Sterbebegleitung statt aktiver Sterbehilfe

2.8 In Würde sterben – in Hoffnung leben

Argumentationshilfe zur Woche für das Leben 1996 „Leben bis zuletzt – Sterben als Teil des Lebens“, hg. vom Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland und dem Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, 1996, S. 4; 6-10 [vergriffen].

Oft wird behauptet: Sterben ist furchtbar und schrecklich. Man sollte es mit allen Mitteln verhindern. Wenn es aber nicht verhindert werden kann, dann soll es möglichst schnell und plötzlich vorbei sein.

Unsere Antwort:

Sterben kann furchtbar und schrecklich sein: Wenn jemand „mitten aus dem Leben“ gerissen wird, wenn das Sterben qualvoll ist, wenn die Sterbenden einsam und ohne Trost und Hoffnung bleiben. Deshalb ist es gut, daß wir über geeignete medizinische und pflegerische Mittel verfügen, um Leben zu erhalten und Leiden zu lindern. Es ist gut, daß wir ein Rettungswesen haben und daß unser Gesundheitswesen gut ausgestattet bleibt. Und es ist wichtig, daß wir den Sterbenden Beistand leisten.

Immer wieder stehen Schwerstkranke vor der Frage, ob die Medizin, insbesondere die Intensivmedizin, die richtige Antwort auf ihre Situation gibt. Wie erfolgversprechend muß, wie belastend darf eine medizinische Maßnahme sein, durch die eine Verbesserung der Lebensqualität erreicht werden soll? Und umgekehrt: Wie wichtig ist es, in Ruhe und Frieden sterben zu können?

Je mehr Möglichkeiten intensive Medizin bietet, Leben zu verlängern und zu erhalten, um so wichtiger ist es, sich rechtzeitig zu überlegen, ob man sie in Anspruch nehmen oder unter welchen Bedingungen man auf sie verzichten will. Solche Fragen kann man zwar nicht für alle möglichen Fälle vorab beantworten, aber es kann hilfreich sein, mit Angehörigen oder Freunden darüber zu sprechen.

„Leben bis zuletzt“ – das können die Anwendung, aber auch der Verzicht auf die Anwendung intensiver Medizin sein. Intensive Medizin ist der Kampf um den Erhalt und die Verlängerung des Lebens mit höchstem Aufwand. Wer auf solche Maßnahmen verzichtet, akzeptiert die Unvermeidlichkeit des Sterbens. Ihm bleiben aber Begleitung, Pflege und lindernde Medizin. Eine letzte Entscheidung muß aus der konkreten Lage des Sterbenden heraus und von seinen Bedürfnissen her getroffen werden. Orientieren müssen sich alle Entscheidungen allein an der Würde des zu Ende gehenden Lebens. Andere Gründe, wie etwa die Kostendämpfung im Gesundheitswesen, dürfen keine Rolle spielen.

Oft wird behauptet: Sterben im Krankenhaus ist unmenschlich. Durch die Apparatemedizin werden Leiden und Sterben doch nur sinnlos verlängert.

Unsere Antwort:

Ein menschenwürdiges Sterben ist an jedem Ort möglich; nicht nur zu Hause oder in einem Hospiz. Menschenwürdige Sterbebegleitung ist auch in jedem Krankenhaus und Pflegeheim möglich. Es kommt auf die Menschen an, die da sind und für den Sterbenden sorgen.

Wir dürfen Sterbebegleitung nicht einfach bestimmten Berufsgruppen und Institutionen überlassen. Angehörige und Freunde des sterbenden Menschen, die sein Wesen und seine Bedürfnisse am besten kennen, können eine Atmosphäre des Vertrauens schaffen und so zu einem menschenwürdigen Sterben beitragen. Bei wichtigen ärztlichen Entscheidungen können sie die Wünsche und Vorstellungen des Sterbenden einbringen, wenn dieser sich nicht mehr selbst äußern kann.

Es gehört nicht zu den Aufgaben der Medizin, bei einer unheilbaren Krankheit mit allen technischen Mitteln das Leben zu verlängern. Es geht nicht um einen Kampf gegen den Tod um jeden Preis. Die an der Achtung des Lebens und der Würde des Sterbenden ausgerichtete Entscheidung und sein (mutmaßlicher) Wille bestimmen die Grenze der ärztlichen Maßnahmen und der Behandlungspflicht.
 
Oft wird behauptet: Menschen erleiden häufig unnötig Schmerzen. Eine wirksame Schmerztherapie wird oft nur unzureichend durchgeführt.

Unsere Antwort:

Trotz des hohen Standards der deutschen Medizin trifft dies leider in vielen Fällen zu. Obwohl es wirksame Möglichkeiten der Schmerzlinderung gibt, wenden viele Ärzte die Grundregeln der Schmerzbehandlung nicht an. Noch immer bestehen Vorurteile gegen den rechtzeitigen Einsatz starker Schmerzmittel, obwohl deren Verschreibung in Deutschland seit einiger Zeit rechtlich wesentlich erleichtert worden ist. Für eine gute Ausbildung der Ärzte und des Pflegepersonals im Bereich der Schmerztherapie ist noch viel zu tun.

Mit den zur Verfügung stehenden Mitteln der modernen Medizin ist eine weitgehende Schmerzlinderung fast immer möglich. Bei weit fortgeschrittener Erkrankung kann mit der Linderung des Leidens das Risiko einer Verkürzung des Lebens verbunden sein. In solchen Fällen ist der Einsatz von schmerzlindernden, aber damit vielleicht lebensverkürzenden Medikamenten ethisch zu verantworten.

Oft wird behauptet: Jeder Mensch muß für sich selbst frei entscheiden können, wann er sterben will. Er hat ein Recht, sein Leben selbst zu beenden.

Unsere Antwort:

Wer das Leben nur dann als wertvoll erlebt, solange er unabhängig und frei entscheiden kann, steht in der Gefahr, jedes durch Behinderung, Krankheit und Siechtum begrenzte Leben abzulehnen.

Zum Menschen gehört aber von Beginn an das Angewiesensein auf andere Menschen. Dies wird gerade auch in Grenzsituationen immer wieder erfahrbar. Aus dieser Erfahrung heraus ist es eine wichtige Aufgabe, Grenzen im eigenen Leben anzunehmen.

Nicht Stärke, Gesundheit und Aktivität machen den Wert des Menschen aus. Als Christen glauben wir daran, daß jeder Mensch bedingungslos von Gott gewollt, bejaht und angenommen ist. In der Selbsttötung verneint ein Mensch sich selbst. Welche Gründe auch immer dazu führen, keinem Menschen steht darüber ein Urteil zu. Die Gründe für eine solche Handlung bleiben ebenso wie die Auswirkungen einer Krankheit im letzten unbekannt. Für einen Christen ist die Selbsttötung eines Menschen eine enorme Herausforderung: Er kann eine solche Tat im letzten nicht verstehen und muß sie doch zugleich respektieren. Es gilt, frühzeitig entsprechende Signale wahrzunehmen und rechtzeitig Hilfen anzubieten.

Oft wird behauptet: Wenn das Leiden eines Sterbenden unerträglich ist, sollte aktive Sterbehilfe (Tötung auf Verlangen) erlaubt werden.

Unsere Antwort:

Der Ruf nach dem erlösenden Tod ist nicht selten ein Schrei nach Nähe und Begleitung sowie die Bitte, nicht allein gelassen zu werden. Sterben kann verbunden sein mit Schmerzen, Alleinsein, Angst, Zorn, Hilflosigkeit, Resignation, Verleugnung und Verzweiflung. Und schließlich gehört zum Sterben auch der Abschied, der für die Sterbenden ebenso wichtig ist wie für die Zurückbleibenden.

Grundlage des Vertrauensverhältnisses von Arzt und Patient ist seit jeher der ärztliche Auftrag, menschlichem Leben nicht zu schaden, sondern es zu erhalten und zu fördern. Dieses Vertrauensverhältnis wird erheblich gefährdet, wenn der Arzt dem Patienten nicht mehr allein als Heilender und Helfender, sondern ebenso als Tötender begegnet.

Wenn es gesellschaftlich anerkannt und rechtlich erlaubt wäre, den Tod aktiv herbeiführen zu dürfen – sei es, daß der Kranke darum bittet oder daß man im angeblich „wohlverstandenen“ Interesse des Kranken tätig wird –, dann würde die schwierige Situation des Schwerstkranken noch zusätzlich mit dem Problem belastet, ob er seiner Umgebung die Last seiner Pflege weiter zumuten darf. Dies kann den Kranken auf eine geradezu unerträgliche Weise unter Druck setzen und dazu führen, daß er gegen seinen Willen „Ja“ sagt zur Beendigung seines Lebens.
 
Oft wird behauptet: Sterben und Tod kommen noch früh genug. Warum soll man sich darauf schon zu Lebzeiten vorbereiten?

Unsere Antwort:

Jeder Mensch weiß, daß er sterblich ist. Dieses Wissen zwingt ihn, sich mit dem Sinn des Lebens auseinanderzusetzen. Er kann in unterschiedlicher Weise – z.B. durch viele Aktivitäten, durch übersteigertes Konsumverhalten oder durch übertriebenen Jugendkult – versuchen, vor dem Sterben „wegzulaufen“; letztlich aber steht am Ende jedes Lebens der Tod. Dem kann er nicht entfliehen.

Viele philosophische Richtungen und auch die Religionen haben aus diesem Wissen und dieser Erfahrung heraus Hinweise, ja Lebenshaltungen zu einer „richtigen“ Einstellung zum Sterben entwickelt. Im christlichen Europa gab es seit dem Mittelalter neben einer eigenen „Kunst des Lebens“ auch eine „Kunst des Sterbens“. In Regeln, Riten und Ratschlägen wurden die Menschen angehalten, sich das ganze Leben hindurch immer wieder mit ihrem Tod zu beschäftigen, um ihnen die Angst vor Sterben und Tod zu nehmen.

Die Überzeugung, daß zu einem sinnvollen und geglückten Leben die Annahme der eigenen Sterblichkeit gehört, ist heute vielen Menschen nicht mehr bewußt. Sie erfahren Sterben und Tod erst, wenn Angehörige davon betroffen sind. Seit einigen Jahren läßt sich aber ein neues und großes Interesse an diesen Fragen feststellen. Immer mehr Menschen spüren, daß sie nur dann wirklich als Menschen leben, wenn sie sich mit der Frage des Sterbens befassen. Der christliche Glaube, der Sterben und Tod Jesu Christi in den Mittelpunkt seiner Botschaft rückt und damit zugleich verkündet, daß der Tod nicht das Ende des Menschen ist, kann die Angst vor dem Sterben mindern und so die Chance zu einer intensiveren Gestaltung des eigenen Lebens eröffnen.
 
Oft wird behauptet: Menschen sterben oft unter großem Leiden: Warum läßt Gott das zu?

Unsere Antwort:

Wie kein anderer Text der Bibel kreist das Buch Hiob um die Frage nach dem Leid des Menschen in der Welt: Von Gott verlassen, mit Aussatz geschlagen, seiner Familie und seines Besitzes beraubt und von seinen Freunden angeklagt und verleumdet, sitzt Hiob in der Asche und fragt: Warum – und warum gerade ich? In seinem Gespräch mit Gott erhält Hiob keinen Aufschluß über die Ursache seines Elends, und die Frage nach dem Sinn des Leids wird nicht beantwortet. Dennoch kann uns das Buch Hiob lehren, daß die Vorstellung, alles Leid sei eine Strafe Gottes für schuldhaftes Verhalten, nicht ausreicht, um das Leiden in der Welt zu erklären und zu verstehen. Und es kann uns daran erinnern, daß es kein einfaches Rezept zur Erkenntnis Gottes und der Welt gibt: Das Schicksal der Menschen und der Lauf der Welt lassen sich nicht mit direkten göttlichen Eingriffen von oben erklären. Die Spannung zwischen der Güte Gottes und dem von ihm zugelassenen Leiden der irdischen Existenz bleibt bestehen, und sie will im Leben und Leiden ausgehalten werden.

Auch das Neue Testament bietet uns nur Hilfen für unsere Fragen an und gibt keine eindeutigen und endgültigen Antworten. Jesus ermutigt uns, an Gott zu glauben und trotz der scheinbaren Verborgenheit Gottes im Leben Sinn zu suchen und zu erleben. Jesu Beziehung zu Gott macht uns bereit, angesichts des Leides und des Todes die Welt menschlicher zu gestalten. Gott bestätigt uns in Jesu Leben, Sterben und Auferstehen, daß er uns Menschen liebt und daß diese Liebe stärker ist als der Tod. Wir dürfen hoffen und glauben: Gott ist und bleibt bei uns Menschen im Leiden und im Sterben. Auch wenn wir uns selber nicht aus Leiden und Sterben befreien können, so liegt es allein in seiner Hand, uns zu erlösen.

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