Für uns gestorben

Die Bedeutung von Leiden und Sterben Jesu Christi. Ein Grundlagentext des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) Gütersloher Verlagshaus 2015

III.5. Kritische Reaktionen auf traditionelle Lehrüberzeugungen im 18. und 19. Jahrhundert

5.1 Die Relativierung von Sünde und Schuld

In der Aufklärungstheologie des 18. Jahrhunderts gerät die überkommene Lehre von der stellvertretenden Genugtuung des Leidens Jesu Christi für unsere Sünden zunehmend in das Kreuzfeuer der Kritik. Das Selbstverständnis des Menschen beginnt sich grundlegend zu wandeln. Es erstarkt das Zutrauen in die guten Fähigkeiten der menschlichen Natur und prägt den Geist der neuen Zeit. Die Religion wird dem Maßstab vernünftiger Einsicht unterstellt. Ihre Inhalte werden daran gemessen, ob sie die Selbsttätigkeit des Menschen zu einem Lebenswandel im Guten befördern. Denn der Mensch, so wird nun betont, ist von seinem Schöpfer mit der Anlage zum Guten ausgestattet. Diese zu entwickeln hat jeder Mensch die prinzipielle Fähigkeit, und genau dies gehört auch zu seiner gottebenbildlichen Bestimmung.

Auf der Basis dieser Grundüberzeugung werden Unwesen und Ausmaß der Sünde sowie ihr Schuldcharakter relativiert. Eine gewisse Neigung des Menschen zum Bösen kann zwar nicht bestritten werden, auch nicht, dass sie sich durch Gewöhnung steigert; sie lässt sich aber durch Tugendübung überbilden. »Was hat der Mensch Stärkeres als die große Vollkommenheit seiner Natur?« — »Wir besitzen Kräfte zum Guten«, aufgrund derer »wir Tugenden und edle Taten ausüben« (Friedrich Nicolai, Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Se- baldus Nothanker, S. 163).

5.1.2 Jesus Christus als sittlich-religiöses Vorbild

Mit der Relativierung von Sünde und Schuld geht eine Kritik und Umformung der traditionellen Christologie einher. Das Leben Jesu Christi wird als die vollkommene Verwirklichung eines gottwohlgefälligen Lebens begriffen. Es ist für den Einzelnen ein sittlich-religiöses Vorbild. An diesem Vorbild kann der Mensch sich orientieren. Es unterstützt ihn, um seine Neigung zum Bösen zu überwinden. Als ein sittlich-religiöses Vorbild stellt Jesus die Eigenständigkeit und Initiative des Menschen nicht in Frage, hält vielmehr zu dieser an und befördert sie.

Die Vorstellung einer »Stellvertretung für uns« ist der theologischen Mehrheitsmeinung dieser Zeit eine hässliche Zumutung, denn sie hebelt genau das aus, worauf eine vernunftgemäße Religion ausgerichtet sein muss: ein unentbehrliches Hilfsmittel zur selbsttätigen Beförderung eines moralisch guten Lebens zu sein. Zudem widerspricht es dem Gedanken der Gerechtigkeit Gottes sowie dem Grundsatz persönlich zu verantwortender moralischer Schuld, wenn Jesus Christus die Strafe für fremde Sünden übernommen haben soll.

Ins Zentrum der Gotteslehre wird entsprechend konsequent die Auffassung von der gütigen Vorsehung Gottes gerückt. Die Vorsehung führt den Einzelnen und die gesamte Menschheit ihrer höheren Bestimmung zu. Der göttlichen »Erziehung des Menschengeschlechts« (G. E. Lessing) dient das Auftreten Jesu, indem er die Entwicklung der Menschheit zu wahrer Humanität auf eine neue Stufe hebt. Ein Gott, der die Sünde verurteilt und die mit ihr einhergehende Schuld nicht ungestraft sein lassen kann, gehört nach der Meinung weiter Kreise der Theologie jener Zeit einem von der christlichen Religion überholten Gottesbild an.

5.2 Immanuel Kant zum Problem unübertragbarer persönlicher Schuld

5.2.1 Das radikale Böse in der menschlichen Natur und die Schuld

Im Kontext der Aufklärung stellt die Religionsphilosophie Immanuel Kants eine Vertiefung des mit der Bestimmung des Menschen zu einem selbstverantwortlichen Leben verbundenen Problembewusstseins dar. So sehr Kant die vernunftgeleitete freie Selbstbestimmung des aufgeklärten Subjekts proklamiert, so sehr behaftet er es bei der Faktizität des Bösen und der Schuld, die es zu verantworten hat und die getilgt werden muss.

Im Jahr 1793 veröffentlicht Kant sein religionsphilosophisches Hauptwerk »Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« (= RGV). Wie der Titel anzeigt, legt Kant eine streng vernünftige, weil philosophisch kritische Rekonstruktion der Gehalte der christlichen Religion vor. Diese philosophische Kritik vollzieht kein Scherbengericht an der traditionellen Theologie. Vielmehr versucht Kant, klassische Lehrfiguren auf ihre Vereinbarkeit mit den Einsichten der praktischen Vernunft, das heißt im Zusammenhang der Fragen der Moral, zu prüfen und neu zu deuten. Lässt sich der Figur einer stellvertretenden Schuldübernahme überhaupt ein vernünftiger Sinn abgewinnen und wenn ja, welcher? Mit dieser Frage setzt sich Kant im Zusammenhang des fundamentalen ethischen Problems auseinander, wie man überhaupt »ein moralisch guter Mensch werden« kann (RGV B 67).

Denn Kant hält es für schlechterdings unbezweifelbar, dass in jedem Menschen ein »Hang zum radikalen Bösen« seine ursprüngliche »Anlage zum Guten« überwiegt. Das Böse im Menschen ist radikal, weil es an der Wurzel der Moral sitzt und sie verdirbt. Die moralische Gesinnung des Menschen ist korrumpiert. Der Mensch ist moralisch gesehen, das heißt im Blick auf die allen seinen Taten zugrundeliegende Gesinnung, von Grund auf verdorben, selbst wenn er äußerlich betrachtet sein Leben recht passabel gestaltet. Moralisch gesehen bringt er es nur zu einer nicht enden wollenden unendlichen Kette böser Taten (RGV B 95). So versündigt er sich an seinem Leben. Denn die erhabene Bestimmung des Menschen liegt darin, sein Leben stetig und allein durch das Gute, das ihm durch Vernunft einsichtig ist, bestimmt sein zu lassen.

Mit seiner korrupten Gesinnung häuft ein Mensch Schuld auf sich, und damit entsteht dem moralischen Subjekt unausweichlich die Frage, wie er diese beheben kann. Dies umso mehr, als dem Menschen die Schuld vergangener Taten aus der Hand genommen ist. Denn selbst wenn der moralisch böse Mensch zu einem Menschen mit guter Gesinnung wird, bleibt die Schuld zurückliegender Taten. Damit ist das Schuldproblem auf die Spitze getrieben. Auch nach gewandelter Gesinnung zum Guten gilt: »so fing er doch vom Bösen an, und diese Verschuldung ist ihm nie auszulöschen möglich« (RGV B 94). Hier nun scheint die klassische theologische Lehre vom Gottessohn, der diese Schuld auf sich nimmt, eine plausible Option zu formulieren.

5.2.2 Allerpersönlichste Schuld ist nicht übertragbar

Diese Option kritisiert Kant zunächst scharf, indem er vor Augen führt: Dieser Hang zum Bösen, diese Schuld also, die den Personkern eines Menschen belegt, ist nun einmal »keine transmissible (übertragbare) Verbindlichkeit, die etwa, wie eine Geldschuld (bei der es dem Gläubiger einerlei ist, ob der Schuldner selbst oder ein anderer für ihn bezahlt), auf einen anderen übertragen werden kann« (RGV B 94f.). Diese Schuld ist nämlich »allerpersönlichste Schuld«. Kein anderer als die Person höchstpersönlich, die schuldig geworden ist, kann dafür verantwortlich gemacht werden. Sie lässt sich auf niemanden übertragen, und sei es auch der Sohn Gottes in Person. Wenn, dann muss ein Mensch selbst für seine Schuld bestraft werden. Es ist weder einleuchtend noch gerecht, wenn ein anderer als der Schuldige selbst für seine persönliche Schuld in Haftung genommen wird.

5.2.3 Die Unmöglichkeit einer Relativierung des Schuldproblems im Namen göttlicher Liebe

Es ist wichtig, festzustellen: Die von Kant vorgetragene These, dass allerpersönlichste Schuld unübertragbar sei, ist keine originelle Kritik und Entdeckung Kants, auch nicht, wie oft behauptet, eine Entdeckung der frühen Neuzeit. Vielmehr dokumentiert Kant eine bereits im frühen Mittelalter und mit dem 13. Jahrhundert in juristischen und theologischen Schriften offensiv vorgetragene Auffassung. Diese hatte die schon im römischen Recht artikulierte Haltung der Unvertretbar
keit von Personen in persönlichen Rechts- und Schuldfragen pointiert aufgegriffen. Kant referiert hier also lediglich, was seit langer Zeit als Herausforderung persönlicher Schuldbewältigung in der theologischen Debatte, sei es ausdrücklich, sei es indirekt, präsent war. Die oben referierten klassischen Lehren von der Stellvertretung Christi hatten diese Herausforderung so bearbeitet, dass sie auf Gott in Jesus Christus verwiesen. Gott habe über die unter menschlichen Maßstäben unmögliche Macht und Kraft verfügt, sich die Bewältigung und Verarbeitung fremder persönlicher Schuld in Personalunion mit dem Menschen Jesus von Nazareth aufzubürden. Kant nimmt diese Herausforderung gleichfalls produktiv auf und hält die Stellvertretungsfigur keineswegs für erledigt. Allerdings setzt er diese Figur anders ein. Zunächst stellt er fest, dass die klassische Stellvertretungslehre das Problem, wie ein Mensch ein moralisch guter Mensch bzw. ein gerechter Mensch werden kann, ernst genommen hat. Dieses Problem wird nun angesichts der Unübertragbarkeit allerpersönlichster Schuld für Kant nur umso dringlicher. Denn Kant will nicht auf der Linie der Aufklärungstheologie die Ernsthaftigkeit des Schuldproblems nach dem Motto trivialisieren: Dann muss der Schuldige sich redlich mühen und sich in Orientierung am Vorbild des tadellos lebenden Jesus von Nazareth zu bessern versuchen. Gottes Liebe wird ihm seine Schuld schon nachsehen. Das ist in den Augen Kants eine Verharmlosung der Schuldverstrickung von Menschen, die einer hellsichtigen Betrachtung des Lebensumfeldes seit Menschengedenken nicht standhält. Es ist dies zum einen kein Ausweg, den die Vernunft gestattet. »Wenn man den Richter, der in ihm selbst ist, anfragt; so beurteilt er sich strenge, denn er kann seine Vernunft nicht bestechen« (RGV B 104). Es ist dies folglich auch kein Ausweg für Gott (als Vernunftidee). »Es muß der höchsten Gerechtigkeit, vor der ein Strafbarer nie straflos sein kann, ein Genüge getan werden« (RGV B 96). Ein Ausweg muss jedoch gefunden werden. Mit einem solch vernichtenden Urteil über sich selbst kann niemand leben und würde daran mit der Zeit zerbrechen.

5.2.4 Die Verlegung der Schuldstellvertretung in das Innere ein und derselben menschlichen Person

Soll es einen Ausweg aus dem skizzierten Problem geben, muss die vernichtende Strafe, wenn sie nicht an einer fremden Person vollzogen werden kann, an der Person, die schuldig geworden ist, vollzogen werden, und zwar so, dass sie aus diesem Strafvorgang kuriert und nicht zerbrochen hervorgeht.

Hier nun greift Kant die theologische Stellvertretungsfigur auf und bildet sie »innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft« um. Er tritt dafür ein, die klassische Figur der Stellvertretung Jesu Christi von »außen« nach »innen« zu verlegen. Nicht eine andere fremde gerechte Person kommt für die ungerechte Person auf. Vielmehr kommt in ein und derselben Person eine gerechte Instanz für eine ungerechte Instanz auf. Diese Stellvertretung hat ihren ethischen Sitz im Leben in der Änderung der alle Handlungen eines Menschen bestimmenden Gesinnung. Kant beschreibt hier vielschichtige Stellvertretungsverhältnisse. Nur ein Zug der Überlegungen Kants sei hier vorgestellt. Im Moment der radikalen Änderung der Gesinnung selbst tritt in der Person an die Stelle jener Instanz, die durch eine korrupte Gesinnung bestimmt wird (biblisch gesprochen: der alte Mensch), eine Instanz, die durch eine integre Gesinnung bestimmt ist (biblisch gesprochen: der neue Mensch). Für diese nun durch die integre Gesinnung bestimmte Person ist der Rückblick auf ihre eigene Vorgeschichte extrem schmerzhaft. Insofern übernimmt die Person in Gestalt des neuen Menschen die »Strafe« für die Person, als sie noch ein alter Mensch war. Kant sagt es so: »Der Ausgang aus der verderbten Gesinnung in die gute ist ... an sich schon Aufopferung und Antretung einer langen Reihe von Übeln des Lebens, die der neue Mensch in der Gesinnung des Sohnes Gottes, nämlich bloß um des Guten willen übernimmt; nämlich dem alten (denn dieser ist moralisch ein anderer), als Strafe gebührten« (RGV B 98).

Diese Mitteilung ist verblüffend. Die Übel treffen in der Person nicht den »alten Menschen«, den sie eigentlich treffen müssten. Vielmehr übernimmt sie der »neue Mensch« in der Person. Kant versucht dieses Problem zu bewältigen, indem er den Menschen als physisches und moralisches Wesen unterscheidet. Physisch betrachtet sei der alte und neue Mensch »eben derselbe strafbare Mensch«. Deshalb sei es legitim, wenn der neue Mensch, der moralisch sehr wohl ein anderer Mensch sei, den alten Menschen gegenüber dem neuen vertritt (RGV B 98f.).

So zeigt sich: Soll mit einer Bearbeitung und Bewältigung persönlicher Schuld Ernst gemacht werden, und zwar so, dass diese Schuld wirklich überwunden wird, kann die Stellvertretungsfigur nicht ad acta gelegt werden. Wird diese Figur ohne
ein Eintreten Gottes in Christus beschrieben und gedacht, ist ein Mensch bei der Verarbeitung seiner Schuld auf ein komplexes Geflecht von einander zu unterscheidender Persönlichkeitsebenen in sich selbst verwiesen. Ob diese raffinierte Konzeption, in der der neue Mensch den ihm zugewiesenen alten Menschen am eigenen Münchhausenschen Zopf aus dem Sumpf der Schuldverfallenheit herauszuziehen soll, mehr zu überzeugen vermag als all jene Konzepte, die wagen zu sagen, dass Gott selbst an die Stelle der Schuld eintreten lassen, darf gefragt werden.

5.3 Daniel Friedrich Ernst Schleiermacher zur Wirkung Jesu Christi auf das neue Gesamtleben von Menschen

Schuld und Versöhnung können nicht in Fixierung auf das menschliche Individuum allein begriffen werden. Sie werden erst im Zusammenhang menschlichen Zusammenlebens richtig erfasst und beschrieben. Nur im Kontext solchen Zusammenlebens, und zwar genauer, in dem von Jesus Christus begründeten und durch seinen Geist gewirkten neuen Gesamtleben der Kirche, ist überhaupt zu verstehen und anzueignen, was Christus für die Menschheit getan und erlitten hat. Diese Einsicht entfaltet Schleiermacher in seiner »Glaubenslehre«.

5.3.1 Das versöhnende » Geschäft« Christi

Wie ihr Titel besagt, will Schleiermacher den »Christlichen Glauben nach den Grundsätzen der Evangelischen Kirche im Zusammenhang« darstellen. Entsprechend dieser Grundsätze behandelt er die Bedeutung des Todes Jesu klassisch im Zusammenhang des Lehrstücks vom sogenannten hohepriesterlichen Amt Jesu Christi und formt dieses Lehrstück gründlich um.

5.3.2 Der intime Zusammenhang von Handeln und Leiden Jesu Christi

Statt vom »Amt Christi«, wie es die Tradition tat, redet Schleiermacher vom »Geschäft Christi« (Der christliche Glaube / Glaubenslehre [=GL] § 100; Bd. II, S. 104). Damit will er ausdrücken: Christus ist wesentlich aktiv, wenn er versöhnt, sein gesamtes Leben über und auch in seinem Tod. Entsprechend muss nach Schleiermacher der sogenannte »tätige Gehorsam« Christi mit seinem »leidenden Gehorsam« viel enger verknüpft werden. Es gibt nicht, wie von der Tradition behauptet wurde, eine aktive Lebensphase des gerechten Tuns Jesu, der eine viel entscheidendere Lebensphase eines gerechten Leidens folgt, die dann im Tod am Kreuz ihren Höhepunkt findet. Christus leidet und handelt vielmehr in jedem Augenblick seines Lebens (vgl. GL § 104,2; Bd. II, S. 136). Jesus leidet immerzu und elementar unter einer chronisch verkehrten Welt, in die er hineingeboren wurde. Und er ist selbst am Kreuz höchst aktiv, indem er den Augenblick seines Todes wie jeden Augenblick seines Lebens mit einem »kräftigen Gottesbewusstsein« bewältigt (ebd.).

5.3.3 Das Gottesbewusstsein Jesu Christi und seine ungetrübte Seligkeit im Tod

Gott ist für Schleiermacher in Christus. Er ist es allerdings in der Form, dass Christus ein besonderes Bewusstsein von Gott hat. Nun verfügen auch andere Menschen über Gottesbewusstsein. Im Unterschied zu allen anderen Menschen zeichnet es jedoch das Gottesbewusstsein Christi nach Schleiermacher aus, vom ersten Lebensmoment bis in seinen Tod hinein ungebrochen intensiv und unangefochten stark zu sein. Dieses Gottesbewusstsein lässt sich durch keine noch so misslichen Lebenslagen irritieren. Genau das führt zu einem besonderen, aktiven und von seinem Gottesbewusstsein bestimmten Umgang mit seinem Tod. Christus ist, wie schon in seinem ganzen Leben, so auch am Kreuz »ungetrübt« selig. Was meint hier selig? Auch in seinem Tod begreift sich Christus in einer tiefen Einheit mit Gott, die unerschütterlich ist. Im Bewusstsein dieser Einheit vertraut er auf die Liebe und Weisheit Gottes des Vaters. Seine gesamte Existenz ist davon bestimmt: Um diese Liebe und Weisheit der Menschheit zu offenbaren, war er in der Welt. Von ihr getragen, vollzog er sein Leben und begab sich in seinem Sterben in sie hinein.

5.3.4 Schuldverarbeitung im Zusammenhang des gemeinsamen Lebens mit Christus

Christus erlöst und versöhnt Menschen nun dadurch, dass er sie in die »Kräftigkeit seines Gottesbewußtseins« und die »Gemeinschaft seiner ungetrübten Seligkeit« aufnimmt (vgl. GL § 101; Bd. II, S. 112); und dies geschieht im Zusammenhang des von Christus gewirkten neuen Gesamtlebens der Kirche, das dem Gesamtleben der Sünde entgegenwirkt (vgl. GL § 87; Bd. II, S. 18-21). Die soziale Dimension und Wirkung von Schuld und Schuldvergebung ist für Schleiermacher zentral. Ungerechtigkeit und Gerechtigkeit entstehen in einem konkreten vor Gott zu verantwortenden Lebenszusammenhang. Daher geht es für Schleiermacher im Blick auf Erlösung und Versöhnung darum, dass Christus einen neuen Lebenszusammenhang begründet, der Menschen ihr Leben und Zusammenleben anders begreifen und leben lässt, indem er in ihnen zweierlei bewirkt: die Kräftigkeit des Gottesbewusstseins sowie ein unerschütterliches Vertrauen in die Liebe und Weisheit Gottes. Darin befähigt er sie zugleich zu selbstlosen Taten der Liebe (vgl. GL §§ 100 und 101; Bd. II, S. 104-120).

5.3.5 Die Integration von Menschen in das gerechte Leben Christi

Daraus folgt: Handelt Christus gerecht, dann tut er zunächst das, was Gott prinzipiell von jedem Menschen erwartet. Christus hat also »selbst nichts gleichsam übrig ..., was« auf alle anderen Menschen, die unvollkommen handeln, umverteilt werden könnte. Versöhnlich wirkt Christi Handeln im konkreten Zusammenhang eines »gemeinsamen Lebens«, nämlich durch seinen Geist gewirkte soziale Stimulation zu analogem Handeln. Das »ihn bewegende Princip« wird dadurch, sagt Schleiermacher, zum »unsrigen« (vgl. GL § 104,3; Bd. II, S. 137-140). Genau in diesem Sinne und nur so sei die klassische Behauptung zu verstehen, dass »Christi Gerechtigkeit uns zugerechnet werde« (vgl. GL § 104,3; Bd. II, S. 128). So integriert Christus Menschen, die an ihn glauben, in sein gerechtes Leben.

5.3.6 Christi Leiden als Mitgefühl in menschliche(r) Schuldverstrickung

Umgekehrt ist Christus in menschliche Schuld verstrickt. Denn er ist ja in einen schuldbelasteten menschlichen Lebenszusammenhang hineingeboren. So übernimmt er zwangsläufig Übel, für die er nicht verantwortlich ist. Ihm wird also das Leben zur Strafe, obwohl er dafür nichts selber kann (vgl. GL § 104,4; Bd. II, S. 140f.). Dies kulminiert im Kreuz. Hier deutet Schleiermacher Christi Leiden als inneres Mitgefühl mit der Sünde der Welt. Dieses Mitgefühl kommt am stärksten zum Ausdruck im gegen Christus angestrengten Strafprozess und dem daraus folgenden Kreuzestod. Denn da wendet sich die ganze Welt, die weltliche und die religiöse — Heiden und Juden —, gegen ihn. Da wird Christus verurteilt, wo doch die ganze Welt verurteilt werden müsste. In Christus habe deshalb »die unmittelbare Begeisterung zu dem größten Moment in dem Erlösungsgeschäft« in der Bereitschaft gelegen, gegen den geballten Widerstand aller Welt den Tod auf sich zu nehmen (vgl. GL § 104,4; Bd. II, S. 140-144). Damit will Schleiermacher sagen: Wie überzeugt Christus an seiner göttlichen Sendung festhielt, wie sehr er menschliche Schuld überwinden wollte, zeigt sich in gesteigerter Form in seiner empathischen Hingabe für alle Menschen am Kreuz. Wer dies glaubt, versichert Schleiermacher, entdeckt darin eine bis in die Selbstverleugnung hinein gehende göttliche Liebe (vgl. GL § 104,4; Bd. II, S. 142). Der »hohepriesterliche Wert des leidenden Gehorsams« besteht darin, »daß wir Gott in Christo sehen und Christum als den unmittelbarsten Teilhaber der ewigen Liebe, welche ihn gesendet und ausgerüstet hat« (ebd.).

5.3.7 Der Kreuzestod jenseits von Verlassenheitsgefühlen

Es zeigt sich: Der Tod am Kreuz widerfährt Christus nicht, er ist »Tat im höchsten Sinne des Wortes« (GL § 104,4; Bd. II, S. 148). Christus gibt sich aktiv hin. Von einer Ohnmacht Christi, von seiner Einsamkeit am Kreuz, von einem Fluch gar ist mit keinem Wort die Rede. »Es ist vollbracht« (Joh 19,30), das ist für Schleiermacher das biblische Leitwort seiner Deutung des Kreuzes. Dies legt das von ihm favorisierte Johannesevangelium eben auch nahe. Mit dem im Markusevangelium überlieferten Sterbenswort Jesu »Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?« (Mk 15,34) hat Schleiermacher denn auch erhebliche Schwierigkeiten. Für die Erfahrung, dass sich Christus als vom göttlichen Vater verlassen wahrgenommen hat, ist in der Theologie Schleiermachers kein rechter Platz. Sie ist geleitet von der ungetrübten Stetigkeit des Gottesbewusstseins Jesu. Das Bewusstsein seiner Einheit mit Gott erfährt im Kreuzesgeschehen keine Erschütterung. Und gerade so und darin offenbart Christus am Kreuz Gottes von Ewigkeit her sich selbst gleiches Wesen als Liebe. Für Gott selbst trägt das Kreuzesgeschehen mithin nichts aus. Schleiermacher kritisiert daher diejenige — lutherische — Auffassung aufs Schärfste, die davon spricht, dass Gott in der Person des Sohnes Gottes am Leiden teilhat, um erlösend zu sein (vgl. GL § 104,4; vgl. Bd. II, S. 140-148, § 97,5; Bd. II, S. 87-89). Auch die Rede vom Zorn Gottes weist Schleiermacher als eine in der christlichen Religion überwundene zurück ebenso wie die Vorstellung eines Jesus von Gott auferlegten Strafleidens. Das Leiden und Sterben Christi sind Folge seiner »Berufspflicht« (GL §104,4; Bd. II, S. 147), die im Offenbaren der Liebe Gottes zur Welt besteht. Darauf kommt es an.

Wirksam wird dieser Tod ausschließlich im vitalen Lebenszusammenhang von Christinnen und Christen, die sich im Geiste Jesu Christi von demjenigen ergreifen lassen und danach leben, was im Leben und Sterben Jesu Christi offenbar geworden ist: die Liebe Gottes, von der weder Schuld noch Tod zu trennen vermögen und die in selbstloser Hingabe sich verwirklicht (vgl. GL § 104,4; Bd. II, S. 140-141 mit §§ 113-115; Bd. II, S. 229-240).

5.3.8 Der Umbau der Figur stellvertretender Genugtuung

Vor diesem Hintergrund hat Schleiermacher die klassische Figur der stellvertretenden Genugtuung kritisiert und umgebaut. Christus kann nach Schleiermacher nicht für die Sünden anderer stellvertretend durch die Übernahme eines unendlichen Schuldquantums genugtun. Folgendes kann aber durchaus gesagt werden: Was Christus getan hat, tut genug in dem Sinne, dass er »die ewige unerschöpfliche und für jede weitere Entwicklung hinreichende Quelle eines geistigen und seligen
Lebens geworden ist« (GL § 104,4; Bd. II, S. 145), indem er das »Reich der Gnade« — den Lebenszusammenhang der Kirche — heraufgeführt hat und es beständig erhält. Von Stellvertretung kann jedoch insofern nicht die Rede sein, als sein Glaubensgehorsam den Menschen nicht vom eigenen Glaubensgehorsam entbindet, diesen vielmehr in ihm entfacht. Was Christus hingegen gelitten hat, das hat er stellvertretend gelitten, insofern er Übel ertrug, die er selbst nicht verursacht hat. Von Genugtuung kann allerdings nicht die Rede sein. Bis auf den heutigen Tag gibt es anderes Leiden gleicher Art und es werden alle, »welche in die Gemeinschaft seines Lebens aufgenommen werden, auch auf die Gemeinschaft seiner Leiden verwiesen« (GL § 104,4; Bd. II, S. 146).

Schleiermacher will so an der Einmaligkeit und Einzigartigkeit des Lebens und Sterbens Jesu Christi festhalten, das »für uns« seines Lebens und Sterbens jedoch so denken, dass es nur in der Aneignung im Glaubensleben wirksam ist. Insofern Christus das »Reich der Gnade« zu bewirken vermag, in welchem er den Glaubenden an seinem Gottesverhältnis durch seinen Geist teilgibt und sie zur Liebe befähigt, ist er produktives »Urbild« und kein bloß sittlich-religiöses Vorbild (GL § 93; Bd. II, S. 41-52). Und weil Christus wirklich lebte und starb und das Glaubensleben sich an dem »Totaleindruck« des geschichtlichen Christus entzündet und bleibend auf ihn bezogen ist, ist das »Urbild« keine bloße Idee, sondern unauflöslich rückgebunden an das geschichtliche Leben Jesu Christi.

5.4 »O große Not, Gott selbst liegt tot« — G. W F Hegels Verständnis des Kreuzesgeschehens

Hegel ruft seiner Zeit in Erinnerung, dass Leben und Sterben Jesu Christi als Geschichte Gottes selbst zu verstehen sind. »O große Not, Gott selbst liegt tot, heißt es in einem lutherischen Liede«, so zitiert Hegel und fordert von der Theologenzunft die Arbeit am Gottesgedanken ein, die das Kreuzesgeschehen in seiner Bedeutung für das Wesen Gottes zu bedenken hat (Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Bd. III, S. 247). Denn angesichts des Kreuzes gilt es zu begreifen, dass »das Menschliche, Endliche, Gebrechliche, die Schwäche, das Negative göttliches Moment sind, daß es in Gott selbst ist, daß die Endlichkeit, das Negative, das Anderssein nicht außer Gott und als Anderssein die Einheit mit Gott nicht hindert ..., [daß] es Moment der göttlichen Natur selbst [ist]« (ebd., Bd. III, 249f-). Für Hegel führt die Arbeit am Gottesgedanken die Erneuerung und Vertiefung der Trinitätslehre mit sich, in der er das Spezifische des christlichen Gottesgedankens ausgedrückt sieht. Denn sie ermöglicht es, Gott als den Lebendigen zu denken, der sich in die Welt begibt, im Leben und Sterben Jesu Christi die Geschichte seiner selbst hat und darin sein Wesen auslegt.

Dass Gott sich der Dynamik von Leid und Tod aussetzen kann, in Jesus Christus in seinem eigenen ewigen Leben ein neues Verhältnis zum Tod gewinnen kann, das ist nur denkbar, wenn Gott in sich selbst Unterschiede kennt und aufweist. Dies bringt die Trinitätslehre zum Ausdruck. Gott differenziert sich in Vater, Sohn und Heiliger Geist in einer Weise, dass er sich zu sich selbst verhalten kann. Gott stirbt in seinem Sohn am Kreuz. Gott riskiert als Sohn die Einsamkeit und Verlassenheit der Sterbesituation. Gott lässt als Vater in Liebe den endgültigen Tod seines Sohnes nicht zu und erweckt ihn als Heiliger Geist von den Toten.

Die Gemeinde hält sich dies als ein in Jesus Christus Geschehenes gegenwärtig und lässt sich so in die Bewegung des Geistes der Versöhnung hineinnehmen, die vom trinitarischen Gott ausgeht. Ob Hegel selbst die Einzigartigkeit des Seins Gottes in Jesus Christus in seinem spekulativen Denken festgehalten hat, kann hier dahingestellt bleiben. Die christliche Gemeinde jedenfalls, und dies hat Hegel durchaus auch so gesehen, tut dies und singt folgerichtig: »O große Not! Gotts Sohn liegt tot. Am Kreuz ist er gestorben; hat dadurch das Himmelreich uns aus Lieb erworben« (EG 80,2). Und sie stimmt in geistgewirkter österlicher Gewissheit in das ein, was die Schrift vom Tode Jesu Christi verkündigt: »da Tod und Leben ’rungen; das Leben behielt den Sieg, es hat den Tod verschlungen ...; ein Tod den andern fraß, ein Spott aus dem Tod ist worden« (EG 101,4).

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