Leben würdige Ordnung ins Leben und Gott erhält die ihm gebührende Ehre als Schöpfer aller Dinge.

2.2.1 Glauben und Wissen in Einklang bringen

Diese Antwort muss nach Anselm unbedingt nachvollziehbar werden. Anselm liegt daran, dass prinzipiell alle Menschen verstehen und einsehen können, was Christen glauben. Wissen und Glauben stehen für ihn in keiner Konkurrenz. Der Glaube selbst strebt danach, seiner selbst auch gedanklich gewiss zu werden. Er drängt nach logischer Argumentation, nach einem Verstehen der Glaubenswahrheit. Das war bei Anselm stärker ausgeprägt als bei all seinen theologischen Vorgängern und ist ein Zeichen dafür, dass das Verstehen des Leidens und Sterbens Jesu immer auch aktuellen theologischen Trends (wie hier dem einer Rationalisierung) angepasst wurde.

Die Methodik, die Anselm konsequent verfolgte, war die eines nach vernünftiger Einsicht verlangenden Glaubens fides quaerens intellectum). Die christliche Lehre muss evident sein. Evidenz garantiert aber allein das vernünftige Denken (sola ra- tione). Das beeindruckende Gewicht und die Autorität (aucto- ritas) der Einsichten biblischer Texte gilt es als Vernunft-Notwendigkeit (rationis necessitas) und evidente Wahrheit (veritatis claritas) herauszustellen. Dazu sollten allgemeinverständliche Beweise dienen. Diese rationale Argumentation wandte Anselm nicht nur in seinen Gottesbeweisen an, sondern nutzte sie auch zur Begründung des Glaubenssatzes, dass Gott Mensch geworden ist und für die Menschheit starb.

2.2.2 Warum musste Gott Mensch werden?

Anselm fragte, warum Gott eigentlich Mensch werden musste, und diskutierte in seiner entsprechend betitelten Schrift »Cur Deus homo« (abgefasst im Jahre 1100) die Frage der Notwendigkeit der Menschwerdung Gottes in Christus. In dieser Schrift entfaltete Anselm seine Satisfaktionslehre, indem er christliche Sündenlehre und das in seiner Zeit wie in seinem Lebensumfeld gängige Rechtsdenken miteinander verband. Wirkmächtiger Ausgangspunkt war der Grundsatz, dass schuldig machende Tat und sühnende, d.h. wiedergutmachende Leistung in einem Verhältnis stehen und einander stets zu entsprechen hätten. Die Schwere eines Vergehens konnte nur durch eine genauso schwere, ja die Schwere des Vergehens noch leicht übertreffende Satisfaktionsleistung ausgeglichen werden. Schließlich kann ein Dieb seine Schuld nicht dadurch ungeschehen machen, dass er das Diebesgut einfach wieder an seinen Ort zurückbringt. Er muss darüber hinaus für die Irritation, die seine Tat hervorgerufen hat, Ersatzleistung bringen. Methodisch ging Anselm so vor, dass unter Absehung von der Christusoffenbarung (remoto Christo) allein aufgrund logischer Argumentation (rationibus necessariis) die Notwendigkeit der Inkarnation aufgewiesen wurde. Sie sollte als einziger Weg zur Rettung der Welt in den Blick kommen.

2.2.3 Die »Erbsünde« als Störung des Gottesverhältnisses

Der theologische Eckpfeiler für die Argumentation Anselms war die Erbsündenlehre; sie war vom Bischof Augustinus aufgrund einer besonderen Auslegung der Texte des Apostels Paulus in die abendländische Theologie eingeführt und dort populär geworden. Adams Sünde begründet sozusagen eine Kollektivschuld der Menschheit oder anders, mit zeitgenössischer theologischer Begrifflichkeit formuliert: einen Wirkzusammenhang beständiger sündiger Gottvergessenheit und Schuld. Sie verursacht, dass alle Menschen notwendigerweise immer wieder in Sünde fallen und de facto geradezu chronisch sündigen. Diese Sünde wird ganz personal verstanden, nämlich als Ungehorsam in der Beziehung zwischen Schöpfer und Geschöpf. Menschen sind und bleiben Ignoranten, achten die Ordnung der Schöpfung nicht und verachten schon darin ihren Schöpfer. So wird durch diese Sünde Gottes Ehre (honor) verletzt. Sünde bzw. Ungehorsam führen zur Entehrung (ex- honoratio) Gottes.

Vor diesem Hintergrund kann die Frage, die Anselm umtreibt, noch einmal genauer gefasst werden: Wieso kann Gott nicht einfach jenseits dessen, was Menschen treiben, durch einen souveränen Willensakt der Welt ihr Leben zurückgeben und die Welt in Ordnung bringen? Wieso muss die Versöhnung der Welt durch Jesus Christus und durch seinen Tod geschehen?

2.2.4 Gerechtigkeit und Barmherzigkeit Gottes

Ein zweiter theologischer Eckpfeiler für die Argumentation ist Gottes Leben selbst. Welche vitalen Eigenschaften treiben Gott dazu, dass er so handeln muss, wie er handelt, Mensch wird und in Jesus Christus am Kreuz stirbt? Anselm macht deutlich: So zu handeln ist barmherzig. Jesus Christus tut für die Menschen durch seinen Tod genug, damit die Menschen es selbst nicht mehr tun müssen. Das aber ist vor allem Ausdruck seiner göttlichen Liebe. Die Liebe Gottes lässt den »Leib dieser Wahrheit« erstrahlen. Schwierig wird es aber mit Gottes Gerechtigkeit. Wie kann gerecht sein, dass nicht die schuldigen Menschen selbst, sondern Jesus, der in den Augen Anselms der »Allergerechteste« ist, genugtun muss? Deshalb formuliert Anselm ein anspruchsvolles Ziel: Gott muss in seinem Handeln zugleich unendlich gerecht und unendlich barmherzig gedacht werden.

Anselm bezieht als eine weitere entscheidende Eigenschaft Gottes in seine Argumentation die Weisheit Gottes mit ein. In der Weisheit Gottes liegt, dass er nichts vergeblich tut. Nun hat Gott die Welt und die Menschen in seiner Weisheit so geschaffen, dass er mit ihnen ein ganz bestimmtes Ziel hat. Menschen verleiht Gott Leben, weil sie die Schöpfungsperspektive haben sollen, ewig glückselig zu sein. Anselm formuliert es ganz plastisch so: Gott will nicht nur selbst sein ewiges Dasein genießen. Er will dies gemeinsam mit den Menschen tun, die Menschen sollen ihn, Gott, genießen können. Kommt es nicht zu diesem Ziel, kommt Gottes Weisheit nicht zum Ziel. Denn dann hätte er die Menschheit vergeblich geschaffen. Die Genugtuung ist für Anselm der einzig denkbare Königsweg zum Ziel dieser Weisheit. Wie ist das zu verstehen?

2.2.5 Ein rechtlicher Verständnishorizont

Dieser Argumentation liegt eine den Zeitgenossen unmittelbar verständliche Rechtsstruktur zugrunde, die in der Ehre weniger eine Tugend oder einen Wert sieht, als vielmehr davon ausgeht, dass der Verlust von Ehre, bzw. die Ehrlosigkeit, eine erhebliche Erschütterung der Positionierung des Entehrten in der gesellschaftlichen und politischen Ordnung bedeutet. Der Ehrlose wird aus der geltenden Rechtsordnung gleichsam ausgeschlossen. In analoger Weise sah Anselm in der Entehrung Gottes nichts weniger als eine fundamentale Störung und Erschütterung der Weltordnung. Gott wird durch die Entehrung der Platz verweigert, den er eigentlich innehat und der ihm um der guten Ordnung willen zusteht. Damit missbraucht der Mensch das Geschenk seiner Freiheit. Denn der Mensch ist als einziges Geschöpf in der Lage und auch in der Pflicht, die ihm angemessene Position in der Ordnung der Welt freiwillig einzunehmen. De facto drängt er aber in Freiheit Gott aus der Welt und verweigert ihm seinen Platz als Schöpfer. Dass die Gott in der Welt zustehende Ehrposition wiederhergestellt werden musste, steht außer Frage, weil er als derjenige, der die Ordnung allein erhalten kann, nicht auf Dauer von deren Spitze verwiesen werden kann. Dann nämlich würden die Ordnung ohne den ihn ordnenden Gott und mit ihr die Welt zugrunde gehen. Mittel dazu sind entweder Strafe oder Wiedergutmachung (aut poena aut satisfactio), wie es in Anselms Schrift »Cur Deus homo« heißt.

2.2.6 Gottes unantastbare Ehre

Es ist wichtig zu sehen, dass es Anselm um die Gott in der Welt zukommende Position der Ehre geht. Eine Gott selbst unmittelbar betreffende Ehrverletzung schließt er ausdrücklich aus. Anselm unterscheidet nämlich zwischen Gottes Ehre, die er aufgrund seiner Lebensfülle höchstpersönlich hat, und Gottes Ehrposition, die er in der Ordnung der von ihm geschaffenen Welt einnimmt. Gottes Ehre ist im Blick auf Gott selbst unantastbar. Niemand kann ihm seine Ehre rauben, die er bei sich selber hat. Es ist deshalb ein Missverständnis, Anselm zu unterstellen, er habe Gott als einen beleidigten Privatmann gedacht, der für diese Beleidigung persönlich Wiedergutmachung fordert, um seine Verletzungen kompensieren zu können. So etwas hat Gott nach Anselm gar nicht nötig.

2.2.7 Das Ziel der ordnenden Intervention Gottes

Im Blick auf das Argumentationsgefälle Anselms von Canter- bury ist also zunächst Folgendes festzuhalten: Ziel einer wie auch immer gearteten Intervention ist die Wiederherstellung der Ehre Gottes um der Wiederherstellung der Ordnung willen. Dies kann, wie gesagt, nach Anselm nur durch eine solche Strafe geschehen, die dem verletzten Rechtsgut entspricht und es leicht übertrifft und so der geschehenen Verletzung adäquat ist. Die mit dieser Verletzung der Ehre Gottes verbundene Sünde gegen Gott wiegt jedoch so schwer, dass die darauf folgende sühnende Strafe zur Vernichtung der gesamten Menschheit hätte führen müssen — so groß ist der Rechtsanspruch Gottes. Ein einfacher Erlass der Strafe widerspräche der Gerechtigkeit Gottes und würde ja eben die Unordnung nicht wieder in Ordnung bringen.

2.2.8 Sühne durch Wiedergutmachung, Schuldenerlass oder Strafe?

Nun läge nahe zu sagen: Wäre denn nicht auch eine Wiedergutmachung durch einen Strafersatz oder eine Buße möglich? Wiedergutmachungen sind doch viel lebensbejahender und konstruktiver. Anselm hält das für ausgeschlossen. Der Grund ist ein einfacher. Zwar kann ein Mensch einem anderen Menschen Gutes tun, wozu er nie verpflichtet war, und dadurch wiedergutmachen, worin er gegenüber diesem Menschen schuldig geworden ist. Gott gegenüber ist das jedoch unmöglich. Denn der Mensch ist als Geschöpf Eigentum des Schöpfers. Er ist Gott deshalb seine gesamte Lebensführung schuldig. Es gibt also keine gute Tat, keinen genialen Einfall, keine schöne Geste, die der Mensch nicht sowieso schuldig wäre. Ebensowenig konnte in Betracht kommen, dass Gott in reiner Barmherzigkeit ohne vorherige Genugtuung (satisfactio) der Menschheit bedingungslos Vergebung gewährt. Denn damit wäre weder der Menschheit noch Gott geholfen. Eine solche am Menschen selbst nichts verändernde bedingungslose Vergebung wäre im Grund unbarmherzig und eine Abstrafung des Menschen in subtilerer Form. Denn der Mensch muss, wie Anselm formuliert, doch umfassend restauriert werden, damit er die uneingeschränkte Seligkeit eines freudigen Austausches mit Gott genießen kann.

Sühne durch Strafe führte hingegen in den Tod der Menschheit. Dann bekommt jeder Mensch, was er verdient. Das wäre zwar gerecht, aber es kollidiert mit Gottes Weisheit und Schöpfungsziel. Gott hat Menschen nicht geschaffen, damit sie endgültig sterben.

2.2.9 Gott besteht auf seinem Heilsplan

Die grundlegende denkerische Voraussetzung für die von Anselm entfaltete Theologie liegt also darin, dass der Mensch eine so unendlich wertvolle und die Menschheit »renovierende« Sühne leisten müsste, dass er sie gar nicht selbst vollbringen kann. Nur Gott selbst wäre in der Lage, sie zu erbringen. Wenn er die Menschen, seine Geschöpfe, nicht aufgeben, sondern, im Gegenteil, seinen Heilsplan weiterverfolgen wollte, dann musste er handeln. Dies ist der Grund, warum Gott Mensch werden musste, um als Mensch die Sühne zur Wiederherstellung der Ehre Gottes zu erwirken. Der inkarnierte Gott begegnet in Jesus Christus, dem Gottmenschen (Deus- homo). Er allein war in der Lage, dieses große Erlösungswerk zu vollbringen, da er — anders als die Menschen — ohne Erbsünde in diese Welt gekommen war und in ihr lebte. Gott brachte er allen Gehorsam entgegen, den er ihm schuldig war, und ging noch darüber hinaus in den Tod, in einen Tod, den er Gott nicht schuldig war, da er Gott dieses Ende nicht schuldete. Der Tod des Gottmenschen ist deshalb ein freiwilliger Tod.

2.2.10 Jesu Tod als unendliche Genugtuung

Anselm interpretierte den freiwilligen Tod Jesu als unendliche Genugtuung und Wiederherstellung der Ehre Gottes. Das in diesen Vollzügen liegende unendliche Verdienst (meritum), das in dem unendlichen Gewicht und dem unendlichen Wert des göttlichen Lebens des Gottmenschen besteht, muss der Gottmensch nicht für sich beanspruchen. Er schuldet ja Gott selbst keine Wiedergutmachung oder Genugtuung. Deshalb kann er es in Freiheit für seine »Verwandten«, die Menschen, Gott gegenüber umwidmen. Damit aber wird die Ehre Gottes und damit die Ordnung der Welt wiederhergestellt. Die Menschwerdung des Gottmenschen kommt also für Anselm deshalb im Tod des Gottmenschen zum Ziel, weil dieser Tod das unendliche Gut seines Lebens freisetzt. Dieser in seinen Augen logisch eruierte Tod kann mit dem Kreuzestod Jesu Christi identifiziert werden. So hat Anselm eine zutiefst christologisch fundierte Erlösungslehre (Soteriologie) entworfen, deren besonderer Schwerpunkt auf der Genugtuung (Satisfaktion) liegt.

Auch wenn Anselm nicht erklären kann, wieso der Tod des Gottmenschen das unendliche Gut des Lebens des Gottmenschen freisetzt, ist die Kenntnis seiner Theologie nicht nur für die wichtig, die sich für die Geschichte der christlichen Theologie interessieren. Anselms Bilder und ihre Begriffe bestimmen bis auf den heutigen Tag Lieder, Gebete und Texte, in denen im Raum der evangelischen Kirche über den Sinn von Christi Leiden und Tod nachgedacht wird. Sie halten zudem in einem erneuerten evangelischen Nachdenken über diese Fragen den biblischen Gedanken wach, dass die Abwendung von Gott, die die Tradition Sünde nennt, keine zu vernachlässigende Größe ist, sondern — wie insbesondere die Schreckensgeschichte des 20. Jahrhunderts deutlich macht — eine fürchterliche, das Leben von Generationen verheerende Wirklichkeit. Man versteht auch die Theologie der Reformation nicht in ihrer ganzen Tiefe, wenn man diese Dimension vernachlässigt oder gar verdrängt.

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