Sterbebegleitung statt aktiver Sterbehilfe

2.1 Das Lebensrecht des Menschen und die Euthanasie, 1.6.1975 (= Die deutschen Bischöfe 4) [vergriffen].

Die Diskussion um die Änderung des § 218 StGB hat die Frage nach den sittlichen Maßstäben für Wert und Würde des Menschen in unserer Gesellschaft in aller Schärfe aufbrechen lassen. Nach wie vor treten wir jenen Meinungen entgegen, die einen wesentlichen Unterschied zwischen ungeborenem und geborenem Leben machen und das ungeborene Kind als Wesen minderen Rechts betrachten. Für den Christen wie für jeden human Gesinnten muß menschliches Leben, in welchem Stadium auch immer es sich befindet, unverfügbar und unantastbar sein.

Mit großer Sorge müssen wir feststellen, daß dieser Grundsatz auch auf einem anderen Gebiet immer mehr in Frage gestellt wird. Seit geraumer Zeit wird in den Massenmedien das Problem der Euthanasie behandelt. Manche Stimmen fordern bereits, daß die Tötung von Menschen auf Verlangen von Strafe freigestellt wird. Die Befürworter suchen sich freilich abzugrenzen gegenüber der Praxis des Nationalsozialismus, der mit einem verbrecherischen Euthanasieprogramm die, wie man sagte, „Vernichtung unwerten Lebens“ angeordnet hat und Zehntausende geisteskranker Menschen hinmorden ließ. Noch immer ist in unserem Volk die Erinnerung an diese Verbrechen und an das furchtbare Unheil lebendig, das auf diese Weise von Staats wegen verordnet worden war.

Die Fragestellung

Demgegenüber, so wird nunmehr geltend gemacht, beinhalte die rich-tig verstandene Euthanasie etwas ganz anderes. Bei ihr handele es sich nicht um die Beseitigung von unwertem Leben, auch nicht eigentlich um einen Eingriff in das Recht auf Leben, sondern es gehe um eine Sterbehilfe. Euthanasie sei das Mittel, mit dem der Arzt einem Sterbenden die Todesqualen erleichtern, den Todeskampf abkürzen, den Tod sanft machen könne. Hat nicht, so fragt man, jeder Mensch Anspruch auf einen gnädigen Tod? Kann er nicht die Einlösung dieses Anspruchs vom Arzt und von der Gesellschaft verlangen? Hat nicht der unheilbar Kranke ein Recht darauf, daß sein Leiden nicht verlängert, sondern abgekürzt werde?

Jeder, der schon am Bett eines unheilbar Kranken gestanden hat, weiß um Not und Elend menschlicher Hilflosigkeit, und nicht umsonst sprechen wir von einer „Erlösung“, die der Tod für einen solchen Menschen bedeute. Fordert diese Situation nicht Maßstäbe, die über den Grundsatz der Unverfügbarkeit des Lebens hinausgehen?

Wir halten es für unsere Pflicht, dazu Stellung zu nehmen, zumal auch in der Öffentlichkeit heftig darüber diskutiert wird.

Jeder Mensch hat Anspruch auf ein menschenwürdiges Sterben

In einer so grundsätzlichen Frage gilt es zunächst festzuhalten, daß jeder Mensch Anspruch hat auf ein menschenwürdiges Sterben. Das Sterben ist die letzte große Lebensaufgabe, die der Mensch zu bewältigen hat. Diese Aufgabe kann ihm niemand abnehmen, wohl aber kann und muß ihm dabei geholfen werden.

Das besagt in erster Linie, daß die Leiden des Kranken, gegebenenfalls auch unter Anwendung von schmerzstillenden Mitteln, so gelindert werden, daß er seine letzte Lebensphase menschlich zu bewältigen vermag. Es bedeutet weiterhin, daß dem Kranken die bestmögliche Pflege zuteil werden soll. Dabei geht es nicht nur um die medizinische Versorgung, sondern vor allem auch um die menschlichen Aspekte dieser Pflege, um die Schaffung einer vertrauensvollen At-mosphäre und um eine herzliche Solidarität mit dem Kranken und Sterbenden, der darin die Anerkennung und Hochschätzung seines Menschseins erfährt.

Zur Sterbehilfe gehört auch, daß der Kranke in seiner seelischen Not nicht allein gelassen wird. Gerade im Sterben werden die Fragen nach dem Woher und Wohin des Lebens bewußt. Es sind im letzten religiöse Fragen. Sie dürfen weder ausgeklammert noch verdrängt werden. Dabei ist der Glaube eine wirksame Hilfe, die Angst vor dem Tod durchzustehen, ja zu überwinden. Er schenkt dem Sterbenden eine feste Hoffnung. Der Glaube gibt auch dem Leiden, das uns unverständlich erscheint, seinen Sinn: Denn es ist Teilnahme am Leiden Jesu Christi selbst (vgl. Kol. 2, 24). Als Christen wissen wir, wie der Apostel Paulus von sich sagt: „Christus will ich erkennen und die Macht seiner Auferstehung und die Gemeinschaft mit seinem Leiden; sein Tod soll mich prägen“ (Phil 3,10).

Anspruch auf ein menschenwürdiges Sterben kann ferner bedeuten, daß nicht alle medizinischen Mittel ausgeschöpft werden, wenn dadurch der Tod künstlich hinausgezögert würde. Dies trifft beispielsweise zu, wenn durch ärztliche Maßnahmen, durch eine Operation etwa, das Leben zwar geringfügig verlängert wird, jedoch mit der Not und Last, daß der Kranke in dieser gewonnenen Lebenszeit trotz oder infolge der Operation unter schwersten körperlichen oder geistigen Störungen leidet. In dieser Situation ist die Entscheidung des Kranken, sich einer Operation nicht mehr zu unterziehen, sittlich zu achten.

Es gibt heute auch medizinisch-technische Möglichkeiten, die uns vor neue Fragen stellen. Sind wir von unserer sittlichen Verantwortung her gehalten, einen Patienten, um ein Beispiel zu nennen, beliebig lange an eine Herz-Lungen-Maschine anzuschließen, um ihn dadurch künstlich am Leben zu erhalten? Solange die Aussicht besteht, daß auf diese Weise der Schwerkranke wiedergesunden kann, werden wir alle derartigen Mittel einsetzen müssen, und es ist Aufgabe des Sozialstaates, dafür zu sorgen, daß auch kostspielige Apparaturen und aufwendige Medikamente für alle, die ihrer bedürfen, zur Verfügung stehen. Anders liegt der Fall, wenn jede Hoffnung auf Besserung ausgeschlossen ist und die Anwendung besonderer medizinischer Techniken ein vielleicht qualvolles Sterben nur künstlich verlängern würde. Wenn der Patient, Angehörige und Ärzte unter Abwägung aller Umstände von außergewöhnlichen Maßnahmen und Mitteln absehen, kann man ihnen nicht die Anmaßung eines unerlaubten Verfügungsrechtes über menschliches Leben vorwerfen. Für den Arzt setzt dies freilich voraus, daß er vorher die Zustimmung des Patienten oder, wenn dies nicht mehr möglich ist, der Angehörigen eingeholt hat. In dieser Entscheidung wird die Sterblichkeit des Menschen und die seinem Leben von Gott gesetzte Frist geachtet.
 
Euthanasie ist nicht Sterbehilfe, sondern absichtliche Tötung

Wir müssen also alles tun, um jedem Menschen ein menschenwürdiges Sterben zu ermöglichen und zu erleichtern. Aber ebenso müssen wir die Euthanasie als absichtlich herbeigeführte vorzeitige Beendigung des menschlichen Lebens ablehnen. Denn hier handelt es sich nicht mehr um Hilfe beim Sterben, um Erleichterung des Sterbens, sondern um die Tötung eines Menschen.

Es mehren sich heute die Stimmen, die eine direkte Verfügung über das eigene Leben und die Tötung auf Verlangen unter Umständen als sittlich vertretbar ansehen. Man fragt, ob der Patient, der unheilbar krank ist und unter qualvollen Schmerzen leidet, nicht die Abkürzung seiner Sterbensphase verlangen dürfe. Dagegen muß gesagt werden: Der Mensch hat kein derartiges Verfügungsrecht über sein eigenes Leben. Sicherlich hat er Anspruch auf die Linderung seiner Schmerzen; aber er ist nicht Herr über Leben und Tod. Selbst derjenige, der sich in seinem Gewissen nicht an Gott gebunden hält, wird zugeben, daß die Verfügung über das eigene Leben in Widerspruch zu einer Wertordnung steht, die auf der unbedingten Achtung vor dem Leben gründet.

Ebenso schwerwiegend ist, daß es sich bei der Euthanasie nicht nur um eine angemaßte Verfügung des Kranken über das eigene Leben handelt, sondern daß die Tötung anderen Menschen zugemutet wird. Der Grundpfeiler der Rechtsordnung, daß nämlich kein Mensch über das Leben eines anderen Menschen verfügen könne, würde im Falle der Euthanasie aus den Angeln gehoben. Daran ändert auch nichts die Forderung, ein solcher Eingriff dürfe nur mit Wissen und Willen des Schwerkranken erfolgen.

Man darf auch nicht einwenden, es sei nur ein gradueller Unterschied zwischen dem Verzicht auf die Anwendung außergewöhnlicher medizinischer Mittel und der Verabreichung einer den Tod herbeiführenden Spritze, zwischen einer großen und einer noch etwas größeren Dosis schmerzstillender Mittel. Zwischen Sterbenlassen und Töten bleibt ein wesentlicher Unterschied, ganz gleich, welche Dosis schmerzstillender Mittel angewandt wird.

Das Gebot „Du sollst nicht töten“ gilt für alle Phasen des menschlichen Lebens. Der Begriff Euthanasie kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß jede vorzeitige Beendigung des Lebens Tötung ist und damit gegen die Gesetze Gottes und der Humanität verstößt. Sie verstößt auch gegen die Grundsätze unserer rechtsstaatlichen Ordnung.

Das Bundesverwaltungsgericht hat in einem Urteil vom 16.1.1964 im Zusammenhang mit der Tötung Geisteskranker folgende Aussage gemacht: „Jeder Mensch, also auch der kranke oder in seiner geistigen Verfassung beeinträchtigte oder körperlich mißgestaltete Mensch, hat Anspruch darauf, in seiner Menschenwürde geachtet und in seinem Recht auf Leben durch die Rechtsordnung geschützt zu werden. Eine durch die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit bestimmte Rechtsordnung gewährleistet dieses Recht. Die Vernichtung menschlichen Lebens, bei Kranken also auch die vorzeitige Herbeiführung des Todes, verstößt daher gegen die Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit, und zwar auch dann, wenn die Tat aus Mitleid begangen wird; denn kein Mitglied der Rechtsgemeinschaft hat das Recht, aus persönlichen Beweggründen die für alle Angehörigen verbindlichen Grundsätze der Rechtsstaatlichkeit zu mißachten oder sich über sie nach Maßstäben hinwegzusetzen, die diesen Grundsätzen materiell widersprechen, mögen die persönlichen Motive auch – echtem oder mißverstandenem – humanem Empfinden entsprechen. Nach rechtsstaatlichen Grundsätzen kann daher die Tötung eines Menschen durch formales Gesetz weder gestattet noch geduldet werden.“

Unsere Rechtsordnung würde in ihrem innersten Kern zerstört, wenn diese Grundsätze nicht mehr anerkannt würden.

Warnung vor unabsehbaren Folgen

Diejenigen, die sich für die Straffreiheit der Tötung auf Verlangen einsetzen, pochen auf die im Grundgesetz garantierte Gewissensfreiheit und werfen der Kirche vor, sie zeige einer weltanschaulichen Minderheit gegenüber nicht genügend Toleranz. Gewissensfreiheit bedeutet jedoch nicht, daß das Gewissen nicht an eine Wertordnung gebunden ist. Der einzelne hat, wie auch das Grundgesetz in Art. 2 feststellt, das Recht auf freie Entfaltung seiner Persönlichkeit nur so-weit, als er damit nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt. Die Erfahrung zeigt, daß eine einzige weiche Stelle in der Grundhaltung der Achtung vor dem Menschenleben genügt, um einer Lawine von Unmenschlichkeit den Weg zu öffnen. Wir müssen das Problem der Euthanasie sehr ernst nehmen und dürfen nicht zulassen, daß die öffentliche Meinung sie verharmlost, auch nicht daß Einzelne oder gewisse Gruppen dort wieder mit dem Schlagwort der Humanisierung arbeiten, wo es sich in Wahrheit um die Zersetzung der Menschlichkeit handelt. Jede Aufweichung des sittlichen und rechtlichen Bewußtseins in dieser Frage würde weitreichende Folgen nach sich ziehen.

Diese Folgen würden zunächst die Kranken treffen. Die Begründung, die Tötung auf Verlangen rechtfertigen soll, nämlich der Schmerz und die unheilbare Krankheit, würde schon sehr bald auf den gefühlsmäßigen Zustand der Hoffnungslosigkeit ausgeweitet. Ein Schwerkranker fühlt sich nicht selten von dem Verlangen bedrängt, seinem als hoffnungslos empfundenen Zustand möge ein Ende bereitet werden. Von hier aus ist es dann nurmehr ein kleiner Schritt, bis man auch den psychisch Kranken ein solches „Recht“ einräumen wird, von dem er in einer Kurzschlußhandlung dann Gebrauch macht. Wir wissen, daß dieselben Menschen, die in einer scheinbar ausweglosen Situation ihr Leben für gering achten, oft nach Überwindung dieser Situation wieder am Leben hängen. Für diejenigen freilich, denen die Gesellschaft den „Wunsch“ nach Tötung in einem solchen Fall erfüllt hätte, gäbe es kein morgen mehr, keine neue Chance für Leben und Glück. Wo liegt also die Grenze für eine verantwortbare und für eine unverantwortbare Euthanasie? Es gibt keine solche Grenze!

Die Euthanasie würde auch das Gewissen des Arztes und des Pflegepersonals in unerträglicher Weise belasten und das Verhältnis von Arzt und Patient radikal verändern. Die Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit ist das oberste Gebot des ärztlichen Handelns. Dieser Dienst am Leben schließt es aus, daß der Arzt zu einem Befehlsempfänger für das Töten auf Verlangen erniedrigt wird oder sich selbst dazu bereitfindet. Ein derartiges Tun müßte sich auf das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient unheilvoll auswirken, denn der Arzt würde nicht mehr ausschließlich dem Leben dienen, sondern zugleich ein Gehilfe des Todes sein. Daran könnte auch die Vorsichtsmaßnahme wenig ändern, die das Einschreiten des Arztes an eine schriftliche Ermächtigung des Patienten binden will.

Überdies wäre einer verhängnisvollen Manipulation Tür und Tor geöffnet. Denn auch wenn der Wunsch zu sterben schriftlich oder vor Zeugen vom Patienten bekundet werden müßte, welchem seelischen Druck wäre ein hilflos Kranker ausgesetzt, der spürt, daß seine Um-gebung ihn abgeschrieben hat und auf seine Bitte um Tötung wartet. Ja, es würde genügen, einen empfindsamen Kranken fühlen zu lassen, daß er seiner Umgebung zur Last fällt, um ihn zu einer solchen Tötungsbitte zu bewegen.

Eine vom Staat anerkannte und praktizierte Euthanasie würde ferner, so steht zu befürchten, die individuelle und soziale Tötungsbereitschaft begünstigen. Es besteht nämlich nachweislich ein enger Zusammenhang zwischen den in einer Gesellschaft geltenden Wertmaßstäben und der Einstellung bzw. den Verhaltensweisen der Menschen. Die Tötung auf Verlangen darf nicht isoliert betrachtet werden; ihre Zulassung würde die Achtung vor dem Leben ganz allgemein in unverantwortlicher Weise aushöhlen.

Die Euthanasie, mag sie auch zunächst von einer irregeleiteten Barmherzigkeit motiviert sein, ist Ausdruck einer rein diesseitigen Einschätzung des Lebens und eine Absage an die jenseitige Begründung und Verankerung in Gott. Wenn aber der Wert des Lebens, auch des armseligsten Lebens, nicht mehr als in Gott begründet angesehen wird, wonach wird der Mensch dann beurteilt? Nach einer subjektiven Lebensbejahung? In der heutigen Diskussion um die Euthanasie tritt dieser Gesichtspunkt in den Vordergrund. Die Befürworter warnen vor jedem Mißbrauch zu gesellschaftlichen Veränderungen. Aber der Nützlichkeitsstandpunkt ist schon am Werk: Sowohl beim einzelnen, der darüber befindet, ob es sich noch zu leben lohnt, als auch bei der Gesellschaft. Denn die Beweggründe für die Euthanasie sind nicht nur die Rücksichtnahme auf den unheilbar Kranken und seinen Willen, sondern auch die Überlegung, daß dieses Leben sinnlos und wertlos geworden sei. Damit aber wirft sich die Gesellschaft zum Richter darüber auf, was lebenswertes und was lebensunwertes Leben ist, eine Unterscheidung, die früher oder später das Leben selbst zerstört.

Wenn das Leben nur nach seinem privaten und sozialen Nutzen eingeschätzt wird, dann ist es allenfalls eine Frage der Zeit und des sogenannten „Volksempfindens“, welche Gruppen von Menschen von diesem Vernichtungsurteil betroffen werden: Die Geisteskranken, die von Natur oder durch einen Unfall Verkrüppelten oder auch die alt gewordenen Menschen, die in einer nur nach Leistung rechnenden Gesellschaft nichts mehr wert zu sein scheinen.

Krankheit und Sterben werden zusehends aus dem Bewußtsein des modernen Menschen verdrängt. Aber sie gehören zum menschlichen Leben und müssen bewältigt werden. Nicht Hilfe zum Sterben, sondern Hilfe im Sterben sind wir dem Kranken schuldig. Euthanasie ist unmenschlich. Was wir brauchen, sind Ehrfurcht und Achtung vor dem Leben und Hilfsbereitschaft für alle Lebenden.
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