Für uns gestorben

Die Bedeutung von Leiden und Sterben Jesu Christi. Ein Grundlagentext des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) Gütersloher Verlagshaus 2015

III.4. Akzente reformierter Theologie

4.1 Mittelalterliche Elemente im Heidelberger Katechismus und deren reformatorische Transformation

Die bei Luther vorliegende existenzielle Aneignung biblischer Deutungen des Leidens und Sterbens Jesu Christi ist nicht auf die engeren Kreise der Wittenberger Reformation beschränkt geblieben. Die im reformierten Raum formulierte Rechtfertigungslehre hat viel mit jener der lutherischen Reformation gemeinsam. Auch in der reformierten Theologie wirkt die antike und mittelalterliche kirchliche Tradition mit ihrer Lehrbildung fort. Für den Heidelberger Katechismus von 1563, die verbreitetste reformierte Bekenntnisschrift, steht ganz außer Frage, dass der Mensch erlösungsbedürftig ist. Gleich zu Beginn stellt er fest, dass die unverbrüchliche Zugehörigkeit des Menschen zu Jesus Christus sein »einziger Trost im Leben und im Sterben« (Frage 1) ist. Denn mit seinem Leiden und Sterben hat ihn Christus aus dem Einflussbereich des Bösen befreit und ihn sich regelrecht zu eigen gemacht: Weil der Mensch von nun an zu Christus gehört, ist er nicht mehr den Mächten des Unheils ausgeliefert. Die unter der ersten Frage des Heidelberger Katechismus in wenigen Zeilen ausgeführte Rechtfertigungsbotschaft nimmt zwar Elemente der antiken Loskauftheorie und der mittelalterlichen Satisfaktionslehre auf, gibt ihnen aber eine auf den jeweiligen konkreten Menschen zielende tröstende Funktion: Gott selbst hat sich durch das Leiden und Sterben seines Sohnes Jesu Christi so sehr für den Menschen eingesetzt, dass dieser fortan aller existenziellen Ängste enthoben ist.

Was ist dein einziger Trost im Leben und im Sterben?
Dass ich mit Leib und Seele, beides, im Leben und im Sterben, nicht mein, sondern meines getreuen Heilands Jesu Christi eigen bin, der mit seinem teuren Blut für alle meine Sünden vollkommen bezahlt und mich aus aller Gewalt des Teufels erlöst hat und also bewahrt, dass ohne den Willen meines Vaters im Himmel kein Haar von meinem Haupt fallen kann, ja auch mir alles zu meiner Seligkeit dienen muss. Deswegen er mich auch durch seinen Heiligen Geist des ewigen Lebens versichert und ihm forthin zu leben von Herzen willig und bereit macht
(Evangelische Bekenntnisse 2, S. 139 = Reformierte Bekenntnisschriften 2.2, S. 175f).

Hier ist angedeutet, was der Heidelberger Katechismus dann in einem grundlegenden Dreischritt über das durch die Sünde bestimmte existenzielle Elend des Menschen, seine Erlösung und seine Dankbarkeit entfaltet: Aus eigener Kraft hätte sich der von der Sünde bestimmte Mensch nicht von der Macht des Bösen befreien geschweige denn vor Gott ins Recht setzen können. Daher musste der Sohn Gottes wirklich Mensch werden, um die Versöhnung Gottes mit seinen Geschöpfen zu vollbringen. Er musste aber auch wahrer Gott sein, um überhaupt die Schwere des göttlichen Zorns ertragen und Gerechtigkeit und Leben für die Menschen wiedergewinnen zu können (Frage 17). In dieser Argumentation ist mancher Gedankengang Anselms wiederzuentdecken. Aber in der Begründung dieses Erlösungsgeschehens aus der Heiligen Schrift geht der Heidelberger Katechismus dann über die Theologie Anselms deutlich hinaus. Dies ist nicht zu übersehen, auch wenn im Einzelnen verschiedentlich von der Ableistung oder »Bezahlung« einer zeitlichen und ewigen Strafe die Rede ist, die sich die Menschen aufgrund ihrer Sündhaftigkeit gerechterweise von Seiten Gottes zugezogen haben (Fragen 12-19).

4.2 Das Geheimnis der GottmenschheitJesu Christi

Nicht die büßende Genugtuung für begangene Verfehlungen, sondern das Geheimnis der Gottmenschheit Christi steht im Mittelpunkt, wobei die reformierte Theologie den Akzent stärker auf die Menschheit Christi legt. Auch wenn in der Person Christi Gott selbst handelt, so werden die menschlichen Eigenschaften der Person des Erlösers doch deutlich hervorgehoben. Auch hier spielt die tröstende Funktion eine große Rolle, denn der Heidelberger Katechismus spricht, ebenso wie Luther und seine Mitreformatoren, in eine Erfahrungswelt hinein, in der Leiden und Tod eine alltägliche Realität darstellten und man sie noch nicht aus der Alltagswahrnehmung verdrängt hatte. Dies spiegelt sich beispielsweise in der seelsorglichen Deutung des Glaubenssatzes der Höllenfahrt Christi. Auch die Höllenqualen hat der Gottessohn nämlich am eigenen Leibe erfahren, »damit ich in meinen höchsten Anfechtungen versichert sei, mein Herr Jesus Christus habe mich durch seine unaussprechliche Angst, Schmerzen und Schrecken, die er auch an seiner Seele am Kreuz und zuvor erlitten, von der höllischen Angst und Pein erlöset« (Frage 44).

4.3 Das Abendmahl als unverbrüchliches Pfand für das Heil Gottes

In der historischen Entwicklung der Theologie wirkte sich die Betonung der menschlichen Natur des Gottessohns entscheidend auf das reformierte Verständnis des Abendmahls aus und unterschied sich darin deutlich von derjenigen Martin Luthers. Denn die Leidensfähigkeit, Endlichkeit und Begrenztheit der menschlichen Natur Christi steht der Annahme ihrer realen Anwesenheit in, mit und unter Brot und Wein, wo und wann immer das Abendmahl stiftungsgemäß gefeiert wird, entgegen (so allerdings die lutherische Sicht). Anders als der Gottheit kommt der menschlichen Natur Christi ja gerade nicht die Allgegenwart zu. Nur dem wahrhaft Glaubenden ist daher das in Leiden und Sterben am Kreuz erworbene Verdienst Christi zugänglich. Nur dem wahrhaft Glaubenden wird dies in dem gemeinschaftlich gefeierten Mahl mitgeteilt. Die Elemente des Sakraments sind »göttliches Wahrzeichen und Versicherung« dessen (Frage 78). Brot und Wein gelten also als »Zeichen und Pfand«, ja als unverbrüchliches Siegel für die Erlösungstat Gottes in und durch seinen Sohn, »dass wir so wahrhaftig durch seinen Heiligen Geist an seinem Leib und Blut Anteil bekommen« (Frage 79).

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