Für uns gestorben

Die Bedeutung von Leiden und Sterben Jesu Christi. Ein Grundlagentext des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) Gütersloher Verlagshaus 2015

III.6. Evangelische Theologie im 20. Jahrhundert

6.1 Neue Hinwendung zur biblischen Überlieferung und zur reformatorischen Theologie

Im Jahrzehnt nach dem Ersten Weltkrieg erlebte die evangelische Theologie eine tiefgreifende Phase der Neuorientierung, deren Wirkungen bis heute spürbar sind. Das Denken wird durch eine neue, vertiefte Aufmerksamkeit für den theologischen Gehalt der biblischen Überlieferung in Anspruch genommen. Und die Texte der reformatorischen Theologie, allen voran diejenigen Martin Luthers, werden in den Wahrnehmungshorizont unserer Epoche gestellt und von daher auf die Fragen der Gegenwart bezogen. Namhafte Vertreter dieses theologischen Perspektivenwechsels waren Karl Barth, Rudolf Bultmann, Emil Brunner, Friedrich Gogarten und Dietrich Bonhoeffer sowie die lutherischen Dogmatiker Paul Althaus und Werner Elert und mit ihnen die von der »Luther-Renaissance« jener Jahre geprägten Theologen.

Trotz der zwischen ihnen bestehenden Unterschiede und Differenzen betonen sie alle mit Nachdruck die Heilsbedeutung des Kreuzes Jesu Christi. Das »Wort vom Kreuz« (1Kor 1,18), die Rede von der Versöhnungstat Gottes und vom Tod Christi »für uns« stehen für die Heilstat Gottes schlechthin. Die Aussagen Luthers oder auch des Heidelberger Katechismus werden zum Verstehenshorizont für die biblisch bezeugte leidenschaftliche Liebe Gottes zu den Menschen.

Dass Gott den Menschen »erworben« und »gewonnen« hat von all jenen Mächten, die sein Leben an andere, fremde Werte und Instanzen binden, und zwar durch das »Leiden und Sterben« Jesu Christi, wie Luther im Kleinen Katechismus formuliert, ist ein Ausdruck des persönlichen Einsatzes Gottes für jeden Einzelnen. Auf diesen Einsatz, der ihm die Last der eigenen Verantwortung für seine Verfehlung und Schuld vor Gott nimmt, darf auch der Mensch in der Gegenwart vertrauen. Es kann auch für ihn ein großer Trost sein — »mit Leib und Seele«, »im Leben und im Sterben« diesem Gott anzugehören, der in Jesus Christus begegnet (Heidelberger Katechismus 1) und ihn in einen Raum der Freiheit hineinstellt, indem er ihn in der Liebe geborgen sein lässt.

6.2 Das bleibende Problem

Die Frage, weshalb Gott in seiner Liebe diesen Weg gewählt hat und in Jesus Christus für uns gegangen ist, fordert freilich weiterhin das Nachdenken heraus. Ja sie muss es erst recht herausfordern, wenn man den Wahrheitsgehalt der biblischen und reformatorischen Deutungen der Passion Christi anerkennt und zugleich die Grenzen einer falsch verstandenen Opfervorstellung und Satisfaktionslehre vor Augen hat. Wie kann man in einem Atemzug behaupten, dass Gott den Menschen liebt, aber zugleich auch sein Richter bleibt? Wie lassen sich die Aussagen miteinander vereinbaren, dass das Kreuz als Ausdruck der vorbehaltlosen, liebenden Zuwendung Gottes zu den Sündern zu betrachten ist und zugleich als das Gericht über die Sünde der Menschen aufgefasst werden muss?

Bei den zu suchenden Antworten auf diese Fragen ist sorgfältig zu beachten, dass Gott in Jesus Christus als der Initiator und der entscheidende Akteur des Versöhnungsgeschehens betrachtet wird. Diese Erkenntnis ergibt sich aus der vertieften Betrachtung des biblischen Befundes: Gott ist der Versöhner und wir sind diejenigen, die sich mit ihm versöhnen lassen müssen (vgl. 2Kor 5,20). Wenn aber Gott der Versöhner ist, dann muss die Frage nach seiner Gegenwart im Gekreuzigten so genau wie möglich bedacht werden. Damit wird bei der Deutung des Kreuzes die Frage der Christologie, wie sich das Gottsein und das Menschsein in der Person Jesu Christi verbunden haben, in neuer, aufregender Weise aufgeworfen.

6.3 Das Kreuz als Ort von Gnade und Gericht

In der jüngeren evangelischen Theologie hat sich zunehmend die Vorstellung durchgesetzt, dass Gott durch Gericht und Verwandlung hindurch am Ende keinen Menschen vom Heil ausschließen werde. Schon Friedrich Schleiermacher hatte es für einen unauflöslichen Missklang gehalten, dass »wir uns unter Voraussetzung einer Fortdauer nach dem Tode einen Theil des menschlichen Geschlechtes« von der Gemeinschaft der Erlösung »gänzlich ausgeschlossen denken sollen« (GL § 118; Bd. II, S. 249).

Dieser Heilsuniversalismus fand seine Fortsetzung und zugleich Neuprägung bei Karl Barth. Er hat — in den dunklen Jahren des Zweiten Weltkriegs — die Erwählungslehre als »Summe des Evangeliums« thematisiert und den Gedanken gewagt, dass in der Erwählung Jesu Christi alle Menschen erwählt sind und in dem Christus am Kreuz treffenden Verwerfungsurteil die Verwerfung aller bereits vollstreckt ist: »in der Erwählung Jesu Christi, die der ewige Wille Gottes ist, hat Gott dem Menschen das Erste, die Erwählung, die Seligkeit und das Leben, sich selber aber das Zweite, die Verwerfung, die Verdammnis und den Tod zugedacht« (KD II/2, S. 177). Das lässt sich nur auf dem Hintergrund des Geschehens am Kreuz so sagen, dann nämlich, wenn man die ebenso dramatische wie heilsame Doppelbewegung von Gottes erwählendem Ja und seinem richtenden Nein am Gekreuzigten erkennt.

Das Kreuz ist dann nicht nur der kräftigste Ausdruck von Gottes Ja zu den von ihm geschaffenen Menschen. Es steht zugleich für das richterliche Verwerfungsurteil über die Sünde der Menschen. Die Versöhnung zwischen Gott und Mensch kann nur gelingen, wenn die Sünde mit Entschiedenheit verneint wird. Die Sünde steht der Versöhnung im Wege, deshalb muss sie gerichtet werden.

In seiner Versöhnungslehre hat Barth dargelegt, dass Gott in seiner Treue die verlorene Sache des Menschen, der ihn als seinen Schöpfer verleugnet und sich damit in sein Verderben gestürzt hat, zu seiner eigenen Sache gemacht hat. Er hält in Jesus Christus das uns in unserer Daseinsverfehlung zustehende Gericht aus. Der Gott, der für uns in Jesus Christus eintritt, ist der »Richter als der an unserer Stelle Gerichtete« (KD IV/1, S. 231).

Wie sich der Richter als der Gerichtete unter unser Elend begeben hat, kann man sich am Ablauf der Passionsgeschichte verdeutlichen. Nirgendwo werden das Elend der Ungeborgenheit und das Ausgeliefertsein an die Mächte der Zerstörung und des Todes deutlicher als hier. Diejenigen, die diesen einen Unschuldigen — den wahren Menschen und zugleich wahren Gott — verraten, anklagen, ausliefern, quälen, verspotten und schließlich hinrichten, demonstrieren auf ihre Weise, wie sehr sie in diesem Elend gefangen sind. Es ist das Elend der Schuld, von der sich Pilatus auch nicht dadurch befreien kann, dass er seine Hände in Unschuld wäscht. Es ist das Elend der frommen Selbstbehauptung und moralischen Entrüstung, die der Kraft der Vergebung nicht über den Weg traut. Es ist auch das Elend der theologischen und politischen Rechthaberei, die denjenigen nicht gelten lässt, der gegen die vermeintlichen Werte und Normen verstößt.

Mit anderen Worten: Es ist das Elend der Sünde. Die Sünde als Entfremdung des Menschen von Gott, vom Mitmenschen und von sich selbst wird in der Passion Jesu auf drastische Weise anschaulich. Die Geschichte seines Leidens und Sterbens offenbart das Elend des Menschen, der wir sind. Insofern sind wir alle in die Geschichte seiner Hinrichtung verstrickt; sie wird uns zur Anklage als Sünder vor Gott — sie wird uns zum Gericht.

Sie wird uns freilich nicht so zum Gericht, dass wir von dem uns treffenden Schuldspruch zerstört werden. Tod und Vernichtung sind zwar die logische Endkonsequenz der Sünde: Der Mensch als Sünder muss und wird sterben. Aber der Mensch, der im Glauben in Gott geborgen ist, wird aus dem Tod des Sünders auferstehen und leben. Das kann gesagt werden, weil Jesus Christus am Kreuz unseren Sündentod gestorben ist. In seiner Passion hat sich Gott an den Ort begeben, an dem sich das Gericht über die Sünde des Menschen vollzieht. Er hat an unserer Stelle in Jesus Christus unser verwirktes, dem Tod verfallenes Leben bis in die tiefsten Tiefen unseres Elends hinein ausgehalten, um uns sein unvergängliches Leben zu schenken. Er ist an unsere Stelle getreten, dorthin, wo wir in letzter Konsequenz unserer Entfremdung von Gott von unserer Schuld zerstört und den Tod der ewigen Gottferne sterben müssten: Er ist für uns gestorben, damit wir leben können.

Im Unterschied zur Tradition tritt hier das Moment der Strafe (vgl. Jes 53,5), die Christus an unserer Stelle auszuhalten hat und tatsächlich auch aushält, zurück. Entscheidender ist, dass in ihm die Sünde gerichtet, aufgehoben und negiert, ein neues Kapitel in der Geschichte zwischen Gott und den Menschen aufgeschlagen wird und das »Siehe, ich mache alles neu« (Offb 21,8) des neuen Himmels und der neuen Erde Gestalt gewinnt.

6.4 Das Kreuz als Ort der tödlichen Gottverlassenheit

Christus ist am Kreuz für uns zum Fluch geworden (Gal 3,13). Diese Aussage des Paulus hat in der modernen Situation des Gottesverlusts und der damit einhergehenden Rede vom »Tod Gottes« eine bemerkenswerte Aussagekraft entfaltet. Sie spricht anknüpfend an Luthers Kreuzestheologie dem Tod Jesu die Bedeutung zu, nach der »die Gottverlassenheit Jesu als Gottes ureigenstes Werk erscheint« (E. Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, S. 496). Wie kaum ein anderer hat Eberhard Jüngel den Zusammenhang zwischen dem Tod Jesu am Kreuz und unserem eigenen Tod herausgestellt und diesen Zusammenhang auf dem Hintergrund der neuzeitlichen Kontroverse um Theismus und Atheismus verdeutlicht.

Man kann auch fragen: Was macht der Weg Jesu ans Kreuz mit Gott? Was wird aus Gott im Angesicht des Gekreuzigten? Die Antwort: Gott identifiziert sich mit dem toten Jesus am Kreuz und definiert sich darin selbst, indem er den Menschen Jesus als Sohn Gottes und sich so als Gott den Vater definiert. Jesus starb, weil Menschen ihn verkannten und an seinem freien Umgang mit dem Gesetz Anstoß nahmen. Sein Tod ist aber nicht nur die Folge der Gottlosigkeit derer, die ihn ans Kreuz brachten, sondern zugleich das Erleiden der Gottlosigkeit selbst. Darin geht Jüngel noch einen Schritt weiter als Barth: Der Gekreuzigte ist nicht nur der an unserer Stelle Gerichtete, sondern in einem ganz ursprünglichen Sinne der an unserer Stelle Getötete, der sich unserer tödlichen Gottverlassenheit aussetzt, um eine neue Gottesbeziehung zu schaffen. In ihm stirbt Gott unseren Tod, damit die Welt und wir leben können. »Gott versöhnt die Welt mit sich, indem er sich im Tode Jesu gegenübertritt als Gott der Vater und Gott der Sohn, ohne mit sich selbst uneins zu werden« (a.a.O., S. 504). Nur aus diesem Grund kann der Satz gewagt werden, dass Gott die Liebe ist (1Joh 4,8.16). Das Kreuz Christi ist der Schlüssel zur angemessenen Erkenntnis Gottes.

Von daher hat Jüngel mit Luther den Tod Jesu als sacramentum gedeutet. Sein Weg ist keinesfalls einseitig als verpflichtendes Vorbild im Sinne eines exemplum aufzufassen, »sondern als ein den Tod des Sünders effektiv überwindendes Geschehen [...], so daß der Sünder, statt den Tod als >der Sünde Sold< (Röm 6,23) erleiden zu müssen, nunmehr zu leben vermag, >ob er gleich stürbe< (Joh 11,25)« (E. Jüngel, Wertlose Wahrheit, S. 265). Sein Tod hat die unvergleichliche Bedeutung eines Ereignisses, »in dem einer — dieser Eine! — an die Stelle aller tritt, an ihrer aller Stelle leidet und stirbt und eben dadurch dem menschlichen Leben und insofern auch den diesem Tod noch folgenden menschlichen Leiden und Sterben eine neue Qualität gibt« (ebd.).

Der Aspekt der Sühne, der mit der Deutung des Todes Jesu als Sühnopfer verbunden ist, muss von daher neu interpretiert werden. Denn die Auffassung, dass der zürnende Gott nur durch das Blutopfer seines Sohnes versöhnt werden kann, stellt sich nun regelrecht als unbiblisch heraus: »Nicht Gott wird versöhnt, sondern Gott versöhnt die Welt. Nicht der sündige Mensch entsühnt sich, sondern der heilige Gott entsühnt den sündigen Menschen. Und er tut dies, indem er seine Heiligkeit dem ganz und gar Unheiligen zuwendet.« (a.a.O., S. 272). In der Entsühnung vollzieht sich das Gericht, denn das Unheilige kann als solches vor Gott nicht bestehen.

6.5 Der Weg des Gekreuzigten ist der Weg, den der dreieinige Gott geht

Deutlicher als je zuvor hat die Theologie des 20. Jahrhunderts den Weg des Gekreuzigten in die Leidensgeschichten unserer Welt eingezeichnet. Die Sünde als Entfremdung des Menschen von Gott, von seinem Mitmenschen und von sich selbst steht in einem ursächlichen Zusammenhang zu diesen Leidensgeschichten. Ihr Ergebnis sind in letzter Konsequenz die schuldhafte Zerstörung des Geschaffenen, das Verderben des Lebens und der Tod als Inbegriff einer nicht mehr zu überbietenden Beziehungslosigkeit.

Gott ist dem entgegengetreten. Nur er ist in der Lage, diese tödliche Situation aufzubrechen und den Menschen und seine Welt aus der durch die Entfremdung von Gott ausgelösten Dynamik des Unheils herauszuholen. Er — nur er kann hier der Akteur des Handelns sein. In seiner nicht von uns ablassenden Liebe »verwickelt« er sich in dieses Unheil — nicht, um mit uns im Unheil unterzugehen und damit das Gerücht vom »Tod Gottes« zu bestätigen, sondern um die Situation des Unheils gewissermaßen von innen her aufzubrechen. Man kann auch sagen: Der dreieinige Gott erleidet im gekreuzigten Christus unsere Gottverlassenheit. Er setzt sich dem Gericht aus, das uns eigentlich treffen müsste. Er stirbt den Tod, den wir sterben müssten. Und weil Gott das alles in der Gestalt des Sohnes erleidet, kann es nicht beim Gericht und nicht beim alles besiegelnden Tod bleiben — folgt dem unerbittlichen Nein das helle, befreiende Ja, folgt dem Tod das Leben in der versöhnten, durch nichts mehr zu zerstörenden Gemeinschaft mit Gott.

Der Gedanke der Stellvertretung bleibt von zentralem Gewicht. Denn hier geschieht das Entscheidende uns zugute und an unserer Stelle. Es geschieht dort, wo wir nicht stehen und wo wir auch nicht überleben können: Jesus Christus ist an unserer Stelle von den tödlichen Folgen unserer Entfremdung von Gott getroffen worden. Jeder Mensch wäre hier rettungslos zerstört worden. Aber weil es Gott war, der sich im Sohn dieser Situation ausgesetzt hat, stirbt der Tod und siegt das Leben.

Für uns gestorben

Nächstes Kapitel