Wie steht es um die Gleichstellung in der EKD?

Kristin Bergmann, Leiterin der Stabsstelle Chancengerechtigkeit, zum Gleichstellungsatlas 2025

Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) hat ihren neuen Gleichstellungsatlas vorgestellt – die zweite Ausgabe seit zehn Jahren. Was hat sich geändert, was ist gleichgeblieben? Fragen an Kristin Bergmann, Leiterin der Stabsstelle Chancengerechtigkeit der EKD.


 

Kristin Bergmann
Dr. Kristin Bergmann leitet seit 2005 das Referat für Chancengerechtigkeit der EKD

Frau Bergmann, warum ist Chancengerechtigkeit wichtig – gerade auch in der Kirche?

Kristin Bergmann: Chancengerechtigkeit bedeutet, dass Menschen trotz unterschiedlicher Startvoraussetzungen ihre Potenziale entfalten und in gleicher Weise teilhaben können. Das ist auch ein kirchliches Anliegen, denn als evangelische Kirche sind wir fest davon überzeugt, dass allen Menschen unabhängig von ihrem Geschlecht, ihrer sexuellen Orientierung, ihrem Alter, ihrer Hautfarbe oder ethnischen Herkunft oder von einer Behinderung die gleiche Würde und die gleichen Rechte zukommen sollen.

Wie hängen Chancengerechtigkeit und Gleichstellung zusammen?

Bergmann: Menschen haben nicht die gleichen Voraussetzungen, sondern sie starten unterschiedlich. Deshalb betont die Chancengerechtigkeit, dass es auf die Verteilung der Ressourcen und die Schaffung von Möglichkeiten ankommt, die Menschen brauchen, um ihr Potenzial überhaupt entfalten zu können. Frauen zum Beispiel tragen in unserer Gesellschaft einen größeren Anteil der Care-Verantwortung, also der Sorgeaufgaben für die Familie, besonders für Kinder und Pflegebedürftige. Ohne verlässliche Kinderbetreuung und Unterstützung bei Pflegeaufgaben können sie noch so gut ausgebildet sein und noch so gut arbeiten, sie haben trotzdem schlechtere Voraussetzungen, wenn es darum geht, arbeitszeitintensive Leitungspositionen wahrzunehmen. Deshalb kommt es darauf an, auf die Ressourcen zu schauen, die Menschen brauchen, damit sie überhaupt gleichgestellt sein können.

Also ist Chancengerechtigkeit eine Voraussetzung für Gleichstellung?

Bergmann: Ja, genau.

Wozu dient der Gleichstellungsatlas der evangelischen Kirche?

Bergmann: Es geht darum, in den unterschiedlichen Bereichen kirchlichen Lebens auf die Zahlen und Fakten zu schauen, wie der aktuelle Stand der Gleichstellung von Frauen und Männern ist. Der Atlas wird vom Studienzentrum der EKD für Genderfragen in Kirche und Theologie in Kooperation mit der Konferenz der Frauenreferate und Gleichstellungsstellen in den Landeskirchen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) herausgegeben.
2015 haben wir diesen Gleichstellungsatlas zum ersten Mal erstellt. Und nun sind zehn Jahre vergangen und wir können sehen, was sich in diesem Zeitraum entwickelt hat. Der zweite Gleichstellungsatlas greift außerdem einige neue Themen auf, die bislang nicht behandelt waren. So haben wir erstmals auf die Kirchenmusik gucken können und auf die Verteilung der Vorsitze in den kirchlichen Kreissynoden.

Was hat Sie persönlich am meisten überrascht?

Bergmann: Am meisten überrascht hat mich, dass die Geschlechterverteilung im alltäglichen kirchlichen Leben tatsächlich ziemlich gleichbleibend ist. Schon seit Jahrzehnten sind kontinuierlich 55 Prozent der Kirchenmitglieder Frauen. In der Bevölkerung beträgt der Frauenanteil nur 51 Prozent, Frauen sind also im kirchlichen Leben besonders stark präsent. Obwohl die Zahl der Kirchenmitglieder im Zeitablauf insgesamt deutlich abgenommen hat, verändert sich dieses Geschlechterverhältnis nicht.

Das Gleiche gilt auch für das Ehrenamt: Fast 70 Prozent, also mehr als zwei Drittel der Personen, die sich freiwillig in der Kirche engagieren, sind Frauen. Dass Frauen so konstant das kirchliche Leben tragen, hat mich doch überrascht.

„Nicht mal ein Viertel der A-Stellen in der Kirchenmusik sind von Frauen besetzt!“

Bei den Zahlen für die Kirchenmusik hat mich die starke Unterrepräsentanz von Frauen auf den gut dotierten und attraktiven A-Stellen in der Kirchenmusik sehr überrascht! Nicht einmal ein Viertel dieser herausgehobenen Kirchenmusikstellen sind von Frauen besetzt, das ist schon erstaunlich.

Bei den Studierenden im Fach Kirchenmusik liegt der Frauenanteil immerhin bei knapp 40 Prozent. Haben Sie eine Erklärung dafür, dass über 75 Prozent der A-Kirchenmusikerstellen von Männern besetzt sind?

Bergmann: Ich denke, das hängt zum einen mit den unterschiedlichen Ausgangspositionen zusammen. Dienst zu ungünstigen Zeiten, an Abenden, Wochenenden ist mit Sorgeaufgaben schwerer zu vereinbaren und wenn zum Beispiels die Anzahl der absolvierten Orgelkonzerte ein Auswahlkriterium ist, kommen Bewerberinnen mit Familienaufgaben schnell ins Hintertreffen. Zum anderen mögen auch unbewusste Vorurteile, die wir alle haben – auch diejenigen, welche die Personalauswahl vornehmen – eine Rolle spielen. Diese unterbewussten Vorannahmen führen zu Beurteilungen und Entscheidungen, die bestimmte Personengruppen bevorteilen. Bei herausgehobenen Leitungspositionen profitieren in der Regel Männer.

Hat sich auch etwas verbessert im Vergleich zu 2015?

Bergmann: Der Frauenanteil auf der höheren Leitungsebene hat sich deutlich erhöht. Es gibt in vielen Landeskirchen nicht nur die mittlere Leitungsebene, also die Leitung der Kirchenkreise, die Superintendent*innen und Dekan*innen, sondern noch eine Ebene darüber. Die Personen, die sie bekleiden, heißen dann in der Regel Regionalbischöfin oder Regionalbischof. In den Landeskirchen, die diese Ebene haben, ist es tatsächlich so, dass der Frauenanteil nirgends unter 50 Prozent liegt. Insgesamt liegt er hier bei 58 Prozent. Das ist wirklich eine erfreuliche Veränderung.

Wo sehen Sie aktuell die größten Herausforderungen bei der Gleichstellung in der evangelischen Kirche?

Bergmann: Auf der mittleren Leitungsebene hat sich nicht so viel verändert, wie wir gehofft hatten. Diese Ebene ist immer noch stark männerorientiert. Als wir vor zehn Jahren die Zahlen für diese Ebene erhoben haben, kamen wir auf 21 Prozent. Unter den Theologen und Theologinnen betrug der Frauenanteil 44 Prozent und dann auf der mittleren Leitungsebene nicht einmal die Hälfte – das war schon erstaunlich. Damals war das Anlass für Beschlüsse der EKD-Synode und verschiedene Überlegungen, wie denn der Anteil von Frauen zu erhöhen ist.

„Die mittlere Leitungsebene ist immer noch stark männerorientiert.“

Es gab dann eine Studie des Studienzentrums für Genderfragen zusammen mit dem Fraunhofer Institut, „Kirche in Vielfalt führen“ hieß die, und in dieser Studie wurden eine Reihe von Empfehlungen ausgesprochen. Fünf Landeskirchen waren an dieser Studie beteiligt, das Gleichstellungsdefizit auf dieser Ebene wurde breit diskutiert. Es war klar, dass sich auf der mittleren Leitungsebene etwas tun muss. Trotzdem hat sich der Frauenanteil in 10 Jahren nur um 10 Prozentpunkte, also von 21 Prozent auf 31 Prozent, erhöht. Da hätte ich wirklich mit deutlich mehr Fortschritt gerechnet.

Woran könnte das liegen?

Bergmann: Eine zentrale Empfehlung aus dieser Studie war, dass diese Leitungsämter auch für Stellenteilung im Team geöffnet werden sollten. Die Umsetzung dieser Empfehlung haben wir jetzt auch erhoben und festgestellt, dass sich wenig bewegt hat. Nur in sechs Landeskirchen gibt es überhaupt Personen, die sich diese Ämter teilen und insgesamt trifft dies nur auf sehr wenige Stellen zu. Es zeigt sich, dass an den Strukturen dieser Ämter angesetzt werden muss, da ist nach wie vor viel Luft nach oben.

Und wie sieht es gesamtgesellschaftlich aus – in welchen Bereichen besteht aus Ihrer Sicht besonders großer Nachholbedarf?

Bergmann: Das sind die bekannten Themen, etwa die Verteilung von Care-Arbeit zwischen den Geschlechtern. Nach wie vor sind es die Frauen, die sich hauptsächlich um die Sorgearbeit kümmern. Männer ziehen zwar allmählich etwas nach, aber da verändert sich nur sehr langsam etwas. Darauf weist ja auch regelmäßig der Equal-Care-Day hin. Familienorientierte Arbeitsbedingungen wären auszubauen, nicht zuletzt um Frauen stärker als dringend benötigte Fachkräfte zu gewinnen und Männern mehr Teilhabe an den Care-Aufgaben zu ermöglichen. Das Evangelische Gütesiegel Familienorientierung ist da zum Beispiel ein Instrument, das von kirchlichen Anstellungsträgern deutlich stärker genutzt werden sollte.

Sowohl gesellschaftlich als auch in der Kirche stehen da noch immer eher traditionelle Rollenerwartungen und Geschlechterstereotype im Wege. Außerdem fehlt es an politischen Rahmenbedingungen, die Chancengerechtigkeit fördern. So setzen z.B. steuerfreie Mini-Jobs in Verbindung mit dem Ehegattensplittung und beitragsfreier Mitversicherung in der Krankenkasse falsche Anreize. Sie führen dazu, dass sich eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung mit höherer Arbeitsstundenzahl für viele Frauen mit Sorgeaufgaben finanziell nicht lohnt.

Wie kann der Gleichstellungsatlas genutzt werden, um langfristige Verbesserungen zu bewirken?

Bergmann: Wir hoffen, dass dieses Gleichstellungsmonitoring jetzt von den Landeskirchen genutzt wird, um Ziele festzulegen und Maßnahmen zu entwickeln, die zu mehr Gleichstellung und Chancengerechtigkeit führen. Vor Ort ist zu überlegen, was konkret getan werden kann, um Veränderungen einzuleiten.

Könnte zum Beispiel eine Konsequenz sein, die A-Stellen in der Kirchenmusik als Teilzeitstellen einzurichten?

Bergmann: Teilzeitstellen haben natürlich auch ihre Nachteile in Blick auf die Alterssicherung und die Verdienstmöglichkeiten. Sinnvoll erscheint dagegen, eine Leitung im Team zu ermöglichen. Grundsätzlich müsste man – zum Beispiel mit einer kleinen Studie – erst mal fragen, woran es liegt, dass Frauen auf diesen A-Stellen so selten vorkommen. Welche Rolle spielen die Auswahlverfahren? Welche Kriterien werden in den Bewerbungsverfahren angewendet? Welche anderen Faktoren verhindern, dass diese Positionen für Frauen und Männer gleichermaßen zugänglich sind?

Gibt es Pläne für regelmäßige Updates oder weitere Studien?

Bergmann: Das hoffen wir auf jeden Fall! Der Plan ist, dass der Status Quo alle zehn Jahre erhoben wird, damit man sieht, wo sich etwas wie entwickelt hat. Der nächste Gleichstellungsatlas würde also 2035 erscheinen. Außerdem gibt es Überlegungen das Thema geschlechtliche Vielfalt stärker zu berücksichtigen. in diesen Atlas mitaufnehmen. Für den Atlas selbst eignet sich das Thema nicht so gut, weil es sich kaum in Form von Tabellen und Landkarten abbilden lässt. Das muss auf eine andere Art erhoben und dargestellt werden. Dazu soll es auf jeden Fall auch eine Veröffentlichung geben.

In den USA wird die Gleichstellungspolitik derzeit teils massiv zurückgedrängt. Beobachten – oder befürchten – Sie ähnliche Entwicklungen auch in Deutschland?

Bergmann: In den USA sind ja seit der Amtsübernahme durch Donald Trump alle Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsprogramme systematisch gestoppt worden. Wir hören ständig neue Nachrichten, die eigentlich unfassbar klingen. Auch Firmen sind aufgerufen, ihre Antidiskriminierungsprogramme zu stoppen. In Deutschland haben wir keine Entwicklung, die dem vergleichbar wäre. Aber es gibt auch hier Kräfte, die massiv gegen einen Wandel der Geschlechterrollen ankämpfen, auch gegen alternative Familienformen, gegen Rechte für homo- und transsexuelle Menschen – eigentlich gegen alles, was Vielfalt lebbar und auch sichtbar macht.

Man kann das festmachen an der AfD, die ja erhebliche Wahlerfolge erzielt hat. Sie macht mit geschickten Strategien die Anliegen von Geschlechtergerechtigkeit und Vielfalt lächerlich. Denken Sie an den Begriff „Gender“, das ist eigentlich ein Fachbegriff aus der Wissenschaft. Seit längerem wird er – mit Wortschöpfungen wie „Gender-Gaga“ oder „Gender-Ideologie“ – aggressiv umgemünzt zu einem Kampfbegriff, um gegen gleiche Rechte von Frauen, von gleichgeschlechtlich Liebenden oder Trans*Personen zu agitieren. Damit werden die Anliegen, Chancengerechtigkeit und mehr lebbares Leben zu ermöglichen abgewertet und lächerlich gemacht, so dass sie dann kaum mehr ernsthaft diskutiert werden können.

„Es gibt Kräfte, die gegen alles kämpfen, was Vielfalt lebbar macht.“

Populistische Attacken auf gendergerechte Sprache und frauenfeindliche Kommentare im Netz nehmen zu. Sehen Sie darin Vorboten eines größeren gesellschaftlichen Rollbacks?

Bergmann: Wir sehen, dass einige Unternehmen auch in Deutschland schon proaktiv ihre Diversitätsprogramme auf Eis legen. Auch die Polemik, die häufig anzutreffen ist, wenn es zum Beispiel um geschlechtergerechte Sprache geht, ist ein Zeichen dafür, dass ein gewisser Kulturkampf auch bei uns geführt wird. Wir haben mittlerweile starke politische Kräfte am rechten Rand, die das befeuern, die zurück wollen zur Ehe ausschließlich zwischen Mann und Frau und bestimmt durch traditionelle Rollenbilder, die alternative Lebens- und Familienformen oder auch die Entscheidung für Kinderlosigkeit diskreditieren und abwerten.

Manche sprechen sogar von einer autoritären Zeitenwende. Teilen Sie diese Einschätzung?

Bergmann: Zumindest sind die autoritären Stimmen stark geworden. Ob es nun zu einer Zeitenwende kommt, liegt ja auch an uns und daran, wie stark wir uns einsetzen: für progressive Werte und dafür, dass viele verschiedene Lebensformen lebbar sind und wertgeschätzt werden.

Vor welchen Herausforderungen steht die Geschlechterpolitik angesichts dieser Entwicklung, auch innerhalb der Kirche?

Bergmann: Wir müssen weiter an diesen Geschlechterthemen, die oft auch innerkirchliche Reizthemen sind, arbeiten und theologisch klare Positionen finden, zum Beispiel zu sexualethischen Fragen und zu Transidentität. Das Evangelium bezeugt, dass für Gott alle Menschen gleich wertvoll sind. Für die Kirche ist eine zentrale Herausforderung, dem aggressiven Populismus, der insbesondere auch Geschlechterthemen aufgreift, durch klare Positionen und Versachlichung entgegenzuwirken.

Vielen Dank für dieses Gespräch!

Interview: Andrea Teupke