Theologisch-Religionspädagogische Kompetenz - Professionelle Kompetenzen und Standards für die Religionslehrerausbildung

Empfehlungen der Gemischten Kommission zur Reform des Theologiestudiums, EKD-Texte 96, 2009

5. Das Strukturmodell

Das Strukturmodell für die Kompetenzen des Religionslehrers und der -lehrerin ergibt sich aus den fachlichen und fachdidaktischen Anforderungen ihres Berufsfeldes. Der Evangelische Religionsunterricht ist in das Bildungssystem Schule eingebunden und hat darin einen unverwechselbaren Ort. Daher beschränken sich die Aufgaben der Religionslehrkräfte nicht auf die Erteilung von Unterricht, sondern umfassen das gesamte Spektrum beruflicher Funktionen. Diese Funktionen nehmen die Religionslehrkräfte in einer fachspezifischen Weise wahr. Sie vertreten das Fach mit seinem evangelischen Profil, seiner christlichen Perspektive und seinem besonderen Bildungsauftrag im Unterricht, in der Schule und nach außen hin. Insbesondere ist es ihre Aufgabe,

  • die Spannung zwischen dem profilierten Eintreten für den christlichen Glauben und dem Respekt vor anderen religiösen Überzeugungen und Positionen auszubalancieren,
  • der Wahrheitsfrage nicht auszuweichen, sondern ihr im Dialog mit Schülerinnen und Schülern, mit Eltern und Kollegen anderer Religionszugehörigkeit und Weltanschauung nachzugehen,
  • den Schülerinnen und Schülern die Freiheit zur Religion zu eröffnen und ihnen zugleich die Praxis christlicher Existenz engagiert aufzuzeigen,
  • den Unterricht auf die Entwicklung von Kompetenzen auszurichten, aber zugleich sensibel zu sein für unerwartete Fragen, existentiell bedeutsame Einsichten, persönliche Betroffenheit und orientierende Erfahrungen.

Es ist das Proprium des Evangelischen Religionsunterrichts, einen Raum der Freiheit für die unverfügbare individuelle Begegnung mit christlichem Glauben und Leben offenzuhalten.

Die Entwicklung von theologisch-religionspädagogischer Kompetenz umfasst daher auch die Ausbildung einer beruflichen Identität als Religionslehrerin oder Religionslehrer. In anderer Weise als Lehrerinnen und Lehrer mit anderen Fächern sind der Religionslehrer und die -lehrerin mit ihrer gesamten Biographie, ihrer Person und ihren Lebensvollzügen in unverkennbarer, aber individuell verschieden ausgeprägter Weise in religiöse Kontexte involviert. Von der eigenen Beziehung zum christlichen Glauben und zur evangelischen Kirche werden das berufliche Selbstkonzept, das Berufsethos, die Werthaltungen und die Wahrnehmung der eigenen Rolle als Religionslehrerin oder Religionslehrer ebenso beeinflusst wie die Gestaltung des Unterrichts und die Realisierung der über den Unterricht hinausgehenden Funktionen und Aufgaben. Die Entwicklung der beruflichen Identität ist ein ausbildungs- und berufsbegleitender Prozess, der individuellen Wandlungen unterworfen ist, sich in Auseinandersetzung mit vielfältigen Faktoren vollzieht und sich prinzipiell einer Operationalisierung und Überprüfbarkeit entzieht. Grundlage professioneller Identität ist die Auseinandersetzung mit der theologischen Fachwissenschaft im Studium, in deren Verlauf Studierende eine berufsbezogene theologische Kompetenz erwerben sollen. Diese berufsbezogene theologische Kompetenz ist die notwendige Voraussetzung für den Erwerb aller übrigen beruflichen Kompetenzen.

Im Anschluss an das Leitbild der Kultusministerkonferenz orientieren sich die Kompetenzen der Religionslehrerin und des Religionslehrers an Leitvorstellungen, die das fachspezifische Profil und entsprechende Qualitätsmerkmale für die berufliche Tätigkeit ausweisen.

  1. Religionslehrerinnen und -lehrer verfügen über eine religionspädagogische Reflexionsfähigkeit, die sie befähigt, ihre Kompetenzen ständig weiterzuentwickeln. Ihr Ziel ist es, ihr professionelles Handeln am aktuellen Stand der fachlichen und fachdidaktischen Diskussion zu orientieren, um zeitgemäß und auf hohem Niveau unterrichten, erziehen, beraten, beurteilen, Schule entwickeln und innovieren zu können. Eine religionspädagogisch ausgeprägte Reflexionskompetenz zeichnet sich dadurch aus, dass Religionslehrerinnen und -lehrer in eine reflexive Distanz zu ihrem eigenen Tun treten, ihre Tätigkeit systematisch evaluieren, religionspädagogische Fort- und Weiterbildungsangebote wahrnehmen und im Austausch und in Beratung mit Kolleginnen und Kollegen ihr Handeln kritisch überprüfen und verbessern.
    1. Religionslehrerinnen und -lehrer sind Fachleute für die Gestaltung von Lehr- und Lernprozessen im Bereich religiöser Bildung. Ziel ihrer Tätigkeit ist es, Schülerinnen und Schülern den Erwerb von Kompetenzen zu ermöglichen, die ihnen helfen, sich in der religiös pluralen Welt zu orientieren, eigene religiöse Überzeugungen zu gewinnen, darüber auskunfts- und dialogfähig zu sein sowie ethisch verantwortlich urteilen und handeln zu können. Die unterrichtlichen Prozesse, in denen Schülerinnen und Schüler zu einer religiösen Bildung gelangen können, werden im Evangelischen Religionsunterricht aus der Perspektive des christlichen Glaubens und im Horizont evangelischer Freiheit gestaltet. Die Schülerinnen und Schüler als Subjekte des Religionsunterrichts wahrzunehmen bedeutet, die individuellen Lernprozesse der einzelnen Schülerinnen und Schüler zu organisieren, zu fördern und zu begleiten. Guter Religionsunterricht zeichnet sich dadurch aus, dass es gelingt, die Lebensgeschichte und die eigenen Erfahrungen, die Interessen und die Neugier, das Vorwissen und die Wirklichkeitskonstruktionen der Schülerinnen und Schüler mit der Praxis des christlichen Glaubens zu verbinden und in vielfältig gestalteten Lehr- und Lernprozessen lebensbedeutsame Einsichten über Glauben und Leben von Christinnen und Christen zu erschließen. Lebensbedeutsamkeit erweist sich daran, dass das zu erwerbende Wissen den Schülerinnen und Schülern hilft, die eigenen elementaren religiösen Fragen zu bearbeiten, mögliche Aufgaben und Herausforderungen des religiös pluralen Alltags zu bewältigen und die eigene Religiosität und das eigene Handeln zu reflektieren.
    2. Religionslehrerinnen und -lehrer nehmen die Erziehungsaufgabe vor dem Hintergrund eines theologisch reflektierten, christlichen Menschenbildes bewusst wahr. Ihr Ziel ist es, die Gewissen der Schülerinnen und Schüler zu schärfen, ethische Orientierungen aus christlicher Perspektive zu vermitteln und die Fähigkeit und Bereitschaft zu wecken, Glaubensüberzeugungen zu achten, Toleranz zu üben und Solidarität zu praktizieren. Guter Religionsunterricht zeichnet sich dadurch aus, dass er die Schülerinnen und Schüler einerseits als handelnde und verantwortliche Personen anspricht und ihren Entscheidungsfreiraum respektiert und ihnen andererseits die Möglichkeiten eines Lebens veranschaulicht, das sich grundlegenden christlichen Wertvorstellungen verpflichtet weiß. Damit eröffnen Religionslehrer und -lehrerinnen den Schülerinnen und Schülern Wege, die Freiheit zur Religion in eigener Verantwortung wahrzunehmen und eine geklärte religiöse Identität zu gewinnen.
  2. Religionslehrerinnen und -lehrer fördern Schülerinnen und Schüler in religionspädagogischer Verantwortung. Ihr Ziel ist es, jeder Schülerin und jedem Schüler zu einer größtmöglichen Entfaltung ihrer Möglichkeiten zu verhelfen, damit sie davon Gebrauch machen und verantwortlich und selbstbestimmt leben können. Damit streben sie eine „Befähigungsgerechtigkeit“ an. In ihrem praktischen Handeln lassen sie den Schülerinnen und Schülern die evangelische Grundunterscheidung zwischen Annahme der Person und ihrem Werk, zwischen Würde des Menschen und seiner Leistung erkennbar werden. Eine religionspädagogisch kompetente Beachtung der Wahrnehmungs- und Diagnoseaufgabe sowie der Beratungs- und Beurteilungsaufgabe zeichnet sich einerseits dadurch aus, dass Religionslehrerinnen und -lehrer individuelle Lernchancen ermitteln und eröffnen, Schülerinnen und Schüler zu sinnvollen Leistungen ermutigen und jeden Einzelnen bei der Aktualisierung seiner Möglichkeiten fördern, andererseits die Schülerinnen und Schüler aber auch bei Niederlagen und Misserfolgen begleiten und unterstützen und bei Glaubens- und Lebensfragen seelsorgerlich gesprächsfähig und -bereit sind.
  3. Religionslehrerinnen und -lehrer beteiligen sich an der Schulentwicklung, an der Gestaltung der Schulkultur und des Schulklimas, indem sie die religiöse Dimension im Schulleben zur Geltung bringen. Ihr Ziel ist es, den wesentlichen Beitrag religiöser Bildung zu den Bildungsprozessen der Schule zu verdeutlichen und die Schule als Lern- und Lebensort mitzugestalten. Eine religionspädagogisch fundierte Entwicklungskompetenz erweist sich daran, dass Religionslehrerinnen und -lehrer ein Klima gegenseitigen Respekts vor den Glaubensüberzeugungen fördern, dem religiösen Fanatismus und Indifferentismus wehren und Chancen gemeinsamen Lebens und Lernens eröffnen. Sie stellen sich neuen Herausforderungen, die das Leben der Schülerinnen und Schüler in der Gesellschaft betreffen, und arbeiten diese aus evangelischer Perspektive in der Freiheit eines Christenmenschen fachlich und didaktisch auf.
  4. Religionslehrerinnen und -lehrer beteiligen sich am interdisziplinären Gespräch und an fächerverbindenden Kooperationen, am Dialog mit Vertreterinnen und Vertretern anderer Religionen und Weltanschauungen und am gesellschaftlichen Diskurs über die Bildungsaufgabe und Bedeutung des Religionsunterrichts im Rahmen des Bildungssystems. Ihr Ziel ist es, für ein von Verständnis und Respekt getragenes Zusammenleben von Menschen verschiedener Religionszugehörigkeit und unterschiedlicher Weltanschauung einzutreten, das Differenzen nicht ausblendet und Spannungen nicht übersieht, sondern im Dialog bearbeitet. Sie wollen die Relevanz religiöser Bildungsprozesse für die Allgemeinbildung durch ihr berufliches Handeln verdeutlichen und den Ort des Religionsunterrichts im Rahmen des Fächerkanons der öffentlichen Schule sichern. Eine religionspädagogisch ausgebildete Dialogfähigkeit erweist sich zum einen daran, dass Religionslehrerinnen und -lehrer mit Kolleginnen und Kollegen anderer Fächer bei fächerverbindenden Projekten zusammenarbeiten; zum anderen suchen sie auch über den Unterricht hinaus das Gespräch mit Vertretern anderer Religionen, stehen als christlicher Gesprächspartner für Schülerinnen, Schüler und Eltern anderer Religionszugehörigkeit und Weltanschauung zur Verfügung und tragen in der Schule zu einem Klima des Respekts vor Glaubensüberzeugungen bei. Eine religionspädagogisch entwickelte Diskursfähigkeit zeigt sich daran, dass Religionslehrerinnen und -lehrer für ihr Fach und seinen Bildungsauftrag vor Schülern, Eltern, Kollegen, Schulleitung und außerschulischen Kooperationspartnern eintreten, ihre Grundüberzeugungen über den Stellenwert von religiöser Bildung und Erziehung argumentativ vertreten, zugleich aber offen sind für die Zusammenarbeit in einer eigenständigen Fächergruppe.

Die Leitkompetenz „theologisch-religionspädagogische Kompetenz“ lässt sich vor dem Hintergrund der fachspezifischen Anforderungen des Berufsfeldes in fünf grundlegenden Kompetenzen entfalten, denen zwölf Teilkompetenzen (TK) zugeordnet sind.

I. Religionspädagogische Reflexionskompetenz

  • TK 1: Fähigkeit zur Reflexion der eigenen Religiosität und der Berufsrolle
  • TK 2: Fähigkeit, zum eigenen Handeln in eine reflexive Distanz zu treten

II. Religionspädagogische Gestaltungskompetenz

  • TK 3: Fähigkeit zur theologisch und religionsdidaktisch sachgemäßen Erschließung zentraler Themen des Religionsunterrichts und zur Gestaltung von Lehr- und Lernprozessen
  • TK 4: Erzieherische Gestaltungskompetenz
  • TK 5: Fähigkeit zur religionsdidaktischen Auseinandersetzung mit anderen konfessionellen, religiösen und weltanschaulichen Lebens- und Denkformen
  • TK 6: Fähigkeit zur Interpretation und didaktischen Entschlüsselung religiöser Aspekte der Gegenwartskultur
  • TK 7: Wissenschaftsmethodische und medienanalytische Kompetenz
  • TK 8: Religionspädagogische Methoden- und Medienkompetenz

III. Religionspädagogische Förderkompetenz

  • TK 9: Religionspädagogische Wahrnehmungs- und Diagnosekompetenz
  • TK 10: Religionspädagogische Beratungs- und Beurteilungskompetenz

IV. Religionspädagogische Entwicklungskompetenz

V. Religionspädagogische Dialog- und Diskurskompetenz

  • TK 11: Interkonfessionelle und interreligiöse Dialog- und Kooperationskompetenz
  • TK 12: Religionspädagogische Diskurskompetenz

Die berufsbezogene theologische Kompetenz durchzieht alle Kompetenzen als Grundlage, Bezugspunkt und Korrektiv. Sie umfasst alle theologischen Disziplinen einschließlich der Religionspädagogik. Da beim Lehramtsstudium die religionspädagogische Teildisziplin ‚Religionsdidaktik’ eine herausgehobene Bedeutung hat, werden im Folgenden neben der theologischen Kompetenz ‚religionsdidaktische Kompetenzen’ besonders ausgewiesen, die der Sache nach in jene integriert sind.

Diese grundlegenden fünf Kompetenzen gelten für Lehrerinnen und Lehrer aller Schulstufen und -formen. Auf der Ebene der Teilkompetenzen und Standards (siehe Übersicht S. 26) ist aber eine schulstufen- und schulformspezifische Konzentration und Profilierung notwendig. So werden aufgrund der Dauer des Studiums etwa bei Studierenden für das Lehramt an Grundschulen bestimmte Standards, die für dieses Lehramt von besonderem Gewicht sind, hervorzuheben sein und andere in den Hintergrund rücken oder unberücksichtigt bleiben müssen. Auch die besonderen Bedingungen des Religionsunterrichts an berufsbildenden Schulen erfordern eine lehramtsspezifische Schwerpunktbildung. Dasselbe gilt für Studiengänge, die lehramtsunspezifisch eine basale religionspädagogische Handlungsfähigkeit für andere Lernorte vermitteln sollen. Eine solche Auswahl und Profilbildung geschieht daher sinnvoller Weise vor Ort bei der Konstruktion von Studienordnungen und Ausbildungsplänen, da nur dort auch entsprechende Ausbildungsangebote zugeordnet und vorgehalten werden können.

Kompetenzen von Religionslehrern und -lehrerinnen für Evangelische Religionslehre im beruflichen Handlungsfeld. Leitkompetenz: Theologisch-religionspädagogische Kompetenz

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