Der Bevollmächtigte des Rates - Büro Brüssel Europa - Informationen Nr. 154

Leitartikel: "Zu unserem Glück vereint" - Autosuggestion oder Aufbruch in eine gemeinsame Zukunft?

OKR'in Katrin Hatzinger

Die andauernde Staatsschulden- und Finanzkrise, die Uneinigkeit in der Flüchtlingsfrage, die latente Bedrohung durch islamistischen Terrorismus und der anstehende Austritt Großbritanniens aus der EU haben das Vertrauen vieler Menschen in die politische Gestaltungsmacht Europas geschwächt. Nationale Stereotypen erleben Wiederauferstehung und Rechtspopulisten werden, angespornt durch den Wahlsieg von Donald Trump und den Erfolg der Brexiteers in Großbritannien, nicht müde, mit viel Pathos die Zerstörung des "anti-demokratischen Monsters EU" (Marine Le Pen) zu beschwören.  Auch die AfD hat auf Ihrem Parteitag im April 2017 in Köln erneut die Verteidigung der nationalen Souveränität beschworen und im Wahlprogramm wird der Austritt aus der EU propagiert, sollten sich die "Souveränitätsverzichte" Deutschlands nicht anderweitig rückgängig machen lassen. Doch die Strategie der Rechtspopulisten, in diesen schwierigen Zeiten, einfache Antworten zu geben und sich durch aggressive Rhetorik gegen die EU, Migranten, Flüchtlinge oder den Islam zu profilieren, wird auf Dauer nicht aufgehen. In der Rückkehr zum Nationalismus liegt definitiv nicht die Zukunft Europas.


Ja, es stimmt, die EU ist ein kompliziertes und zum Teil auch widersprüchliches Gebilde und aktuell machen sich politische Versäumnisse der Vergangenheit drängender bemerkbar denn je. Als Reaktion auf europakritische oder -skeptische Stimmen ertönt dann oft pauschal der Ruf nach "mehr Europa". Doch wir brauchen vor allem mehr Klarheit darüber, wer auf welcher Ebene für welches Politikfeld zuständig sein soll. In welchen Bereichen ist die EU, in welchen sind die Mitgliedstaaten bzw. die regionalen oder kommunalen Gebietskörperschaften gefragt? Nötig wäre zudem ein neuer Pragmatismus. Aktuell ist politisch nicht die Zeit für große Zukunftsvisionen oder einen weiteren Verfassungskonvent. Vielmehr geht es darum, die verbleibenden 27 Mitgliedstaaten im Rahmen der bestehenden Verträge zusammenzuhalten und in kleinen Schritten voranzukommen. Allerdings wünschen sich die meisten Bürger gerade in den Politikfeldern mehr europäisches Agieren, in denen schnelle Ergebnisse nicht zu erwarten sind: in der Asyl- und Migrationspolitik, bei der inneren Sicherheit und in der Außen- und Verteidigungspolitik (so die Ergebnisse einer Umfrage der Körber-Stiftung vom November 2016: "Zweifel oder Zuversicht?"). Deshalb ist auch eine neue Ehrlichkeit gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern angebracht. Die EU wurde in der Vergangenheit oft mit zu hohen Erwartungen überfrachtet, sie hat aber auch teilweise zu hohe Erwartungen geweckt. Ein wenig Selbstkritik stünde daher den EU-Institutionen gut zu Gesicht und v.a. eine klare und verständliche Kommunikation über das, was die EU leisten kann und was nicht und warum gewisse Prozesse Zeit brauchen.


Im Vorfeld des 60. Jahrestages der Unterzeichnung der Römischen Verträge am 25. März 2017 hat die Europäische Kommission am 01. März 2017 ein Weißbuch über die Zukunft Europas veröffentlicht. Dieses Strategiepapier soll die Überlegungen zur Zukunft der Europäischen Union strukturieren und als Wegweiser für die anstehende Reformdebatte dienen. Das Weißbuch greift fünf verschiedene Zukunftsszenarien für die Union bis 2025 auf. Ausgangspunkt für jedes Szenario ist, dass die 27 Mitgliedstaaten gemeinsam als Union voranschreiten. Dabei schließen die Szenarien sich weder gegenseitig aus, noch sind sie erschöpfend.


Das Weißbuch hat durchaus gespaltene Reaktionen hervorgerufen. Die einen sahen darin einen "klugen politischen Schachzug" (ZEIT online), die anderen einen Ausdruck von "Europas Unentschlossenheit" (Spiegel online) und Abgeordnete des Europäischen Parlaments warfen der Kommission enttäuscht vor, nicht klar genug Stellung zu beziehen (etwa Gianni Pitella, Vorsitzender der Fraktion der progressiven Allianz der Sozialdemokraten). Tatsächlich ist das Weißbuch der richtige Ansatz, um die Mitgliedsstaaten und die Unionsbürger in die Verantwortung zu nehmen. Die EU ist die Summe ihrer Mitglieder. Deshalb ist es an ihnen, Farbe zu bekennen und darzulegen, wo die EU 2025 stehen soll.
Nachdem sich bei der Abstimmung und den Diskussionen über Entschließungen zur Zukunft der EU im Europäischen Parlament bereits gezeigt hatte, dass die Vorschläge von einer Reform des Lissabon Vertrages mit einem eigenen EU-Finanzminister bis hin zur Harmonisierung der europäischen Haushaltspolitik reichen, war deutlich, wie unterschiedlich die Vorstellungen darüber sind, wohin sich Europa entwickeln soll. Deshalb ist es sinnvoll, dass die Debatte von der Frage nach "mehr oder weniger Europa" hin zu einer tiefergehenden Diskussion geöffnet wird. Es geht darum, welches Europa wir für die Zukunft wollen.


Im ersten von der Kommission skizzierten Szenario liefe alles weiter wie bisher. Die 27 Mitgliedstaaten der EU würden sich darauf konzentrieren eine Reformagenda umzusetzen, die Prioritäten und Gesetze regelmäßig an die aktuellen Gegebenheiten anzupassen und Probleme anzugehen, sobald diese aufträten. Schwerpunkte der EU lägen auf Beschäftigung, Wachstum und Investitionen und der Verbesserung der gemeinsamen Währung. Die Herausforderung bei diesem Szenario läge nach den Ausführungen im Weißbuch darin, dass nur der gemeinsame politische Wille zu "liefern", die Lücke zwischen Versprechungen, die auf dem Papier gemacht werden, und den Erwartungen der Bürger schließen soll. Die Einheit der 27 Staaten wäre bei ernsthaften Differenzen gefährdet.
Im zweiten Szenario würde eine weitere Integration nur im Bereich des EU-Binnenmarktes vorangetrieben, da die Mitgliedstaaten in anderen Politikbereichen wie Migration, Sicherheit oder Verteidigung außerstande wären eine gemeinsame Haltung zu finden. Neue Maßnahmen würden lediglich auf bilateraler Ebene beschlossen. Gleichzeitig würde die regulatorische Belastung durch die Rücknahme von Gesetzen reduziert. In diesem Szenario würde ein funktionierender Binnenmarkt zur "Hauptdaseinsberechtigung der EU".  Wegen unterschiedlicher Sozialsysteme und fehlender Kooperation würden die Dienstleistungs- und Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht mehr voll gewährleistet. Grenzkontrollen innerhalb der EU wären wieder an der Tagesordnung. Die Entwicklungshilfe würde nationalisiert. Die Fähigkeit der EU als Summe ihrer Mitgliedstaaten zu handeln, wäre beschränkt.


Das dritte Szenario skizziert eine EU, in der einige Mitgliedsstaaten in bestimmten Politikfeldern wie z.B. Verteidigung, innere Sicherheit oder Sozialem als sogenannte Koalitionen der Willigen vorangingen. Andere Mitgliedstaaten könnten sich später diesen Koalitionen anschließen. Wie im Falle des Schengen-Raums oder des Euros könnte dieses Szenario auf dem bestehenden EU-Rahmen aufbauen, setzte aber die Präzisierung von Rechten und Pflichten voraus. Auf Ebene aller 27 Mitgliedstaaten würden der Binnenmarkt und die vier Grundfreiheiten gestärkt. Als Herausforderung dürften sich in diesem Szenario vor allem Fragen der Transparenz und Rechenschaftspflicht aufgrund der auf unterschiedlichen Ebenen getroffenen Entscheidungen darstellen.
Im vierten Szenario "Weniger, aber effizienter" würde die EU als Ganzes sich auf bestimmte Gebiete wie z.B. Handel, Innovationen, Sicherheit und Migration konzentrieren, um dort schneller Fortschritte zu erreichen. Hier würden auf europäischer Ebene auch neue Werkzeuge zur Verfügung stehen, die der direkten Umsetzung und gemeinsamen Durchsetzung dienlich wären. Hingegen würde die EU auf anderen Gebieten, in denen der Zusatznutzen ihrer Aktivitäten als eher begrenzt wahrgenommen wird oder davon ausgegangen wird, dass Erwartungen bzw. Versprechen nicht gehalten werden können, nicht mehr oder nur noch in geringerem Umfang tätig. Dazu würden z.B. die Regionalentwicklung, die öffentliche Gesundheit oder Teile der Beschäftigungs- und Sozialpolitik zählen, die für das Funktionieren des Binnenmarkts nicht unmittelbar relevant sind. Vorteil dieses Szenarios wäre die klare Kompetenzaufteilung zwischen europäischer und nationaler Ebene.


Im fünften Szenario entschieden sich die Mitgliedsstaaten, mehr gemeinsam zu machen. Sie würden in allen Bereichen mehr Machtbefugnisse und Ressourcen teilen und Entscheidungen gemeinsam treffen. Damit würden Entscheidungen und deren Umsetzung auf europäischer Ebene schneller erfolgen. Außenpolitisch würde die EU mit einer Stimme sprechen, eine Europäische Verteidigungsunion wäre bis 2025 entstanden und die EU würde weiterhin im Kampf gegen den Klimawandel und als größter Geber humanitärer Hilfe vorangehen. Ein starker Fokus würde auf der Vollendung des Binnenmarktes in den Bereichen Energie, Digitalisierung und Dienstleistungen liegen. Innerhalb des Euros gäbe es eine stärkere Koordinierung hinsichtlich sozialer, steuerrechtlicher und finanzpolitischer Themen. Für Unionsbürger würden damit mehr Rechte direkt aus dem EU-Recht ableitbar werden. Die Gefahr der Entfremdung der Bürgerinnen und Bürger aufgrund der vermeintlich fehlenden demokratischen Legitimation und zu großer Machtverlagerung zur EU würde allerdings weiterbestehen.


Die Feierlichkeiten zum 60. Jahrestag der Römischen Verträge am 25. März 2017 haben den Beginn des Diskussionsprozesses unter den 27 EU-Mitgliedsstaaten um Europas Zukunft eingeläutet. Gerade als evangelische Christinnen und Christen haben wir allen Grund, uns der Unterzeichnung der Römischen Verträge zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Europäischen Atomgemeinschaft dankbar zu erinnern. Nur 12 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde hiermit die Grundlage für ein friedliches Zusammenwachsen Europas gelegt. Der Zusammenschluss von souveränen Staaten in der Europäischen Union garantiert bis heute Frieden und Wohlstand und hat Europa zu einem Symbol freiheitlichen Lebens in der Welt gemacht.
Allerdings reicht es angesichts der aktuellen politischen Krisen in Europa und weltweit nicht aus, sich allein der Errungenschaften der Vergangenheit zu besinnen und ansonsten weiterzumachen wie bisher.  Es ist offensichtlich, dass die Europäische Union dringend reformbedürftig ist und aus Fehlern lernen muss. Es bedarf einer Kombination aus Pragmatismus und Realitätssinn, um die Herausforderungen der Zukunft zu bestehen. Lediglich das Europa-Pathos zu beschwören reicht nicht aus. Eine stärkere demokratische Teilhabe, mehr Transparenz und klare Rechenschaftspflichten ebenso, wie ein stärkeres soziales Profil der EU sind nötig. Es bedarf zudem einer effektiveren und besseren Zusammenarbeit etwa im Bereich der Asyl-, Migrations-, Sicherheits- und Außenpolitik. Auch die Wirtschafts- und Währungsunion müsste durch eine Fiskalunion ergänzt werden. Grundlagen dieser Reformen müssten eine gemeinsame Überzeugung und der Wille für ein geeintes Europa sein. Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union sollten trotz Meinungsverschiedenheiten und unterschiedlicher nationaler Interessen zusammenstehen und das große Ganze nicht aus den Augen verlieren.


In ihrer gemeinsamen ökumenischen Erklärung zum 60. Jahrestag der Unterzeichnung der Römischen Verträge haben die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) und die Deutsche Bischofskonferenz (DBK) unterstrichen, dass die Kirchen zur Überwindung innereuropäischer Gräben beitragen wollen. "Wir haben weiter Hoffnung für Europa! Die heutige Erinnerung an die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und die damit verbundene Erfolgsgeschichte für Frieden und Einheit sollten uns als Christen zum tatkräftigen Bekenntnis für Europa ermutigen. Die Präsenz der Gemeinden vor Ort sowie die vielfältigen ökumenischen Kontakte in Europa wollen wir noch stärker dazu nutzen, den Austausch unter den Menschen zu unterstützen und Zeichen der europäischen Verbundenheit zu setzen.", heißt es dort. Zugleich begrüßen beide Kirchen die Idee eines ökumenischen europäischen Kirchentages.


Die führenden Vertreter von 27 Mitgliedsstaaten (außer Großbritannien) und der EU-Organe skizierten in der Erklärung von Rom ihre Haltung zur Zukunft der EU am 25. März 2017 die Erklärung von Rom. In der unverbindlichen Absichtserklärung werden folgende gemeinsamen Ziele genannt: ein sicheres und geschütztes Europa; ein wohlhabendes und nachhaltiges Europa; ein soziales Europa und ein stärkeres Europa in der Welt. Zugleich betonten die Unterzeichner, dass die EU eine einzigartige Union mit gemeinsamen Institutionen und starken Werten sei, eine Gemeinschaft des Friedens, der Freiheit, der Demokratie, der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit, eine bedeutende Wirtschaftsmacht mit einem beispiellosen Niveau von Sozialschutz und Wohlfahrt. "Die europäische Einheit hat als Traum einiger weniger begonnen und ist zur Hoffnung vieler geworden. Dann wurde Europa wieder eins. Heute sind wir vereint und stärker: Hunderten von Millionen Menschen in ganz Europa kommt es zugute, dass sie in einer erweiterten Union leben, welche die alten Trennlinien überwunden hat.", heißt es.


Wie es um die EU im Jahr 2017 bestellt ist, lässt sich aus einem Vergleich eines Passus der Berliner Erklärung vom 25. März 2007 anlässlich des fünfzigsten Jahrestages des Abschlusses der Römischen Verträge und der aktuellen Erklärung ableiten. Lautete der Abschnitt 2007 noch: "Wir Bürgerinnen und Bürger sind zu unserem Glück vereint.", findet sich nun  die Formulierung: "Wir sind zu unserem Glück vereint.", die sich schon fast wie eine Selbstbeschwörung in Zeiten von Zwietracht und Zwist zwischen den EU Mitgliedern liest. Denn "Wir" meint hier die 27 EU-Mitgliedsstaaten und die EU-Institutionen. Auffällig ist auch, dass trotz aller Rede von Einheit und Solidarität auch die Option eines Europas der unterschiedlichen Geschwindigkeiten recht deutlich beim Namen genannt wird: "Wir werden gemeinsam - wenn nötig mit unterschiedlicher Gangart und Intensität - handeln, während wir uns in dieselbe Richtung bewegen, so wie wir es schon in der Vergangenheit getan haben (.)."
Den großen Durchbruch hat die Erklärung von Rom also nicht gebracht und das hat auch niemand ernsthaft erwartet. Doch mit dem Weißbuch und der Erklärung sind nun immerhin Diskussionen in Gang gekommen und Referenztexte vorgelegt worden. Der weitere Zeitplan sieht vor, dass die Europäische Kommission gemeinsam mit dem Europäischen Parlament und den Mitgliedsstaaten Debatten zur Zukunft Europas in nationalen Parlamenten, Städten und Regionen initiieren wird. Dazu sollen in den nächsten Monaten weitere Reflexionspapiere mit Ideen, Vorschlägen und Szenarien für einzelne konkrete Politikfelder vorgelegt werden, Mitte April 2017 zur sozialen Dimension Europas, dann zur Zukunft der europäischen Verteidigung, zur Vertiefung der Wirtschafts- und Währungsunion und der Zukunft der EU-Finanzen. Im September 2017 möchte Kommissionspräsident Juncker dann seine Ideen weiterentwickeln, bevor beim Treffen des Europäischen Rates im Dezember 2017 erste Schlussfolgerungen von den Staats- und Regierungschefs gezogen werden.

 

Die Erklärung von Rom ist nachzulesen unter:

http://ekd.be/2oPbGXB

 

Die gemeinsame Erklärung der Kirchen finden Sie unter:

http://ekd.be/2plBXOf

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