Ermutigung und Gleichberechtigung

Was Christen in Syrien jetzt dringend brauchen

Vor einem Jahr endete die Assad-Diktatur in Syrien. Jetzt sind diejenigen an der Macht, vor denen bisher Christinnen und Christen immer gewarnt haben. Wie geht es ihnen damit? Sehen sie unter der neuen Regierung eine Zukunft für sich in Syrien?

Heiligabend 2024 in Damaskus im christliches Viertel 'Bab Tuma' (Thomas-Tor) in der Altstadt: eine Moschee neben einer katholischen Kirche

Seit dem 22. Juni 2025 ist in der griechisch-orthodoxen Gemeinde im Damaszener Stadtteil Dweilaa nichts mehr, wie es vorher war. An jenem Sonntagabend war ein schwer bewaffneter Attentäter in die vollbesetzte Mar-Elias-Kirche gestürmt und hatte mitten in der Eucharistiefeier wild um sich geschossen. Am Ende beförderte er sich selbst mit einem Sprengstoffgürtel ins Jenseits. So einen schweren Anschlag auf Christen hatte es in all den Jahrzehnten zuvor in Syrien nicht gegeben.

Für die Christinnen und Christen im Land kam er aber nicht ganz unerwartet. Anfang des Jahres hatte es schwere Massaker an den Alawiten in der Küstenregion um Latakia gegeben. Im April war es zu massiven Übergriffen auf Drusen in Damaskus gekommen. Als weitere Minderheit, auf die sich das Assad-Regime über Jahrzehnte gestützt hatte, hatten Christinnen und Christen seit längerem gefürchtet, dass auch sie irgendwann Ziel extremistischer Exzesse werden würden.

Nur 51 Sekunden dauerte der Anschlag an jenem 22. Juni in der gut besuchten Mar Elias-Kirche. Danach waren 22 Gemeindeglieder tot. Einen Tag später bekannte sich die dschihadistische Terrorgruppe Saraya Ansar al-Sunna zu der Tat. Ihr Name bedeutet übersetzt „Brigade der sunnitischen Partisanen“. Die Gruppe tritt erst seit Anfang 2025 in Erscheinung, hat aber das erklärte Ziel, mit aller Gewalt gegen religiöse Minderheiten in Syrien wie die Alawiten, Schiiten, Drusen und eben auch Christen vorzugehen. Auf ihr Konto gehen bereits zahlreiche andere Attentate auf Alawiten und Drusen sowie auf ehemalige Beamte des gestürzten Präsidenten Bashar al-Assad. In ihren Reihen sollen auch Kämpfer der Hay’at Tahrir al-Sham (HTS) sein, der Miliz, aus welcher der neue Machthaber in Damaskus, Ahmed al-Scharaa, und viele seiner Getreuen stammen.

Zwar gibt sich der neue Präsident geläutert und betont seit dem Machtwechsel vor einem Jahr, dass Syrien divers sei und es auch bleiben solle. Alle Ethnien und Religionsgemeinschaften hätten ihren Platz im neuen Syrien. Der Westen hört solche Bekenntnisse gerne. Und al-Scharaa ist auf westliche Unterstützung beim Wiederaufbau des völlig zerstörten Landes nach den vielen Jahres des Krieges angewiesen.

Ob der neue Machthaber es wohl ernst meint?

Doch wie ehrlich meint es al-Scharaa tatsächlich mit der Diversität? Diese Frage treibt nicht nur die Christen und Angehörige anderer Minderheiten um. Auch viele sunnitische Muslime, die man nach dem Machtwechsel eigentlich auf der Gewinnerseite verorten würde, wollen nicht in einem Syrien leben, in dem die bisherigen Nachbarn, Kollegen oder Kommilitonen auf einmal Menschen zweiter Klasse sein sollen, deren Schicksal und Verbleib keine öffentliche Relevanz haben.

Auch wenn es al-Scharaa ernst meinen sollte und hinter der Idee von einem diversen und inklusiven Syrien steht – welche Macht hat er über all die kleinen und großen Warlords, die ihren Machtanspruch auf einer extremistischen Auslegung des Koran begründen? Viele von ihnen sind im Umfeld von al-Scharaa groß geworden, als er sich noch Abu Muhammad al-Dschaulani nannte und Kommandeur der HTS war. In deren Hochburg Idlib galten die Prinzipien eines islamischen Kalifat-Staats. Andere Meinungen oder Glaubensüberzeugungen wurden schnell mit Vertreibung oder Tod bestraft.

In Idlib wurde die Ideologie der Muslimbruderschaft, dass der sunnitische Islam die einzige Lösung aller Probleme und damit die beste aller Religionen sei, in alle gesellschaftlichen Bereiche durchbuchstabiert. Und genau davor hatte das Assad-Regime über Jahrzehnte gewarnt. Die Familie Assad stammt selbst aus der Minderheit der Alawiten.

Christen und anderen Minderheiten ging es unter Assad verhältnismäßig gut. Sie bekamen leichter Jobs im öffentlichen Dienst, Kirchen wurden steuerlich privilegiert. Der Klerus dankte es mit Loyalität und Bittgebeten für den Schutz der Herrschenden. Dass zehntausende, meist sunnitische Oppositionelle in den Folterkellern verschwanden, wurde verdrängt oder zumindest nicht offen kritisiert. Auch wenn einem Großteil des Kirchenvolks das Schweigen und die Huldigungen ihre Oberhäupter zu weit gingen, so trugen sie es irgendwie mit. Wenn schon Diktatur, dann lieber eine nicht-religiöse als eine religiöse, so der allgemeine Tenor.

Ein trauriges Kapitel in der Ökumene

Dass die Kirchen in Syrien nicht zur Speerspitze einer demokratie-affinen Opposition gehörten, hat in Kirchenkreisen in Deutschland immer wieder für Unverständnis und Enttäuschung gesorgt. Warum machten die syrischen Geschwister sich nicht für die Geltung der universellen Menschenrechte gegenüber ihrem Machthaber stark? Warum forderten sie nicht vehementer die politische Öffnung und mehr Demokratie ein? Warum so viel Duckmäuserei und Mitläufertum? Wer solche Fragen vom sicheren Schreibtisch in Deutschland aus stellt, hat wenig von den Mechanismen einer Diktatur verstanden.

Es gehört zu den traurigen Kapiteln der Ökumene zwischen Kirchen in Syrien und Kirchen in Deutschland, dass ausgerechnet in den Zeiten, in denen Verzweiflung, Angst und Not in Syrien herrschten, Solidaritätsbesuche abgesagt oder besser gar nicht mehr geplant wurden. Weniger aus Sicherheitsaspekten, als vielmehr aus der Sorge heraus, man könne bei einem solchen Besuch zusammen mit syrischen Kirchenführern vor einem Porträt von Bashar al-Assad abgelichtet werden – dem international geächteten Menschenrechtsverletzer von Damaskus?! In der deutschen Öffentlichkeit hätte es vermutlich Erklärungsbedarf gegeben. Die wenigen Kontakte zu den Geschwistern in Syrien wurden deswegen seit 2011 eher ab- als ausgebaut.

Doch zurück zur Situation heute. Welche Rolle können Christen im neuen Syrien spielen? Die Aussichten sind düster. Vor 2011 machten Christen noch zehn Prozent der Bevölkerung aus. Heute sind es vielleicht noch zwei Prozent. Zu viele sind in den Kriegsjahren gegangen, aus Angst vor Bomben und Gewalt, aus Verzweiflung, weil die allgemeine Situation in Syrien immer desaströser wurde, weil einfach jede Perspektive für die eigene Zukunft und die der Kinder fehlte. Gründe, Syrien zu verlassen, gab es viele, nicht nur für die Christen. Wer dennoch blieb, hatte immerhin die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass es nach dem Krieg wieder besser werden würde.

Und wie sieht es heute mit der Hoffnung aus? Macht al-Scharaa den Christen mit seinem Diskurs von Vielfalt Hoffnung? Eher nicht. Denn was in Damaskus gesagt wird, muss noch lange nicht auf den Dörfern gelten oder in anderen Gegenden weit weg von der Hauptstadt. So berichtet der Leiter eines kirchlichen Jugendzentrums in der Nähe von Homs, dass er unlängst vom neuen Dorf-Chef aufgefordert worden sei, seine Arbeit einzustellen. Und zwar, weil in dem Zentrum Jungen und Mädchen zusammenkommen. Koedukation gilt bei Islamisten als Sünde. Die Geschlechter sollten nach ihrer Ansicht möglichst früh voneinander getrennt erzogen werden. Fahrer von Schulbussen erzählen Ähnliches, dass sie verwarnt wurden, weil sie nicht getrennt nach Geschlechtern die Kinder zur Schule bringen.

Und in besonders konservativen Gegenden wurden Frauen mit deutlichen Worten aufgefordert, das Kopftuch zu tragen. Das mögen Einzelfälle sein. Doch sie machen schnell die Runde über die Sozialen Medien. Und sie wirken wie viele kleine Nadelstiche gegen das Anderssein der Christen, gegen ihre Identität. Als vor einigen Monaten ein flächendeckendes Alkoholverbot mit der Begründung eingeführt wurde, der Islam erlaube das nun mal nicht, war der Aufschrei groß. Zur DNA des multireligiösen Nahen Ostens gehörte es über die Jahrhunderte hinweg, dass die Menschen nach den Regeln der Religion leben dürfen, in die sie hineingeboren wurden. Ob ein Christ Alkohol trank oder nicht, hatte den politischen Herrscher – meist ein Muslim – nicht zu kümmern.

Jetzt aber wollen manche Kräfte in Syrien ihre religiösen Regeln anderen überstülpen. Und weil sie niemand einbremsen kann oder will, verlieren immer mehr Christen die Hoffnung auf eine Zukunft in Würde in ihrer Heimat. Leise werden die Koffer gepackt, um die anderen, die noch bleiben, nicht noch weiter zu entmutigen.

Bis die letzte Kirchentür geschlossen wird

Im Gegensatz zu den Drusen im Süden, den Alawiten im Westen oder den Kurden im Norden haben Christen in Syrien kein Gebiet, in dem sie eine große Gruppe bilden würden. Sie sind über das ganze Land verstreut, in kleinen Gemeinden, die immer kleiner werden. Und irgendwann wird einer die letzte Kirchentür für immer zuschließen. Dann wird man feststellen müssen, dass nach etwa 2000 Jahre das Christentum in Syrien ausgestorben ist. Vielleicht wird es in den alten Klöstern noch ein paar Mönche geben, die weiterhin jeden Tag ihre Stundengebete halten und ihre Liturgien feiern. Im syrischen Alltag wird das Christentum aber nicht mehr präsent sein, weil es keine christlichen Lehrer, Ärzte, Pflegekräfte, Studierende und auch keine christlichen Nachbarn mehr gibt, denen man zu Weihnachten und Ostern ganz selbstverständlich ein frohes Fest gewünscht hat, an deren Gräbern man mitgetrauert hat wie an den eigenen Gräbern, und über deren Kinder man sich mitgefreut hat wie über die eigenen.

Damit die wenigen Christen, die noch in Syrien leben, bleiben können, brauchen sie Ermutigung. Die kann von außen kommen, in Form von finanzieller Unterstützung christlicher Sozial- und Bildungseinrichtungen. Schulen und Krankenhäuser sind nicht nur Orte, an denen Werte und Identität gelebt werden können. Sie sind auch sichere Arbeitgeber.

Die Ermutigung muss aber auch von innen kommen. Zumindest geht Al-Scharaa mit seinem Diversitätsdiskurs einen ersten Schritt. Seinen Worten muss er aber auch Taten folgen lassen, damit nicht nur die Christen verstehen, dass er es ernst meint. Auch diejenigen, die die Christen gerne vertreiben würden, um sich ihr Land und ihre Häuser anzueignen, müssen begreifen, dass im neuen Syrien jeder Bürger und jede Bürgerin einen Platz hat. Ansonsten werden sie die Konsequenzen zu spüren bekommen.

Und Verantwortliche aus Kirche und Politik im Westen sollten zügig nach Syrien reisen, und zusammen mit den Vertretern der syrischen Kirchen die neuen Machthaber in Damaskus besuchen und sie an ihre Versprechen und Zusagen erinnern. Und sie sollten bereit sein, eng mit al-Scharaa und seiner Regierung daran zu arbeiten, dass Syrien tatsächlich ein diverses und sicheres Land wird, in dem nicht nur Christen, sondern auch Drusen, Alawiten, Schiiten, Kurden, fromme und nicht fromme Muslime gleichberechtigt leben können.

Katja Dorothea Buck ist Religionswissenschaftlerin und Politologin und arbeitet international als Fachjournalistin zu religiösen Minderheiten und Religionsfreiheit im Nahen Osten.