Für uns gestorben

Die Bedeutung von Leiden und Sterben Jesu Christi. Ein Grundlagentext des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) Gütersloher Verlagshaus 2015

II.2 Neutestamentliche Grundlagen

2.1 Menschen haben Jesus getötet

»Menschen haben Jesus getötet — Gott aber hat ihn auferweckt!« Mit dieser Kontrastaussage halten die ersten Christen ihre Grundeinsicht fest (s. Apg 3,15; 4,10; 5,30). Gott hat Jesus in Wahrheit weder verworfen noch im Stich gelassen — das taten Menschen. Er hat sich mit seiner Auferweckung des gekreuzigten Jesus vielmehr zu ihm gestellt und ihm Recht gegeben. Der Anspruch des Redens und Wirkens Jesu, seine Zuwendung zu den Sündern und seine herausfordernde Verkündigung der Gottesnähe werden durch die Auferstehung des Gekreuzigten überwältigend bestätigt. Damit erscheint das Kreuz nicht länger als das Scheitern, sondern als die Vollendung des Lebens und Weges Jesu. Als »Gotteslästerer« (Mk 2,7; 14,62; Joh 19,7) erweisen sich die Menschen, die ihn verfolgt und gekreuzigt haben, nicht etwa Jesus, der Gott seinen Vater nannte. »Ihr aber habt den Heiligen und Gerechten verleugnet ... den Fürsten des Lebens habt ihr getötet. Den hat Gott auferweckt von den Toten« (Apg 3,14f.). Indem die »Herrscher dieser Welt« Jesus trotz seiner offensichtlichen Unschuld (Lk 23,4.14.22; 23,47f.) und offenkundigen Gerechtigkeit (2Kor 5,21; 1Petr 3,18; 1Joh 2,1) ans Kreuz geschlagen und getötet haben, haben sie ihre eigene Ungerechtigkeit und ihr Unverständnis offenbart. Damit hat sich das Kreuz Jesu — zunächst und ganz unbestreitbar — als die Entlarvung weltlicher Herrschaft und als Demaskierung »menschlicher Weisheit« erwiesen — denn hätten sie die Weisheit Gottes erkannt, »so hätten sie den >Herrn der Herrlichkeit nicht gekreuzigt« (1Kor 2,8).

2.2. »Gott war in Christus«

Mit der Auferstehungserkenntnis waren zugleich ein vertieftes Erkennen der Person Jesus Christus und ein neues Verständnis von Gott verbunden: »Denn Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber ...« (2Kor 5,19). Was eigentlich schon an dem Wirken und den Worten Jesu erkennbar gewesen wäre, wurde jetzt für die Auferstehungszeugen endgültig offenbar: Christus gehört in einzigartiger und unvergleichlicher Weise zu Gott selbst und zu uns. Diese Einmaligkeit und einzigartige Zugehörigkeit zu Gott selbst kommt darin zum Ausdruck, dass sie ihn als den »einzigartigen Sohn Gottes« und als »Herrn« erkennen und bekennen!

2.3 Wer versöhnt?

Alles, was im Neuen Testament zur umfassenden Versöhnung der ganzen Welt durch das Kreuzesgeschehen entfaltet wird, setzt diese Einmaligkeit Jesu Christi voraus. Nicht ein beliebiges Kreuz an sich hätte diese Heilsbedeutung — es gab bei den Römern Tausende davon! Auch nicht das Kreuz eines normalen Menschen Jesus von Nazareth könnte eine so weitreichende Bedeutung haben. Denn wie könnten das Wirken und Geschick eines einzelnen Menschen eine so umfassende Auswirkung auf die gesamte Menschheit gewinnen? Nur wenn man voraussetzt, dass Gott selbst im Kreuzesgeschehen gegenwärtig war und das Leid trug, lassen sich solch umfassende und universale Konsequenzen überhaupt nachvollziehen. Erkennt man aber mit den ersten Christen in dem Gekreuzigten Gottes eigenen Mensch gewordenen Sohn — und damit Gottes leibhaftige und persönliche Gegenwart —, dann fallen bereits entscheidende Bedenken gegen eine »Sühnetheologie«: Die neutestamentliche Kreuzestheologie setzt kein von Gott gefordertes »Menschenopfer« voraus — das war schon im Alten Testament grundsätzlich verboten (s. 3Mose 18,21; 20,2; 5Mose 18,10; vgl. 2Kön 16,3; 21,6; Jer 3,24; 7,31)! Sie erweist vielmehr die Sinn- und Nutzlosigkeit aller menschlichen Opfer. In Christus bewirkt nicht ein Mensch die Versöhnung Gottes, sondern Gott die Versöhnung des Menschen — dies ist die Grundüberzeugung paulinischer Theologie!

2.4. Wer wird versöhnt?

Wie die Wirklichkeit der Auferstehung Jesu das Geheimnis seiner Person erhellt, so offenbart die Tatsache seiner Auferweckung durch Gott das Wesen seines himmlischen Vaters. Handelnder und Urheber der Sendung Jesu und des Versöhnungsgeschehens in Kreuz und Auferstehung ist Gott selbst, der Vater, in seinem Sohn: »Denn Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber ...« (2Kor 5,19). Weder wird hier vorausgesetzt, dass (a) Christus den Vater durch sein Opfer versöhnen musste, noch wird gesagt, dass (b) sich Gott selbst in Christus mit der Welt versöhnt hat, sondern allein, dass (c) Gott in Gestalt seines Sohnes die ihm gegenüber feindlich eingestellte Welt mit sich und untereinander versöhnt hat. Die Welt war Feind Gottes, während Gott nach dem einmütigen Zeugnis des Neuen Testaments die Welt bereits liebte. Nicht Gott galt es durch das Versöhnungsgeschehen umzustimmen, sondern es galt, die Menschen neu und definitiv für Gott zu gewinnen. Christus musste nicht wegen Gott sterben, sondern infolge der menschlichen Sünde als der lebensgefährdenden Beziehungsstörung gegenüber Gott und den Menschen. Was den Tod brachte, war und ist die Trennung von Gott — als dem Leben und der Liebe —, die Trennung von der Beziehung, die das Leben begründet.

So wird als das eigentliche Geheimnis des Kreuzes erkannt, dass Gott selbst die Konsequenzen dieser menschlichen Entfremdung auf sich genommen hat. Damit wird ausdrücklich vorausgesetzt, dass Christus nicht etwa sterben musste, damit Gott, der Vater, die Menschen lieben kann, sondern weil Gott - der Vater und der Sohn - die Welt trotz ihrer Gottesferne bereits liebte und dies nun im Weg Jesu Christi ans Kreuz unter ganzem Einsatz seiner selbst auf einzigartige Weise besiegelte: »Denn Christus ist schon zu der Zeit, als wir noch schwach waren, für uns Gottlose gestorben ... Gott aber erweist seine Liebe zu uns darin, dass Christus für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren.« (Röm 5,6.8).

2.5. Das Kreuzesgeschehen als Erkenntnis- und Realgrund der Liebe Gottes

Es geht also bei dem neutestamentlichen Verständnis des Kreuzestodes Jesu gerade nicht um die verbreitete Vorstellung, dass Menschen ein Opfer bringen, damit die abweisende Gottheit besänftigt und umgestimmt wird. Es geht gerade nicht um das »Ich gebe, damit du gibst« (do ut des) vieler ritueller Handlungen und kultischer Opfer. Im Gegenteil! Die Lebenshingabe Jesu bis ans Kreuz wird als Ausdruck der voraussetzungslosen und vorausgehenden Liebe Gottes zu den Menschen erkannt und bekannt (Joh 3,16; Röm 5,8; 8,31f-; Eph 2,4ff.; 1Joh 4,9f-). Das Kreuz Jesu ist Real- und Erkenntnisgrund der Liebe und Zuwendung Gottes — sowohl der Liebe des Vaters wie der des Sohnes (Joh 15,12f.; Gal 2,20, Eph 5,2.25; 1Joh 3,16; Offb 1,5). Christus gab sich selbst, weil Gott die Welt so sehr liebte, nicht damit er sie erst als Folge des Kreuzesgeschehens liebte. Das schließt ein, dass ohne das Kreuzesgeschehen Gottes Liebe nicht zu denken und zu erfassen ist. Die Liebe Gottes zu den Menschen wird als die entscheidende Grundlage der Lebenshingabe seines Sohnes verstanden und nicht als Folge und Ergebnis des Sterbens Jesu: »Denn so hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen einzigen Sohn gab, damit jeder, der an ihn glaubt, nicht verloren geht, sondern ewiges Leben hat« (Joh 3,16). Dabei gilt es festzuhalten, dass in der Lebenshingabe des Sohnes sich wechselseitig die Liebe zwischen Vater und Sohn in unüberbietbarer Weise verwirklicht hat. Hier wird das Christusgeschehen insgesamt als Erkenntnis- und Realgrund der bereits vorausgehenden Liebe Gottes verstanden und ebenso als Grundlage und Realgrund des daraus folgenden Lebens und Heils. Es handelt sich in diesem Fall um eine nicht mit Bedingungen verbundene Zuwendung und unbedingte Annahme. Für die ersten Christengemeinden wie für Fernstehende und Kirchennahe heute ist dieser Aspekt der Kreuzestheologie von ganz elementarer und unmittelbar nachvollziehbarer Bedeutung. Es liegt eine unglaubliche Wertschätzung und Bedeutsamkeit in der Erkenntnis, dass sich jemand nicht nur mit etwas oder viel, sondern mit seinem eigenen Leben für uns einsetzt. Dass uns diese Liebe und Zuwendung nicht erst aufgrund unseres Wohlverhaltens geschenkt wird, sondern so, wie wir wirklich sind, erweist diese Liebe und Hingabe als voraussetzungslos und bedingungslos. Wir mögen vielleicht die aus der Tradition überkommene Sühnetheologie noch nicht in allen Einzelheiten erklären können. Wenn wir aber verstehen, dass das Leben und Sterben Jesu für Gottes unbedingte Treue und vergebungsbereite Liebe zu uns stehen, haben wir das Herzstück des Kreuzesgeschehens bereits erkannt.

2.6 So haben wir doch nur einen Gott

Viele Verständnisprobleme entstehen heute dadurch, dass die frühchristliche Rede von Gott als »Vater« und »Sohn« als die vermenschlichende Vorstellung von »zwei Göttern« missgedeutet wird und zu sehr in der Analogie einer menschlichen Vater-Sohn-Beziehung gedacht wird. In diesem Zusammenhang sind Übertragungen menschlicher Merkmale auf Gott (sogenannter Anthropomorphismus) so irreführend wie auch das Missverständnis von Vater und Sohn als zweier gesonderter Gottheiten (sogenannter Ditheismus). Dabei muss man jeweils einräumen, dass die Dreifaltigkeit des einen Gottes in der Tat — damals wie heute — nur schwer zu fassen ist, ohne dass entweder die Wesenseinheit oder die jeweilige Personalität von Vater, Sohn und Heiligem Geist vernachlässigt wird. Wie es spätere Bekenntnisse ausführlich beschreiben, setzen die frühen Christen aber als geborene Juden selbstverständlich das »Eins-sein« des Gottes voraus, der sich als »Vater« und als »Sohn« offenbart. Es war nach dem Neuen Testament Gott selbst, der auf die Welt kam und am Kreuz in Gestalt seines Sohnes die Konsequenz der menschlichen Schuld trug. Dabei wird das Bekenntnis zu dem einen Gott, der als Vater und als Sohn erkannt wird, nicht etwa erst in späterer Zeit vorausgesetzt, sondern bereits in den frühesten uns erhaltenen christlichen Quellen aus den fünfziger Jahren des ersten Jahrhunderts — nämlich in Glaubensformeln und Bekenntnisformulierungen der Paulusbriefe (z.B. Röm 8,3; Gal 4,4; 1Kor 8,6; 2Kor 8,9; Phil 2,6f.). In Aufnahme des alttestamentlich- jüdischen Bekenntnisses zu dem »einen Gott und Herrn« — des Schema Jisrael aus Dtn 6,4ff. — kann Paulus bereits in 1Kor 8,6 im Hinblick auf Gott, den Vater, und auf Jesus Christus, seinen Sohn, entfalten: »So haben wir doch nur einen Gott, den Vater, von dem alle Dinge sind und wir zu ihm; und einen Herrn, Jesus Christus, durch den alle Dinge sind und wir durch ihn.« Dieser eine Gott und Herr hat die Überwindung der menschlichen Beziehungsstörung nun gerade nicht auf andere abgeschoben, sondern in Gestalt des Sohnes selbst auf sich genommen.

2.7 Ablösung der kultischen und gesellschaftlichen Opfer

Damit ergibt sich aber eine — gerade auch für Kritikerinnen wie Kritiker einer neutestamentlichen Sühnetheologie — entscheidende Einsicht: Die Lebenshingabe des Sohnes Gottes wird als endgültige Ablösung, Überbietung und Erübrigung aller kultischen Opfer und zwischenmenschlichen Konfliktlösungen nach dem Muster des »Sündenbocks« oder »menschlichen Opfers« verstanden. Die Kreuzestheologie ist nicht ein Rückfall in archaische Kult- und Opfervorstellungen, sondern deren wirksame und endgültige Überwindung. Dies gilt einerseits in kultischer Hinsicht: Das Abendmahl wird gerade nicht als Wiederholung des Sühnetodes Jesu und neue Opferhandlung verstanden, sondern als Gedenken und Teilhabe an dem »ein für alle Mal« geschehenen Handeln Gottes in Christus (1Kor 11,23-26). Denn dem neutestamentlichen Zeugnis liegt alles an der Einmaligkeit und Endgültigkeit des »ein für alle Mal« geschehenen Sterbens Christi (s. Röm 6,10; 1Petr 3,18; Hebr 9,12.26.28; 10,10.12). Im Brief an die Hebräer findet sich nicht nur die ausführlichste Entfaltung der Lebenshingabe Jesu als eines universalen Heilsgeschehens, sondern zugleich auch die radikalste neutestamentliche Kritik an jedwedem irdischen kultischen Opfer (Hebr 8-10). Dass das Kreuz Jesu Christi als das Ende aller menschlichen Opferrituale und Opfermechanismen anzusehen ist, gilt dann andererseits aber auch für das zwischenmenschliche Verhalten: Wer sich am Gekreuzigten orientiert, der muss andere nicht mehr zum »Sündenbock« machen. Wer sich von Christus her versteht, kann Konflikte nicht mehr durch »Verdrängung«, »Abwehr« und »Übertragung« von Schuld auf andere lösen wollen. Denn der andere wird als jemand erkannt und anerkannt, für den Jesus bereit war, sein Leben einzusetzen — »der Bruder (und die Schwester), um dessentwillen (und derentwillen) doch Christus gestorben ist« (1Kor 8,11; vgl. Röm 14,15). Viele zentrale Überlieferungen zum Sterben Jesu sind uns literarisch in Zusammenhängen erhalten, in denen es gerade um die verbindliche Orientierung des ethischen Verhaltens an dem friedensstiftenden und versöhnungsbereiten Weg Jesu geht, der dem anderen dient und zugewandt ist, ihn nicht ausgrenzt und unterwirft (Mk 10,45; Röm 15,1 ff.; 2Kor 8,9; Phil 2,5ff-).

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